Welche Musik war Voraussetzung, dass Beethoven so, wie er es tat, komponierte? Welche Auswirkungen haben seine Streichquartette auf die Nachwelt, respektive die großen Quartette von Schubert, Mendelssohn, Schumann? Welche Meisterleistungen entstanden im Umfeld von Beethoven, ohne dass diese heute durch ewige Berühmtheit geadelt werden? Solche Fragestellungen inspirierten das casalQuartett, Beethoven von seinem musealen Jubiläumssockel herunter zu holen und sein Werk in ein historisches Koordinatensystem einzuordnen.

Markus Fleck

Die CD-Box ‘Beethovens Welt – Der Revolutionär und seine Rivalen’ (Pizzicato-Rezension) wartet zudem mit drei Ersteinspielungen auf, nämlich dem 28. Quartett in As-Dur von Carl Czerny, dem op. 47 Nr. 3 D-Dur von Adalbert Gyrowetz und das op. 20 Nr. 3 C-Dur von Peter Hänsel, alles Zeitgenossen Beethovens in Wien. Einen hervorragenden Leitfaden fürs Hören mit  Erkenntnisgewinn liefert der siebzigseitige, vom Bratschisten Markus Fleck ausgearbeitete Booklet-Text. Genug Gesprächsstoff bot sich allemal in einem Interview mit Stefan Pieper.

Wie sind Sie bislang durch die Corona-Zeit gekommen?
Eigentlich ganz gut. Wir sind froh, dass wir als Musiker an die Schweizer Sozialwerke anschließen konnten, da die Schweizer Selbständige mit Einbußen aufgrund der behördlichen Verordnungen wie Angestellte in Kurzarbeit behandeln. Dies ist ein besseres Modell für die Soloselbständigen, also für viele Kulturschaffende, als andere Betroffene in Europa.

Was ist das Anliegen dieser neuen CD-Box und wie ist die Resonanz bislang?
Die Idee bestand vor allem darin, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Beethoven und seinen Zeitgenossen. Wir haben vieles davon schon in Konzerten gespielt, manches aber noch nicht. Carl Czernys Quartett Nr. 28 harrt sogar noch der Uraufführung. Die CD-Box beinhaltet ein sehr umfangreiches Booklet, in dem viele historische Hintergründe zu erfahren sind. Gerade das scheint auf viel Begeisterung zu stoßen – ich bin gerade dabei, etwa 200 Vorbestellungen abzuarbeiten.

Wenn man sich Zeit nimmt, alle Werke der 5 CDs im Gesamtzusammenhang zu hören, stellt sich eine verblüffende Wirkung ein. Viele Aspekte von Beethovens Personalstil, vor allem die vielen Brüche, Ecken, Kanten und formalen Provokationen treten gerade im Vergleich mit anderen Komponisten noch viel plastischer hervor. Wie ist es Ihnen hier ergangen?
Ich freue mich, wenn sich diese Wirkung einstellt. Genau dies war der Ausgangspunkt für dieses Projekt. Wir wollten eben nicht Beethoven einfach nur als ‘Jubiläumskünstler’ aufs Parkett bringen. Natürlich kann es auch spannend sein, sämtliche Beethoven-Quartette einzuspielen, aber für uns bliebe so ein Unterfangen doch in erster Linie ein eher ‘sportliches’. Zugegeben: Beethovens Quartette in der Gesamtschau sind wirklich der ‘Iron Man des Streichquartetts’.
Aber davon abgesehen finde ich die Fokussierung allein auf eine Person gefährlich – man gewöhnt sich dadurch zu sehr an das Besondere bei Beethoven. Denn das wirklich Besondere erlebt man erst im Kontext der Zeitgenossen und deren Eigenarten.

Wie kam die aktuelle Auswahl zustande?
Wir mussten uns für irgendetwas entscheiden und das war nicht leicht. Man hätte alles noch viel größer aufziehen können. Wir haben uns schließlich für folgende Struktur entschieden: Jeweils ein Beethoven-Werk aus jeder der drei Schaffensepochen des Quartetts plus ein sehr bekanntes Werk und zusätzlich etwas, das kaum bekannt ist. Manche Quartette begleiten uns schon sehr lange. Aber Hänsel, Donizetti, Gyrowetz und Czerny sind neu. Czerny ist sowieso eine ganz besondere Nummer: Er ist nie wirklich als seriöser Komponist im Bewusstsein angekommen.

