Mieczyslaw Weinberg: Symphonie Nr. 2 für Streichorchester op. 30 + Symphonie Nr. 21 op. 152 (Kaddish); Mirga Grazinyte-Tyla, Sopran, Gidon Kremer, Violine, Kremerata Baltica, City of Birmingham Symphony Orchestra, Mirga Grazinyte-Tyla; 2 CDs Deutsche Grammophon 4836566; Aufnahmen 12/2018, Veröffentlichung 05/2019 (88'59) – Rezension von Remy Franck

« Die Welt ist dumm, die Welt ist blind. Wird täglich abgeschmackter! », sagte Heinrich Heine im Jahre 1823. Der Satz kam mir in den Sinn, als ich die Aufregung der allgemeinen Presse konstatierte, die ausbrach als diese CD Anfang Mai herauskam. Schon jahrelang kommen zahlreiche, zum Teil hervorragende Aufnahmen von Werken des Komponisten Mieczyslaw Weinberg heraus. Sie werden von der allgemeinen Presse nicht wahrgenommen und gehen an der breiten Öffentlichkeit vorbei. Jetzt ist der Mann öffentlich geworden. Wie peinlich!

Weinbergs Zweite Streichersinfonie entstand 1946. Sie ist klassisch in der Form, ungemein gut orchestriert und in der vorliegenden, von Mirga Grazinyte-Tyla sehr inspiriert und intensiv dirigierten Aufnahme hoch emotional und bewegend.

Weinberg, der 1941 nach Minsk geflüchtet war, nachdem seine ganze Familie in Warschau von den Nazis ermordet worden war, kam später in die Sowjetunion, wo er als Jude ebenfalls unterdrückt wurde. Die 21. Symphonie wurde erst 1991 fertig gestellt und ist eine Hommage an die Opfer des Warschauer Ghettos.

Weinbergs Kaddish-Symphonie hat sechs Sätze  und dauert 55 Minuten. Davon nimmt der erste Satz allein über 18 Minuten ein. Er ist eine zarte Äußerung von Tragik und Trauer und wird hier vom Orchester wie auch von Gidon Kremer fast nur geflüstert. Ganz zum Schluss erklingt auf dem Klavier ein direktes Zitat aus Chopins erster Ballade. Das Desolate des ersten Satzes weicht einem chaotisch-hektischen Allegro molto, das in ein kräftiges Largo mündet, das sich aber schnell beruhigt. Es folgen dann schräge Soli (u.a. vom Kontrabass) und Klezmer-Episoden sowie eine wilde Zirkusjagd, die groteske Farben in die fast surreale Musik bringt, die im 5. Satz, einem Andantino noch ironischer wird.

Mit Glockenklängen wird das lange Finale eingeleitet. Die Musik ist rau und wirkt verzerrt. Brutale Akzente stehen zarten, wie absterbenden Klängen gegenüber.

Dirigentin Grazinyte-Tyla hat im Finale die Sopranpartie selbst übernommen. Es ist ein wortloser Gesang von großer Reinheit, kein Klagegesang, sondern eher ein Gesang innerer Verwirrung als Reaktion auf Unfassbares. Und dann taucht, wie eine Reminiszenz, das Chopin-Zitat wieder auf, eingewoben in düstere Streicherklänge. Ein Harmonium spielt leise, die Solovioline kommt wieder ins Spiel, dann die Stimme, jetzt hysterisch, eine kraftvolle Antwort des Orchesters hervorrufend, bis der Klang still verklingt. Total ergreifend, wie der Rest dieser Symphonie, die in dieser Aufnahme den Hörer mit viel Suggestivkraft überwältigt.

Weinberg’s Second String Symphony was composed in 1946. It is classical in form, extremely well-orchestrated and, in this recording, highly emotional and moving. The 21st Symphony, Kaddish, was only completed in 1991 and is a tribute to the victims of the Warsaw Ghetto. The symphony has six movements and lasts 55 minutes. Of these, the first movement alone takes over 18 minutes. It is a tender expression of tragedy and sorrow, and here it is almost only whispered by the orchestra as well as by Gidon Kremer. At the very end, a direct quotation from Chopin’s first ballad is heard on the piano. The sadness of the first movement gives way to a chaotic, hectic Allegro molto, which leads into a powerful Largo. It quickly calms down, to feature weird solos (e.g. from the double bass), klezmer as well as a wild circus episodes that brings grotesque colours into the almost surreal music. It becomes even more ironic in the 5th movement, an Andantino.The long finale begins with the sounds of bells. The music is rough and seems distorted. Brutal accents contrast with tender, dying sounds. Conductor Grazinyte-Tyla is singing the soprano part herself. It is a wordless song of great purity, not a lament, but rather a song of inner confusion as a reaction to the incomprehensible. And then, like a reminiscence, the Chopin quote reappears, woven into dark string sounds. A harmonium plays softly, the solo violin plays again. The voice, now hysterical, brings a powerful answer from the orchestra, until the sound silently fades away. This is totally moving, like the rest of this symphony, which, in this recording, whose suggestive power is overwhelming.

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