Gustav Mahler: Symphonien Nr. 1-10;  Lucy Crowe, Christiane Karg, Erika Sunnegardh, Susan Bullock, Anna Prohaska, Sopran, Gerhild Romberger, Nathalie Stutzmann Lilli Paasikivi, Alt, Johan Botha, Tenor, David Wilson-Johnson, Bariton, John Relyea, Bass, MDR-Rundfunkchor Leipzig, Rundfunkchor Berlin, Knaben des Staats- und Domchors Berlin, Berliner Philharmoniker, Daniel Harding, Andris Nelsons, Gustavo Dudamel, Yannick Nézet-Séguin, Kirill Petrenko, Simon Rattle, Bernard Haitink, Claudio Abbado; 10 CDs + 4 Blu-ray; + Documentary: The conductors talk about Mahler’s symphonies; Aufnahmen 2011-2020, Veröffentlichung 21/01/2021- Rezension von  Remy Franck

Mahler-Aufnahmen aus dem vergangenen Jahrzehnt veröffentlichen die Berliner Philharmoniker auf ihrem eigenen Label. Daniel Harding ist der Dirigent der Ersten Symphonie. Von dem Briten kenne ich nur gute und sehr gute bez. herausragende Mahler-Einspielungen: eine gute Vierte mit dem Mahler Chamber Orchestra, eine elektrisierende Zehnte mit den Wiener Philharmonikern und gute Einspielungen der Sechsten (Bayerischer Rundfunk) und der Neunten (Schwedischer Rundfunk). Seine Erste aus Berlin ist ebenfalls herausragend. Es gibt darin so viele klar herausgearbeitete klangliche Details, ein so brillantes Orchesterspiel, soviel Transparenz und neuartig klingende Schichtungen, so viel Spannung und Spontaneität auch, dass man sie als sehr attraktiv und höchst interessant bezeichnen muss. So viel aufregende Musik hört man selten in diesem Werk. Und wenn am Schluss der Klang schnell, zu schnell ausgeblendet wird, um den Applaus zu verhindern, ist das ein Coitus Interruptus der schlimmsten Art.

Andris Nelsons steht für die Zweite vor dem Orchester. Er dirigiert einen kraftvollen ersten Satz, ein sehr lyrisches Andante, doch der dritte Satz ist etwas flach und von der Ironie und dem bitteren Sarkasmus ist nichts zu spüren. Den 4. Satz finde ich in seinen dynamischen Veränderungen relativ unausgegoren, kontrastarm, gewissermaßen anti-expressiv und dem Text sicherlich nicht angepasst. Auch der erste Teil des 5. Satzes bleibt rhetorisch schwach. Nelsons scheint die Angabe ‘Wieder zurückhaltend’ etwas zu strikt befolgt zu haben, was eindeutig auf Kosten der Spannung geht. Leider bleibt auch das ‘Langsam Misterioso’ sehr schwach, mit  leidenschaftslos singenden Solistinnen. Als Hörer wartet man ständig, dass plötzlich doch noch was passiert, aber es passiert nichts.

Daniel Nézet-Séguin, von dem ich eine sehr schwache Erste und eine exzellente Achte kenne, (Rezension 1, Rezension 2) dirigiert in dieser Zusammenstellung die Vierte Symphonie. Es ist eine durchwegs gute, aber in keiner Hinsieht herausragende Aufnahme. Auch Christiane Karg bleibt unter dem zu erwartenden Niveau.

Auch Gustavo Dudamel kann mich mit seiner Interpretation der Fünften nicht überzeugen. Die Zerrissenheit der Symphonie erfährt man hier nicht. Die Trunkenheit der Musik, das Melancholische, kurz die ganzen Fin-de-siècle-Stimmungen entfallen bei Dudamel. Seine Interpretation ist oberflächlich, vordergründig, nicht wirklich zusammenhängend, und in einer etwas anbiedernden Art theatralisch, überbelichtet und demonstrativ. Aber Dudamel hat schon etliche Orchester an Mahler vorbeigesteuert.

