Über den emotionalen Charakter musikalischer Harmonien – die Strebetendenz-Theorie. Von Daniela Willimek

Warum erzeugt Musik Gefühle? – So direkt gefragt, bleiben die meisten erst einmal stumm. Reflektiert man im Alltag doch gar nicht, was eigentlich – physikalisch gesehen – eine der größten Merkwürdigkeiten ist: Musik, die nur aus leblosen schwingenden Luftmolekülen besteht, kann uns bewegen, ermuntern, ja heiter oder melancholisch stimmen. Wir lauschen etwa dem ersten Satz aus Beethovens ‘Mondscheinsonate’ oder der ‘Träumerei’ von Robert Schumann und sind zu Tränen gerührt. Wir hören Bachs ‘Matthäuspassion’, und bei einigen Stellen läuft es uns eiskalt den Rücken hinunter. Wie ist das möglich? Worin besteht die Macht der Töne? Und nicht nur musikalische Laien bleiben die Antwort auf diese Frage schuldig. Auch eine relativ neue Wissenschaft, die Musikpsychologie, beißt sich an dieser Frage die Zähne aus.

Musik vermittelt Willensvorgänge, aus denen wir Emotionen machen

Seit einiger Zeit verblüfft die Strebetendenz-Theorie des Musiktheoretikers Bernd Willimek mit der Grundaussage, dass Musik nicht direkt Emotionen vermitteln kann, sondern nur Willensvorgänge, mit denen sich der Musikhörer identifiziert. Psychologisch funktioniert die Identifikation mit Willensvorgängen ähnlich wie beim Anschauen eines Films: Auch hier identifizieren wir uns Willensvorgängen – etwa mit denen unseres Lieblingshelden – und empfinden dadurch Emotionen.

Auf der Basis der Identifikation mit Willensvorgängen erstellt die Strebetendenz-Theorie ein System, durch das auch die Wirkung kompliziertere Klänge und Klangverbindungen darstellbar und psychologisch erklärbar wird.

Die Strebetendenz-Theorie löst das Dur-Moll-Problem

Und wie kann man sich diese Willensvorgänge in der Musik vorstellen? Ein Beispiel: Beim Erklingen eines Durakkords identifiziert sich der Hörer, so die Strebetendenz-Theorie, mit dem Willensinhalt « ja, ich will ». Bei einem Mollakkord hingegen mit dem Willensinhalt « ich will nicht mehr ». Je nachdem, ob nun der Mollakkord leise oder laut gespielt wird, ist der Willensinhalt des Nicht-mehr-Wollens auf emotionaler Ebene variabel: leise gespielt empfinden wir Trauer, laut gespielt Wut. Wir unterscheiden hier genauso, wie wir unterscheiden würden, wenn jemand die Worte « ich will nicht mehr » einmal leise flüstert und einmal laut heraus schreit. Leise geflüstert klingen diese Worte traurig, laut gebrüllt klingen sie wütend. Beim Mollakkord ist das ähnlich: Spielen wir einen Mollakkord zunächst leise und langsam, dann lauter und schneller, haben wir den Eindruck, Trauer verwandele sich in Wut. Hörbeispiel  ‘Trauer verwandelt sich in Wut’. Bei Präferenztests entschieden sich 95,65% der Probanden für diese Option.

Daniela und Bernd Willimek

Daniela und Bernd Willimek

Präferenztests bestätigten die emotionalen Charaktere von Harmonien

Zur Strebetendenz-Theorie wurden umfangreiche Präferenz-Tests mit über 2100 Probanden aus vier Kontinenten durchgeführt, darunter waren auch die prominenten Wiener Sängerknaben und die Regensburger Domspatzen. In einer auffallend hohen Übereinstimmung von über 86% wurden bestimmte musikalische Klänge als im Sinne der Strebetendenz-Theorie korrelierend zu bestimmten emotionalen Inhalten präferiert.

Test 1, der Basis-Test: Minimalistische Konzentration auf die Harmonie

Beim Basis-Test, einem musikalischen Präferenz-Test zur Strebetendenz-Theorie, sollte die Korrelation zwischen musikalischen Harmonien und Emotionen erfasst werden. Er brachte den quantitativen Nachweis, dass musikalische Harmonien hinsichtlich ihrer emotionalen Wirkung von Menschen in auffallend hoher Übereinstimmung gleichartig wahrgenommen werden. Den Probanden werden dabei kurze Musikbeispiele vorgespielt. Diese sind so konzipiert, dass sie mit sparsamsten Mitteln im Wesentlichen nur die musikalische Harmonie mit Lautstärke und Tempo, also quasi die klanglichen Grundeigenschaften, präsentieren. Viele Musikbeispiele bestehen aus Wiederholungen desselben Akkords oder aus kurzen Tonfolgen. Der Parameter Melodik spielt bei diesen Beispielen keine wesentliche Rolle.

