'Reflets et symétrie' nennt Jean Muller seine neue CD-Produktion. Und getreu dieser programmatischen Idee blickt der Luxemburger Pianist in die Tiefen der Kompositionen von Johannes Brahms, György Ligeti und Sergei Prokofiev. Dies legt Verbindungslinien offen zwischen Musiken, die bislang eher als nicht verwandt miteinander bezeichnet wurden. Aktuell befindet er sich auf internationaler Live-Tournee in – und spielt dabei auch eine Komposition seines Landsmannes Ivan Boumans. Stefan Pieper hat den Pianisten in Berlin zu einem Gespräch getroffen.

Jean Muller
(c) Stefan Pieper

Was sind Ihre eigenen Erwartungen an ein gelungenes Life-Recital? Was Ihr Anliegen beim Publikum und wo möchten Sie selber hinkommen?
Eigentlich ist jeder Abend ein kleiner Teil einer großen künstlerischen Aufgabe. Sie besteht darin, dass man den Leuten ein Erlebnis bietet – und zwar auf mehreren Ebenen! Es ist die handwerkliche Ebene, wie man Klavier spielt. Dann haben wir den ästhetischen Aspekt und dann kommt das wichtigste: Ich glaube, dass Musik auch eine spirituelle Bedeutung hat. Musik ist die Kunstform, die sich hierfür am besten eignet, weil sie im Raum und in der Zeit stattfindet. Jedes Erlebnis ist nicht mehr reproduzierbar.

Spüren Sie von der Bühne aus, ob diese Energien aufgenommen werden und zurückkommen?
Das ist von Mal zu Mal immer unterschiedlich – ob es einem gelingt, auf dieser Ebene zu kommunizieren. Das ist mir sehr wichtig. Man flüchtet als Interpret ja schließlich nicht in die Musik, sondern man ist präsent und sorgt dafür, dass die Musik durch einen strömt.

Zunächst einmal begibt man sich in eine Komposition hinein, die jemand anders geschrieben hat…
Ich glaube, die großen Meisterwerke fangen ihr Leben erst an, nachdem sie zu Papier gebracht worden sind. Man muss dem Kern der Werke ihre jetzige Aktualität einverleiben. Ansonsten würde ich mich ja nur als Konservator betätigen.

Was bedeutet der aktuelle Titel ‘Reflets et symétrie’ in diesem Zusammenhang?
Hier kommen Sachen zusammen, die eigentlich nicht zusammen passen – zumindest auf den ersten Blick. Die Herausforderung liegt darin, neue Gemeinsamkeiten aufzudecken. Hier geht es in erster Linie um diesen scheinbaren Gegensatz zwischen Brahms und Prokofiev.

Jean Muller (c) Stefan Pieper

Jean Muller
(c) Stefan Pieper

Sind hier zwei Epochen, Kulturen und Geisteshaltungen gewissermaßen auf Kollisionskurs?
Eben nicht, weil es in beiden Werken eine Reihe von Gemeinsamkeiten gibt. Wir haben bei beiden Werken, also auch überraschenderweise auch bei der ersten Sonate von Johannes Brahms einen sehr perkussiven Klaviersatz. So etwas ist ja eigentlich eher für Prokofiev typisch.

Da können Sie auch sehr gut Ihre Vorliebe für explosive Crescendi entfalten?
Hier haben wir ein Programm, das alle dynamischen Möglichkeiten des Programms ausreizt. Als Pianist, der das Klavier liebt, finde ich es sehr reizvoll, das Spektrum vom leisesten Flüstern bis zu orchestraler Wucht auszureizen.

Welche Rolle spielt die Komposition Ihres Landsmannes Ivan Boumans hier?
Dieses Stück habe ich selbst in Auftrag gegeben. Die Grundidee waren mehrere Barcaroles, die er bereits geschrieben hatte. Die dritte war für mich so gewichtig, dass ich sie oft auch einzeln spiele. Ich assoziiere damit ein Zitat von Plato, wo es um ein Zwiegespräch der Seele mit sich selber geht. Das ist natürlich in diesem Programm ein Kontrast.