Das gilt leider auch für Petrenkos Sechste. Auch wenn die Philharmoniker spontaner und engagierter spielen als bei Dudamel, dringt auch Petrenko nicht in Mahlers Welt ein. Er inszeniert die Sechste als virtuoses Showstück, orchestral glänzend, transparent, schlank, detailverliebt, aber eben halt nur auf pure Klangwirkung aufbauend. Das Hintergründige, Schaurige der Symphonie bleibt auf der Strecke.

Zum richtigen Mahler finden wir dann mit Simon Rattle zurück. Er ist ja seit vielen Jahren ein anerkannter Mahler-Dirigent. Er zeigt das mit dieser Siebenten Symphonie, die darzustellen zu den schwierigsten Aufgaben eines Mahler-Dirigenten gehört. Durch eine hinreißende Detailpflege, eine bemerkenswerte Dynamisierung und eine schier unbegrenzte Farbenpalette erfolgt eine sehr lebendige Umsetzung der Partitur, die der Orchestersprache Mahlers vollauf gerecht wird.

Rattle inszeniert in der ersten Nachtmusik ein Panoptikum an Eindrücken von Ballräumen, Volksfesten, Kirmesatmosphäre und mehr. Der Satz wird, genau wie das schattenhafte Scherzo, zu jener Insel der Träume, die einst einer der besten Mahler-Kenner, Richard Specht, beschrieben hat. Die zweite Nachtmusik wird ungemein sensuell dargestellt. Das finale Rondo lässt er mit einem Maximum an Klanglust musizieren. So wird es ein Orchesterfest fürs Ohr, ein Glanzstück für die Berliner Philharmoniker und ein wirklich köstlicher musikalische Spaß.

Auch die Achte Symphonie wird in dieser Kollektion von Simon Rattle dirigiert. Er hütet sich vor emotionalem Chargieren, verleiht dem Veni Creator-Hymnus Kraft, durchleuchtet die Partitur und pflegt die Details, aber jubelnden Schwung, wirklich mitreißendes Musizieren gibt es nicht, weder im Veni Creator Spiritus noch im Finale des 2. Satzes, so grandios er es auch steigern mag. Trotz des detailreichen und gut durchleuchteten Musizierens kommt Rattles Interpretation nicht annähernd an das beglückende Zusammenspiel der Berliner Philharmoniker, der Chor-Heerscharen aus Berlin, Prag und Bad Tölz sowie eines einmaligen Aufgebots bei den Solisten unter Claudio Abbado (1994, Deutsche Grammophon) heran. Aber wie der Italiener das Drama nicht zugunsten der Vergeistigung vernachlässigte – und vice versa, das war auch eine singuläre Leistung.

Bernard Haitink, von dem ich eigentlich nur herausragende Mahler-Interpretationen kenne, dirigiert eine sehr lebendige, durchgehend ausdrucksvolle Neunte, in der sich vor dem finalen Adagio viel Energie manifestiert, u.a. in den rustikalen Ländlern und im scharf-satirischen Rondo-Burleske. Umso mehr Ruhe und Konzentration macht das Adagio zu einem sehr emotionalen Erlebnis.

Mit ihren emotionalen Gegensätzen ist Mahlers Zehnte Symphonie die vielleicht ergreifendste Mischung aus Selbstzerfleischung und Trost in der Musik. Claudio Abbado dirigiert nur den ersten Satz, Adagio, in der von Deryck Cooke erarbeiteten Konzertfassung. Er versenkt sich und uns vom ersten Takt an in die Musik. Die gellenden Aufschreie bringt er bohrend zum Ausdruck.

Und so endet diese Mahler-Box nach etlichen Enttäuschungen mit einer sublimen Interpretation. Aber Abbado war ja auch ein anerkannter Mahler-Dirigent, einer der größten, zweifellos.

