Im Sommer 2021, kurz ehe er in Leipzig sein Amt als Thomaskantor antrat, dirigierte der Schweizer Andreas Reize auf Schloss Waldegg in der Nähe von Solothurn Monteverdis L’Incoronazione di Poppea in einer anhand der Urfassung erarbeiteten eigenen Fassung, die Reize auf Basis von Clifford Barletts Edition und mit Hilfe des Manuskripts der Neapel-Aufführung zusammengestellt hat. René Brinkmann hat sich mit dem Dirigenten über dieses Projekt aber auch über seine aktuelle Arbeit mit den Thomanern unterhalten.

Andreas Reize

Herr Reize, Monteverdi gilt als einer der frühesten Opernkomponisten, nicht wenige sehen in ihm wenn schon nicht den eigentlichen Erfinder, so doch den ersten Vollender dieses Genres. Dabei ist es interessant zu sehen, wie der Komponist eine Art musikalisches Doppelleben führte, bei dem er als Kapellmeister des Markusdoms geistliche Werke aufführte und komponierte, parallel dazu aber weltliche Vokalstile wie die Oper vorantrieb. Hat ihm die geistliche Musik nicht genügend Möglichkeiten gegeben, sich kompositorisch auszuleben oder hat Monteverdi sich durch die säkulare Musik vor allem eine zweite Einnahmequelle sichern wollen?
Da muss ich sagen, das stimmt so nicht. Damals war ja die Kirchenmusik gar nicht getrennt von der weltlichen Musik. In Mantua zum Beispiel war Monteverdi für alles zuständig – Schütz ja auch, in Dresden. Nur sind in Bezug auf Schütz die weltlichen Sachen nicht überliefert. Aber das weltliche und geistliche Musizieren wurde damals von den Ausübenden nicht getrennt. So haben die Stadtpfeiffer in Leipzig an den verschiedensten Orten gespielt: Turmblasen, an Hochzeiten oder eben auch in den Kirchen. Johann Kuhnau hat ja auch Opern geschrieben und war dann Thomaskantor. Damals gab es die Trennung von Oper, vom weltlichen und geistlichen Leben viel weniger, als man das heute so sieht. Und ich bin das beste lebende Beispiel, ich mache ja auch Oper und geistliche Musik. In San Marco war Monteverdi Kapellmeister, und daneben gab es die Oper. In den Jahren 1641 und 1642 war der 30-jährige Krieg. Da herrschte Spardruck ohne Ende, oft nur mit Violinen besetzt aber immer eine dicke Continuo-Band. Deshalb habe ich bei unserer Aufnahme auf die Zinken verzichtet. Ich habe nur die Flöten dabei als Farbe.
Das war also kein Doppelleben Monteverdis, das war völlig normal für die damalige Zeit, gerade für  katholische Regionen. Während des Karnevals in Venedig hat man Oper gespielt. Da war Monteverdi dabei, denn was in der Fastenzeit verboten ist, hat man da quasi vorgeholt.

Ich finde es erstaunlich, dass ein Komponist, der sich schließlich sogar zum Priester weihen ließ, auch in der Oper betätigte. Schließlich war das Operngenre in Monteverdis Zeit nicht unumstritten und galt manchem – gerade auch manchem klerikalen – Zeitgenossen als suspekt, sollte zeitweise sogar verboten werden. Stand Monteverdi da nicht in einem Interessenskonflikt mit der Kirche?
Nein. Da muss man sich nur die Klöster angucken: Die Jesuiten waren der Orden, der Theater gemacht hat. Wir waren jetzt mit dem Thomanerchor in Ochsenhausen – gut, das ist jetzt ein bisschen später, aber die Jesuiten hatten in Ochsenhausen ein Theater gebaut. Die Jesuiten in Solothurn, wo ich herkomme, hatten zwei Theater, und die haben Theater gemacht, das war Teil der Ausbildung. Das waren zum Teil natürlich geistliche Theater, aber nicht nur – die haben ganz normale Opern gespielt. Wir kennen den Spielplan zum Beispiel von Solothurn, da wurde zum Beispiel viel französische Musik gespielt. Suspekt war das damals vermutlich nur sehr konservativen klerikalen Kreisen.

Während Monteverdis L’Orfeo bereits in den 1920er-Jahren wiederentdeckt und wieder aufgeführt wurde, scheint es bei L’incoronazione di Poppea länger gedauert zu haben, und im Wesentlichen scheint die moderne Rezeption der Oper erst in den Nachkriegsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt zu haben. Wieso hat man sich für die Poppea erst so spät wieder interessiert?
Das hat mit der Überlieferung und der Quellenlage zu tun. Bei Orfeo haben wir zwei Drucke von 1609 und 1614 – in Mantua gedruckt. Und Poppea und Odyssee, die mittlere Oper, sind uns nur per Handschriften aus zweiter Hand überliefert, das heißt viel weniger präzise, viel spekulativer.

Ein Kernproblem bei dieser Oper ist, dass es keine Urfassung gibt, von der man sicher sagen könnte, dass die gesamte Musik von Monteverdi stammt und die vor allem vollständig wäre. Stattdessen sind zwei Handschriften erhalten: die sogenannte Venedig-Fassung und die Neapel-Fassung. Was unterscheidet beide Versionen?
Eine Menge! Einerseits natürlich sprachlich: In Neapel haben wir zum Teil fast ein bisschen Slang im Italienischen, wo selbst Italiener noch heute sagen, dass sie das gar nicht richtig übersetzen können. In Neapel sind die Ritornelle vierstimmig, während sie in Venedig nur dreistimmig sind. Wir haben also noch die Bratsche dabei bei der Neapel-Fassung. Die große Krönungsszene kommt zum Beispiel nur in der Neapel-Fassung vor – weshalb viele Dirigenten dann eben eine Mischfassung machen. Darauf haben wir verzichtet, wir spielen wirklich Neapel. Diese Fassung gibt es ja so nicht als Edition, die haben wir selbst rekonstruiert. Und da gibt es natürlich einige Nummern, die ganz offensichtlich bei der Neapel-Fassung nicht von Monteverdi stammen, sondern aus der Werkstatt Monteverdi. Aber das ist bei der Venedig-Fassung auch so. Man muss sich das vorstellen wie bei Michelangelo oder einem anderen großen Maler, der eine Werkstatt gehabt hat. Bach hat ja auch seine Kopisten gehabt, die zum Teil Stücke zu Ende geführt haben.