Welchen Zugang haben Sie zu den Etuden von Györgi Ligeti, aus denen Sie die Stücke ‘Arc en ciel’ und ‘Etudes de Diable’ spielen?
Man soll sich als Künstler ja immer neu erfinden. Besonders dieses ‘Escalier de diable’ ist ein aberwitziges Stück, das sich wie in einer Himmelsleiter immer weiter hochschraubt. Man könnte  an dieses berühmte Bild von M.C. Escher mit der unendlichen Treppe denken.  Die Energie die da drin steckt, ist extrem wirkungsvoll. Das Stück ist eine große Herausforderung an den Intellekt des Interpreten. Ligeti arbeitet vor allem viel mit Polyrhythmik. Eigentlich gibt es gar keine Taktarten mehr in diesem Stück. Die linke und rechte Hand agieren rhythmisch völlig unabhängig.

Das Stück ‘Arc en ciel’ setzt einen ruhigeren, fast impressionistischen Aspekt dagegen…
Durchaus. Dabei hat dieses Stück sogar Jazzelemente, die am Klaviersatz eines Bill Evans orientiert sind. Zwar gibt es tonale Harmonien, also Moll- und Durklänge, die im Raum schweben und keine funktionalen Zusammenhänge haben, sondern einfach nur Farben transportieren.
Auch lebt eine besondere Vorliebe für die hohen Register des Klavieres. Und schon haben wir wieder eine Parallele zu Brahms.

Warum haben Sie gerade die sechste Prokofiev Sonate gewählt?
Sie ist sehr vielseitig. Sie präsentiert eigentlich alle Aspekte und Charaktere dieser Sonatengruppe. Ich halte sie daher für die überzeugendste von allen neun Sonaten. Die Sonate wird ja auch als ‘Kriegs-Sonate’ bezeichnet. Die lautmalerischen Aspekte sind sehr eindringlich. Man hört gewissermaßen die Bomben einschlagen und da sind Marschbewegungen, wo die Panzer rollen. Im zweiten Satz stehen dem aber sehr humoristische Dinge entgegen. Der dritte Satz transportiert viel lyrisches Pathos und erinnert damit wieder an Brahms. Der langsame Satz ist ein sehr ernster Satz. Man assoziiert bei Prokofiev oft Ironie und Sarkasmus, aber die musikalische Aussage, die hier vorkommt, ist voller getragenem Ernst. Der vierte Satz ist wieder sehr pianistisch eingängig und wird von einer vielschichtigen Idee getragen.

Haben Sie eine Strategie, dass auf einem Konzert alles rund läuft und miteinander in Einklang steht?
Man kann schon in der Probe sehr viel machen. Gut ist immer, wenn man in der Lage ist, noch etwas daraufzusetzen, wenn das Publikum erst mal da ist. Man muss im richtigen Moment die  Motivation haben, es eben noch besser zu machen. Es gibt beim Klavier relativ wenig physische Begrenzungen. Man kann durchaus stundenlang Klavierspielen ohne zu erschöpfen. Rein physisch ist es natürlich so:  Je mehr ich drin bin, desto einfacher geht es. Der Schlüssel ist vielleicht,  sich nicht zu viel vorzubereiten. Wenn ich ein ganzes Ritual vorher absolviere, steigert dies nur das Risiko, dass etwas schief geht. Ich brauche auch keine ausgesprochene Ruhephase vor einem Konzert. Denn wenn man zu viel Zeit zum Denken hat, entsteht Anspannung. Aber ich gebe zu, dass dies ein relativ neuer Ansatz ist, den ich mir erarbeitet habe.

Beim Konzert ist Unmittelbarkeit alles. Wie verhält es sich bei der Tonträgerproduktion?
Da überlasse ich so wenig wie möglich dem Zufall und ich mache bei der Mischung und Aufnahme alles selbst. Das ist mein künstlerisches Credo. Ich gehe hier den umgekehrten Weg wie im Konzert. Also arbeite ich ganz lange, bis der Zustand erreicht ist, wo ich mir sage „Ich kann mir dies jetzt 50 Mal hintereinander anhören und es stellt mich immer noch zufrieden.“ Erst dann bin ich zufrieden. Meine Arbeit soll möglichst direkt das wiedergeben, was ich mir vorstelle.

