"Jeder, der hier im Orchester sitzt, ist ein Künstler für sich“ lautet Fabrizio Venturas nobles Credo. Ebenso, dass die Menschen Kultur wie Luft zum Atmen brauchen. In diesem Sinne hat sich der 58-jährige italienische Dirigent mit vielen Projekten als Musikvermittler in Münster engagiert. Er gründete einen Förderverein, mobilisierte Sponsoren, was neue Projekte ermöglichte. Vor allem hat Fabrizio Venturas Programmgestaltung in Münster neue Impulse gesetzt – und dabei auch so manches Klischee in der Publikumswahrnehmung nachhaltig zurecht gerückt: So ist Italien nicht nur das Land der großen Oper, sondern hat auch spektakuläre Sinfonik hervorgebracht.

Fabrizio Ventura

So war der Chefdirigent des Sinfonieorchesters Münster von kleinauf von der Musik von Komponisten wie Sgambati, Martucci oder Casella infiziert.  Drei umjubelte Konzertaufführungen und eine neue CD-Produktion (Pizzicato-Rezension)  mit Casellas Sinfonie Nr. 2 und einem Suiten-Fragment aus seiner Oper ‘La Donna serpente’ geben Venturas sicheren Instinkten Recht. Beim Ortstermin in Münster sprach er mit Stefan Pieper über seine Philosophie beim Musikaufnehmen und einen etwas verkannten italienischen Komponisten, dem es an Weitblick nicht mangelte.

Herr Ventura, warum bevorzugen Sie Liveaufnahmen für Ihre CD-Produktionen?
In einer Konzertaufnahme ist viel mehr Drive und unmittelbarer Ausdruck! Wichtig ist es mir, den Spannungsbogen eines Livekonzerts einzufangen. Ich bevorzuge es, möglichst große Abschnitte  aufzunehmen und nicht zu kleinteilig an den Prozess heran zu gehen. Musizieren bedeutet aktives Erleben und bewusstes Mit-Atmen. Im Studio ist man oft etwas zu verkrampft und man steigert sich in die Perfektion einzelner Stellen hinein. Ich finde, es ist wichtig, auch mal den unperfekten Moment zuzulassen. Auch Fußballspieler schießen manchmal daneben – und verdienen trotzdem Millionen damit (lacht).

Aber geht es ohne Perfektion?
Natürlich nicht! Im Vorfeld muss alles stimmen, denn erst dann kann Musik neu entstehen. Und ich habe mich hinterher einen ganzen Tag lang mit Tonmeister Manfred Schumacher zusammengesetzt, um der Aufnahme den letzten Schliff zu geben. Aber man darf nicht zu viel festlegen. Ich bin kein Metronom und kein Computer. Die Musik muss aus der unmittelbaren Emotion des Moments kommen. Man lebt jeden Tag und ist jeden Tag ein anderer. Ich lese ja auch die Partitur jeden Tag mit anderen Augen. Jeder Mensch hört etwas anderes in der Musik und erlebt andere Gefühle. Der eine hört das Meer und der andere die Berge. Aber genau daraus entsteht ja Kunst. Es wäre ja auch traurig, wenn es nur ein Standard-Modell von Ästhetik gäbe.

Fabrizio Ventura

Im Sinfonieorchester multipliziert sich diese Vielfalt ja gleich hundertfach. Wie gehen Sie damit um?
Jeder Mensch hat seine eigene Persönlichkeit und jeder spürt die Musik anders. Im Orchester bringen sich so viele Menschen in ein großes Ganzes ein. Es ist erstaunlich, wie das trotzdem funktioniert.

Was hat den Anlass zu einer CD mit Werken von Alfredo Casella gegeben?
Wir hatten in Münster jedes Jahr eine Konzertreihe mit einer bestimmten Thematik. Zum Beispiel das Thema ‘Musik und Malere’  oder ‘Krieg und Frieden’. Die Thematik ist aber bewusst locker und offen gehalten. Das aktuelle Projekt ging auf den Wunsch zurück, unbekannte italienische Komponisten zu zeigen – vor allem solche, die sinfonische Musik und keine Oper geschrieben haben. Man denkt bei Italien – zumindest ab dem 19. Jahrhundert –  immer nur an Opern und vergisst allzu schnell, dass es auch herausragende Instrumentalmusik gibt. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet in Italien AUCH eine starke Belebung der Sinfonik statt. Die geht auf Einflüsse zurück, die von außen kamen – etwa die Sinfonik von Brahms oder die Musik von Liszt und Wagner. Es gibt in dieser Zeit allerhand italienische Erstaufführungen, etwa von Beethovens Eroica.

Wann sind Sie zum ersten Mal mit Alfredo Casella in Berührung gekommen?
Das war schon ganz früh, allerdings eher mit seiner Rolle als einflussreicher Musikpädagoge und -vermittler. Ich war gerade 12 Jahre alt, da schenkte mir mein Vater das Handbuch von Casella „Technik des modernen Orchesters“. Und ich kannte auch schon lange die von ihm herausgegebenen Bach-Editionen mit vielen aufschlussreichen Anmerkungen.