Da wird ja so einiges hörbar gemacht, womit man nicht rechnet. Donizetti pflegt in seinem Quartett ja eine sehr ‘un-opernafte’, klassische Diktion. Hat Sie das auch überrascht?
Definitiv. Donizetti hat sich hier stark am deutschen Stil orientiert. Das hat er in der Oper kaum gemacht – dafür in 18 Streichquartetten umso mehr. Sein umfangreiches Quartettschaffen erstaunt, als in dieser Zeit ja eine gewisse Armut an Kammermusik vorherrschte.

Was stand noch bei der Zusammenstellung im Vordergrund?
Wir wollten vieles mal aus üblichen Dramaturgien befreien. Haydn ist ein typisches Beispiel. Der wird oft zur Eröffnung eines Programms serviert, bevor etwas « Gewichtigeres » kommt. Dadurch bleibt er scheinbar untergeordnet. Wir machen es in Konzerten oft anders, wenn wir vorher vielleicht Sammartini und Scarlatti spielen und später mit Haydn aufhören, der dann zum unbestrittenen Höhepunkt wird. Uns hat der zeitgenössische Blickwinkel interessiert. Wie haben es die Leute damals gehört? Wenn man Haydn mit der Vorgeschichte konfrontiert, wirkt das sehr erhellend, begeisternd.

Fehlt es Ihrer Meinung nach in konventionellen Programmen oft an solchen Perspektiven?
Vieles ist in der Kammermusik ist recht beliebig. Programme sind oft nicht thematisch ausgearbeitet, was ich enttäuschend finde. Richtig gut komponierte Konzepte gibt es sehr wenig.

Betrachten Sie ihr Anliegen aufklärerisch?
Wir wollen niemanden missionieren. Das Erleben im Konzert ist immer das Erste. Bei Musik geht es vor allem um Überzeugungskraft für das Werk. Aber die lässt sich überhöhen, indem man einen zusätzlichen Mehrwert durch Vertiefung des Kontextes schafft. Dadurch entstehen oft bleibende Erlebnisse, die lange nachklingen.

Wie erweitert sich in Bezug auf Beethoven die Perspektive?
Das Erleben von Beethoven ist ein anderes, wenn man ihn aus seiner Zeit heraus erklären kann. Beethoven ist nicht vom Himmel gefallen. Er hat sehr viele Einflüsse und Tendenzen subsumieren können in eine eigene Sprache. Mit dieser Rezeptur hat er alles weiterentwickelt. Er war ein Zauberlehrling, der so etwas konnte. Das ist das Wesen großer Musik und Kunst: Das Vorhandene zu wandeln, etwas Neues daraus zu erschaffen.

Können wir uns aus unserer Gegenwart heraus überhaupt einen historischen Blickwinkel anmaßen?
Wir als Menschen von heute können unsere aus Erfahrung entwickelten Emotionen nie herausrechnen. Natürlich mussten die Zeitgenossen Beethoven ganz anders wahrnehmen. Die steckten ja genauso in ihrer Haut drinnen, wie wir in unserer.

Wie sehr fließt so etwas in Ihr unmittelbares Spiel ein?
Unser größtes Ziel ist es, immer so nah wie möglich an der Komposition zu sein. Aber es geht auch um das Verständnis für die Zeit und die Kommunikation mit dem Publikum. Technisch souverän zu sein ist natürlich die Grundlage, was bei diesen Quartetten immer eine krasse Herausforderung ist. Die Messlatte hängt hier schon sehr hoch und das Training dafür ist nicht einfach.

casalQuartett

Sehen Sie Musik im Zusammenhang mit der Biografie?
Musik für sich genommen muss außerhalb der Person autark funktionieren. Aber als Interpret ist es unverzichtbar, sich mit der Persönlichkeit des Schöpfers zu beschäftigen. Wodurch unterscheidet sich die Interpretation des einen von anderen?  Entwickeln sich spezielle Nuancen durch Kenntnisse über den Kontext? Ich denke ja. Ein Gespür für die Musik zu entwickeln, hat immer auch mit Wissen zu tun. Einfach drauflos zu musizieren funktioniert für uns nicht.