Ist die CD-Produktion ein Resümee vorheriger Konzertauftritte?
Ich gehe nie ins Studio, ohne das Repertoire vorher sehr gründlich in vielen Konzerten gespielt zu haben. Schließlich macht das, was ich unmittelbar am Flügel spiele, 90% des Endresultats aus. Die anderen 10% sind Feinschliff und nicht die Seele der Musik.

Jean Muller (c) Stefan Pieper

Jean Muller
(c) Stefan Pieper

Wie sehr ist das Konzert von unterschiedlichem Publikum beeinflusst? Es gibt Orte, wo viel Establishment zusammen kommt. Mal gibt es relativ altes, dann wieder sehr junges Publikum. Aktuell hier in diesem Klaviersalon befinden wir uns regelrecht an einem fast schon absurden Ort.
Ich bin der Meinung, dass man in sich selbst ruhen sollte. Natürlich lasse ich mich beeinflussen von der Atmosphäre, aber ich glaube nicht dass ich versuchen würde, eine Interpretation darauf abzustimmen. Ich bin der Meinung, die künstlerische Aussage muss Gültigkeit haben, ohne dass ich mich irgendwelchen modischen Erwartungshaltungen anpasse. Natürlich spielt man immer etwas anders je nach Atmosphäre. Der Grundstock der Interpretation bleibt aber bestehen. Der ist nun mal die Handschrift. Und die Handschrift bleibt. Eben auch, wenn der Füllfederhalter mal ein anderer ist. Man erreicht die Menschen durch Authentizität. Umso mehr, je besser man dies intellektuell, emotional und spirituell hinbekommt.

Wie stark wirken die Mechanismen des Klassikbetriebs auf die Authentizität? Ich denke nur an die weit verbreitete Abwehrhaltung gegen unkonventionelle Programme mit unbekannter Musik…
Daran stößt man sich immer. Man muss von Anfang an eine Entscheidung treffen: mache ich Karriere, weil ich Musik mache? Oder mache ich etwa Musik, weil ich Karriere machen will? Wichtig ist, dass man Lust auf das hat, was man tut. Ich habe immer in mich selbst herein gehört. Eine wichtige Erfahrung für mich war meine CD-Einspielung sämtlicher Chopin-Balladen. Ich habe sehr viele Preise und begeisterte Rezensionen dafür bekommen. Und das für eine Produktion, von dem mir im Vorfeld sehr stark abgeraten worden war. Man warnte mich: Du verbrennst Dir die Finger an diesem Repertoire. Dann wurde doch ein Meilenstein draus. Wenn erst mal eine Form von künstlerischer Wahrhaftigkeit gegeben ist, tut es keinen Abbruch mehr, wenn man nicht mehr auf der sicheren Seite ist.

Wie haben Sie dieses Stadium erreicht?
Ich habe eigentlich eine ganz organische Karriere gemacht ohne viele Sprünge. Mit 15 bin ich aus Luxemburg weggegangen. Dann war ich vier Jahre in Brüssel, danach in München und Paris, habe  Meisterklassen in München gemacht. Diese häufigen Wechsel haben mich pianistisch geprägt. Vor allem weil die französische und die deutsche Klavierschule sehr unterschiedlich sind. In Brüssel war ich bei einem russischen Lehrer, das war wiederum eine ganz andere Herangehensweise. Alles zusammen hat mich zu einem Pragmatismus geführt, was die pianistischen Mittel angeht. Vor allem, dass ich mich primär an einer bestimmten Klangvorstellung orientiere und nicht an einer bestimmten Methodik, wie man dies erreicht. Je offener man da ist, desto mehr kann man da eigentlich machen.

ZUR CD-REZENSION GEHT’S HIER.

 

 

 

 

 

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