Womit hat sich Alfredo Casella in der italienischen Musikgeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts etabliert?
Man kann diesen Komponisten nicht einer einzelnen Richtung Richtung zuordnen. Sein Schaffen und Wirken zeugt von einem sehr dynamischen Geist. Er ist ein italienischer Komponist, aber auch ein international sehr weltoffener Künstler. Casella hatte verantwortungsvolle Lehrmeister wie Guiseppe Martucci, die ihn ermutigten, nach Frankreich zu gehen, eben dorthin, wo viel Fortschritt herrschte. Er hat unter anderem bei Gabriel Fauré studiert und kam mit so vielen Komponisten, Schulen und Richtungen in Berührungen. Er hat wie ein Schwamm alles begierig aufgesogen. In seiner Zweiten Sinfonie gibt es Klänge, die an Rimsky-Korsakovs ‘Scheherazade’ erinnern. Manchmal ist auch Richard Strauss im Spiel. In seiner Zweiten Sinfonie ist auch eine intensive Auseinandersetzung mit Gustav Mahler prägend. Alfredo Casella war schon in jungen Jahren eine sehr einflussreiche Persönlichkeit. Er hat sich für die Neue Musik eingesetzt, hat zum Beispiel eine Tournee mit Schönbergs Pierrot Lunaire in Italien organisiert. Casellas Erfolg war darin begründet, dass die Italiener zu dieser Zeit sehr aufgeschlossen waren. Sonst wäre es ja nie zum Futurismus gekommen. All dieser Aufbruchsgeist fließt in Casellas Musik ein, die einen ständig spüren lässt, dass hier etwas in Bewegung ist.  Dabei ist Casellas Musik ja gar nicht avantgardistisch. Trotzdem muss dieser Komponist als äußerst wichtiger ‘Motor’ für das wachsende Interesse an der musikalischen Zukunft gesehen werden.

Mussten Sie Casellas Musik auch aus einer ideologisch geprägten Versenkung herausholen?
Durchaus. In der Nachkriegszeit wurden viele Komponisten ja beiseite gelegt. Sie galten als suspekt, weil überall eine Nähe zum Faschismus vermutet wurde. Dies gilt ja auch für Komponisten wie Malipiero, Respighi oder Mascagni. Irgendwie war ja jeder mit dem faschistischen System verbunden. Man konnte dem nicht ausweichen bei einem System lückenloser staatlicher Gängelung, wo jeder auf Knien um eine Genehmigung für Arbeit bitten musste. Auch mein Großvater konnte nicht anders –  allein, weil er sechs kleine Münder zu ernähren hatte.

Fabrizio Ventura
(c) Stefan Pieper

Welche Aspekte in Alfredo Casellas zweiter Sinfonie bedeuten Ihnen besonders viel?
Ich bin sehr begeistert von dieser Sinfonie! Mich faszinieren diese extrem aufgewühlten Stimmungen, etwa im ersten Satz oder in dem aufgeladenen, infernalischen vierten Satz, der auch fast mahlerianische Trauermarsch-Passagen hat. Aber in vielen Stellen, nicht nur den lyrischen Seitensätzen, lebt auch Wärme und Hoffnung. Es ist nicht immer nur der ausbrechende Vulkan im Zentrum – ebenso oft strahlt die Sonne über allen düsteren Wolken. Alles bleibt in ständiger Bewegung. Eine gute Balance zwischen den Ebenen ist hier die Herausforderung. Die Instrumentierung ist von Casella außerordentlich dicht gesetzt. Jedes Instrument hat ständig Interessantes zu spielen. Wer hier als Dirigent oder Orchester keine transparenten Linien hinbekommt, produziert sehr schnell eine undurchdringliche Wand. Die Anforderungen liegen auf einer ähnlichen Ebene wie bei Richard Strauss. Insgesamt ist zu dieser Zeit die Instrumentationstechnik des jungen Casellas noch nicht so ausgereift wie in den späteren Werken. Aber die Sinfonie widerspiegelt am unmittelbarsten Alfredo Casellas Persönlichkeit. Hier kommen Dinge zum Ausdruck, die von ganz tief innen kommen.

Wie verhält es sich mit den Sinfonischen Fragmenten aus der Oper ‘La Donna Serpente’?
Die Oper ist von einem alten venezianischen Märchen von Carlo Gozzi aus dem 18. Jahrhundert inspiriert. Mich fasziniert dieses Zusammenspiel aus fantastischen Elementen und Einflüssen aus dem teatro dell`arte. Casella hat aus dieser Oper zwei Suiten gemacht und daraus spielen wir die erste. Auch hier deuten wieder interessante Einflüsse auf Strawinsky oder Hindemith hin.

Was hat sich in den 10 Jahren Ihrer Zeit als Chefdirigent in Münster entwickelt?
Wir stehen natürlich heute woanders als vor 10 Jahren. Ich muss heute viele Dinge nicht mehr sagen, weil das Orchester weiß, was ich sagen will und sich eine gute gemeinsame Sprache entwickelt hat. Oft reicht ein einzelner Blick.

Wie hat das Publikum auf diese bislang unbekannte Musik reagiert? War das Theater gut gefüllt?
Das Publikum hat spontan sehr gut darauf reagiert – was sehr erfreulich ist, da ja vorher Namen wie Casella, Sgambati oder Martucci in Münster praktisch unbekannt waren. Meine zehnjährige Arbeit mit Orchester und Publikum hat einen gesunden Vertrauensvorschuss bewirkt. Wir haben bei den Abokonzerten im Theater eine sehr gute Auslastung entwickelt. Zu Beginn meiner Zeit in Münster betrug sie gerade einmal 73%. In der Saison 2015/16 hatte sie mit  92% ihren Höhepunkt.  Darüber freue ich mich sehr!

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