Was haben Beethovens Werke den Zeitgenossen, Vorläufern und Nachfahren voraus?
Beethovens Werke wollten auch ganz neue Fragen stellen, Brüche markieren. Bei Mendelssohn, Schubert, weniger bei Schumann, ist dies nicht so ausgeprägt. Die waren nicht unbedingt wie Beethoven im Bergwerk der Musik auf der Suche nach dem, was es noch nicht vorher gab. Ihnen ging es eher darum, mit den Mitteln ihrer Zeit den passenden Ausdruck zu artikulieren. Insgesamt hat Mendelssohn wohl am besten Beethoven verstanden. Schubert war er in vielerlei Hinsicht fremd, der hat Musik nie als potentielle Provokation empfunden. Schubert kannte Beethovens Musik, aber er konnte dieses architektonisch Gedachte, vor allem im Spätwerk, nicht recht nachvollziehen. Ebenso die Herangehensweise, um mit konstruktiver Analyse neue Materie zu erschaffen.

Wollte Czerny mit seinen unbekannt gebliebenen Quartetten aus dem Schatten Beethovens heraus treten? Er war ja sonst fast schon ein Teil von Beethoven.
Ganz sicher, allerdings im Geheimen. Czerny hat Beethoven und Mendelssohn sehr bewundert und konnte bereits als Zehnjähriger Beethovens ganzes bisheriges Klavierwerk auswendig. Sein öffentlicher Erfolg definierte sich aber später vor allem über die weitverbreiteten Lehrwerke. Dabei hatte er einen starken Wunsch, auch als seriöser Komponist von sich reden zu machen. Es war ihm nicht mehr vergönnt.

Sie haben im Begleittext geschrieben, dass es vor allem Schumanns Verdienst war, dass ‘das Wagnis Streichquartett’ weiter leben könnte. Was hat Schumann hier geleistet?
Nach Beethoven hat erst einmal jeder jüngere Komponist mit dessen Vorlage gerungen. Was kann ich jetzt noch sagen, was diesem hohen Anspruch gerecht wird? Schumann war mit Mendelssohn verantwortlich für die Renaissance des Quartetts. Als Pianist hatte er sich lange nicht getraut damit zu beschäftigen. Erst auf Anregung Mendelssohns hat er diese Gattung kennengelernt und sie sich akribisch erarbeitet. In seinen eigenen Quartetten erreicht er eine neue Stufe der Komplexität, die unmittelbar dann bei Brahms weiterlebt.

Bei näherer Betrachtung wurde extrem viel analysiert, gelernt, erarbeitet, geforscht – vor allem bei Beethoven. Entzaubert dies den Geniebegriff etwas?
Beethoven hat immer großflächig entworfen, er hat fast immer gerungen, zumindest bei den wichtigen Werken. Nichts wurde mal eben wie bei Mozart beim Billardspielen nebenbei erfunden. Beethoven war immer extrem lernbegierig, in allen Bereichen der Literatur, Sprache, Politik, Kunst. Die formale Genauigkeit von Johann Sebastian hat bei Beethoven starke Auswirkungen, wie später bei Mendelssohn. Dieser verstand ihn wie kaum ein anderer. Zusammen mit seiner Schwester Fanny Hensel analysierte er nächtelang Beethovens späte Streichquartette. Sie schrieb ihrerseits ein irrsinniges, fabelhaftes Streichquartett. Dies wäre ohne Beethoven ganz undenkbar, auch in Bezug auf viele sehr moderne Elemente ihrer Komposition.

Warum sind Interpretationen so spezifisch, obwohl Beethoven so wenig wie möglich durch viele Vorgaben dem Zufall überließ?
Die große Komplexität führt zu einer Diversifikation von Interpretation. Die Bandbreite wird dadurch immer größer und es ist ganz toll, eine Komposition von vielen verschiedenen Leuten zu hören. Dies ist immer faszinierend, weil man immer etwas Neues entdeckt.

Welche Rolle spielt der direkte Austausch zwischen Musikern und Komponist?
Der war zu Beethovens Lebzeiten für die Entstehung der Quartette ganz wesentlich. Das Laboratorium Artificiosum, eine lebendige Musikwerkstatt war Beethovens ein ganz großes Anliegen.

CD
casalQuartett
Beethovens Welt 1799-1851
„Der Revolutionär und seine Rivalen“
solo musica 2020

  • Pizzicato

  • Archives