Beim Basis-Test sollten etwa fünf emotionale Begriffe fünf dazu passenden Musikbeispielen zugeordnet werden. Die betreffenden Musikbeispiele können im Folgenden angehört werden. Die Prozentzahl hinter den jeweiligen Beispielen bezeichnet die Trefferquote, mit der sich die Probanden für das im Sinne der Strebetendenz-Theorie passende Musikbeispiel entschieden.

1. Verzweiflung: Verminderter Septakkord                               Tonbeispiel 1    86,96%
2. Wandern: Wechsel Tonika-Dominante in  Dur                        Tonbeispiel 2    86,96%
3. Einsamkeit: Mollsubdominante mit Sixte ajoutée                   Tonbeispiel 3    95,65%
4. Magische Verwandlung: Übermäßiger Dreiklang                    Tonbeispiel 4    95,65%
5. Sommertraum: Dursubdominante mit großer Septime           Tonbeispiel 5    91,30%

Test 2, der Rocky-Test: Ein Präferenz-Test im Märchengewand

Beim so genannten Rocky-Test handelt es sich ebenfalls um einen musikalischen Präferenz-Test, der in Form eines musikalischen Märchens, ‘Dornröschen und Prinz Rocky’, frei nach den Brüdern Grimm, verschiedene Szenen präsentiert, die emotional belegt sind, etwa Mut, Verzweiflung, Geborgenheitsgefühl oder Staunen. Hierbei war das konzeptionelle Ziel eine musikalisch differenziertere Darbietung der Musikbeispiele. Auf einem Fragebogen waren die acht Märchenszenen, die musikalisch untermalt waren, gelistet. Es sollte jeweils das Musikbeispiel angekreuzt werden, das zum Inhalt der jeweiligen Szene als passend eingeschätzt wurde. Das eine Musikbeispiel beinhaltete dabei Harmonien, die im Sinn der Strebetendenz-Theorie mit der jeweiligen Emotion korrelierten, das andere Musikbeispiel besaß diese Harmonien nicht, war in Faktur und Lautstärke jedoch ähnlich, zuweilen identisch. In einer auffallend hohen Übereinstimmung von über 86% entschieden sich die Probanden beim Rocky-Test für die im Sinn der Strebetendenz-Theorie passenden Musikbeispiele.

Hier kann die erste Szene des Rocky-Tests angehört werden. Es ist der Moment, als das ganze Dornröschenschloss in tiefen Schlaf versinkt und die Dornenhecke beginnt, um das Schloss zu wachsen. Der Text wird zweimal mit unterschiedlicher Musikuntermalung gesprochen. Welche Version ist Ihre Wahl? Hier können Sie die Szene anhören: Tonbeispiel.

Die Strebetendenz-Theorie – ein neuer Weg für die Musikpsychologie

Das überaus große Interesse, das die Strebetendenz-Theorie nicht nur in musikalischen, sondern auch in medizinisch-psychologischen Kreisen hervorgerufen hat, zeigt die große Aktualität des Themas. Gibt es doch, was die Erklärung der emotionalen Rezeption musikalischer Harmonien betrifft, keine einzige überzeugende Alternative zur Strebetendenz-Theorie. Ein Ziel ist es, hier einen Diskussionsansatz zu schaffen, der das Bewusstsein für eines der interessantesten Gebiete innerhalb der Musikpsychologie zu schärfen vermag.

Die erste Fassung der Strebetendenz-Theorie wurde 1998 im Tonkünstler-Forum Baden-Württemberg veröffentlicht und in Vorträgen, unter anderem an der Universität Rostock, vorgestellt. Die deutsche Fassung ‘Musik und Emotionen – Studien zur Strebetendenz-Theorie’ (2011), in der auch die erwähnten Präferenztests beschrieben sind, kann als E-Book kostenlos unter folgendem Link heruntergeladen werden.

Die englische Übersetzung der Arbeit, ‘Music and Emotions – Research on the Theory of Musical Equilibration (die Strebetendenz-Theorie)’ (Translation: Laura Russell, 2013), ist ebenfalls kostenfrei über das Magazin Eunomios erhältlich.

Schüler der ‘Swiss School Bangkok’ nahmen als Probanden an den Tests teil

 

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