Mahler recordings from the past decade are released by the Berliner Philharmoniker on their own label.
Daniel Harding is the conductor of the First Symphony. I know only good and very good or outstanding Mahler recordings by the Briton, a good Fourth with the Mahler Chamber Orchestra, an electrifying Tenth with the Vienna Philharmonic, and good recordings of the Sixth (Bayerischer Rundfunk) and Ninth (Swedish Radio). His First from Berlin is also outstanding. There is so much detailed transparence, such brilliant orchestral playing, so much tension and spontaneity too that it must be described as very attractive and most interesting. One rarely hears so much exciting music in this work. And when at the end the sound fades out quickly, too quickly, to prevent applause, it is a coitus interruptus of the worst kind.
Andris Nelsons is  conducting the Second. There is a powerful first movement, a very lyrical Andante, but the third movement is a bit flat and does not show the music’s irony and sarcasm. The 4th movement is not really coherent, lacking in contrast and in a sense it is anti-expressive and certainly not suited to the text. The first part of the 5th movement also remains rhetorically weak. Nelsons seems to have followed the indication ‘Again restrained’ somewhat too strictly, clearly at the expense of tension. Unfortunately, the ‘Slow Misterioso’ also remains very weak. As a listener, one keeps waiting for something to suddenly happen, but nothing does.
Daniel Nézet-Séguin, of whom I know a very weak First and an excellent Eighth, (review 1, review 2) conducts the Fourth Symphony in this compilation. It is a consistently good but in no respect outstanding recording.
Gustavo Dudamel also fails to convince me with his interpretation of the Fifth. The turmoil of this music cannot be experienced in this performance. The drunkenness of the music, the melancholy, the whole fin-de-siècle moods are missing with Dudamel. His interpretation is superficial, not really coherent, and in a somewhat chumming way theatrical, overexposed and demonstrative. But Dudamel has already steered quite a few orchestras past Mahler.
Unfortunately, this also applies to Petrenko’s Sixth. Even if the Philharmoniker play more spontaneously and with more commitment than under Dudamel, Petrenko does not penetrate Mahler’s world either. He stages the Sixth as a virtuoso showpiece, orchestrally brilliant, transparent, slender, caring for details, but just based on pure sound effect. The symphony’s background, its eeriness falls by the wayside.
We then find our way back to the real Mahler with Simon Rattle. He has been a recognized Mahler conductor for many years and is a high-ranking Mahler conductor. He shows that with this Seventh Symphony, which is to be presented as one of the most difficult tasks of a Mahler conductor. Through ravishing attention to detail, remarkable dynamism and an almost limitless palette of colors, this is a very vivid realization of the score that does full justice to Mahler’s orchestral language. In the first Nachtmusik Rattle stages a panopticon of impressions of ballrooms, folk festivals, fairground atmospheres and more. The movement, like the shadowy Scherzo, becomes that island of dreams once described by one of Mahler’s best connoisseurs, Richard Specht. The second Nachtmusik is immensely sensual. Rattler lets the final Rondo be played with a maximum of sonority. This makes this an orchestral feast for the ear, a showpiece for the Berlin Philharmonic, and truly exciting.
Simon Rattle also conducts the Eighth Symphonie in this collection. He is wary of emotional charisma, giving power to the Veni Creator hymn, sifting through the score and tending to the details, but jubilant sweep, truly rousing music-making is not there, either in the Veni Creator Spiritus or in the arguably grandly heightened finale of the 2nd movement. Yet, Rattle does not come close to what the Berlin Philharmonic, the choirs from Berlin, Prague and Bad Tölz, and a unique array of soloists realized under Claudio Abbado (1994, Deutsche Grammophon). But how the Italian did not neglect the drama in favor of the spiritualization – and vice versa, that was really a singular achievement.
Bernard Haitink, of whom I know only outstanding Mahler interpretations, conducts a very lively and expressive Ninth, in which there is a lot of energy before the final Adagio, e.g. in the rustic Ländler and the sharp-satirical Rondo-Burleske. All the more calm and concentration make the Adagio a very emotional experience.
With its emotional contrasts, Mahler’s Tenth Symphony is perhaps the most poignant blend of self-destruction and consolation in music. Claudio Abbado conducts only the first movement, Adagio, in the concert version prepared by Deryck Cooke. He immerses himself and us in the music from the first measure. He expresses the shrieking outcries in a probing manner. And so, after quite a few disappointments, this Mahler box ends with a sublime interpretation. But Abbado was, after all, an acclaimed Mahler conductor, one of the greatest, no doubt.

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