Sie haben sich mit ihrer neuen Aufnahme also dieser Neapel-Fassung angenommen und haben erstmals eine Einspielung vorgelegt, die für sich in Anspruch nimmt, eine Gesamtaufnahme dieser Fassung zu sein. Dazu zwei Fragen: Warum haben Sie sich für Ihre Aufführung und die anschließende Aufnahme für die Neapel-Fassung entschieden und welche Herausforderungen gingen damit einher?
Ich habe mich für die Neapel-Fassung entschieden, weil ich das sehr spannend fand, dass die noch nie vollständig aufgeführt und vor allem noch nie aufgenommen worden ist. Die Venedig-Fassung hingegen wird sehr oft gespielt, oder sehr häufig auch eine Mischfassung. Und ich bin nie ein Fan von Mischfassungen. Wenn es zwei Fassungen gibt, dann gehe ich immer quasi ‘ad fontes’ – zu den Quellen. Und ich habe mir beide Handschriften kommen lassen, sie studiert und gedacht, die Neapel-Fassung wäre eine tolle Herausforderung. Ich bin immer ein Dirigent, der Herausforderungen sucht. Also habe ich mich musikwissenschaftlich sehr intensiv damit befasst, und weil die Neapel-Fassung so noch nicht grundsätzlich erforscht war, habe ich mir das Ziel gesteckt, diese Fassung zu machen. Die Umsetzung war so, dass wir zwei Orchester aufgebaut haben, eine rechte und eine linke Orchester-Insel. Und dann haben jeweils die Sängerinnen und Sänger so gesungen: also für diesen Dialog, diesen Stereoeffekt quasi. Und ich habe die Instrumente den betreffenden Charakteren zugeordnet, zum Beispiel bekommt die Poppea immer die Harfe; wenn die Harfe erklingt, dann ist Poppea da. Oder Nero hatte immer beide Seiten: Also Nero als Herrscher wird von beiden Orchestern quasi umsäuselt, weil er ja wirklich die zentrale Figur sein will – oder das Gefühl hat, er ist es. Und die niederen Personen haben jeweils nur ein Cembalo. Da habe ich wirklich sehr mit den Instrumentierungen und den Charakteren und der Position der Personen gespielt.
Für unseren Notentext habe ich also das Manuskript genommen, die Edition von Clifford Bartlett – Elaine Bartlett, seine Frau, hat uns die zur Verfügung gestellt, da Clifford leider gestorben ist. Und Brian Clark, ein ehemaliger Mitarbeiter von Clifford Bartlett, hat uns die Ritornelle und Übergänge, neu gesetzt. Aber die Edition gibt es so nicht. Die müsste man noch machen, es fehlt mir dazu aber an der Zeit.
Aber die Neapel-Fassung ist in der Zeit ihrer Entstehung so nie gespielt worden. An vielen Stellen funktioniert sie gar nicht, weil einfach Fehler drin sind, offensichtliche Fehler. Die haben wir entsprechend korrigiert.

Andreas Reize
(c) Remo Buess

Sie haben die Oper in Schloss Waldegg auch live auf die Bühne gebracht, und das Bühnenensemble war, wenn ich das richtig verstanden habe, gleichzeitig auch das Ensemble, das die Albumeinspielung vorgenommen hat. Welche Vorteile bietet es aus Ihrer Sicht, wenn die Sängerinnen und Sänger das Stück schon szenisch im Kopf haben, bevor sie sich in die Aufnahmesituation begeben?
Die Szene ist immer eine Herausforderung für die Sänger, um mit der Rolle – ich sage es mal provokativ – zurechtzukommen, um sich in eine Rolle hinein zu leben. Pia Davila spielt die Poppea: Sie muss da wirklich voll aufgehen und hat das extrem verinnerlicht. Das bedeutet, das ist wirklich tief drin, und wenn wir das aufnehmen, habe ich das Gefühl, es kommt viel unmittelbarer, weil die ganzen Szenen im Kopf mitschwingen und sich das auf die Musik überträgt.
Bei den Aufnahmen hatten wir dann jeweils viel Spaß, weil uns eine bestimmte Szene, eine lustige Szene, in den Sinn kam. Das war schon irgendwie toll, und alle haben genau gewusst, was Sache ist. Es wird also lebendiger. Und Singen ist eigentlich immer eine körperliche Sache. Man muss die Musik im Körper fühlen, sie muss wirklich im Körper sitzen.

Für die Aufführung und die Aufnahme haben Sie mit dem Cantus Firmus Consort zusammengearbeitet. Was verbindet Sie mit dem Ensemble?
Das Cantus Firmus Consort ist 2001 entstanden, es existiert also seit über 20 Jahren. Vor einem Jahr hatten wir Jubiläum. Es ist entstanden aus einer Konzertreihe, die ich 1998 gegründet habe. Damals war ich 23 und Kirchenmusiker an der Franziskanerkirche, und da haben wir einen wunderschönen Bilderzyklus von Jörg Mollet, der heißt Cantus firmus. Diese Bilder hängen wie ein Cantus firmus in der Kirche drin. Das hat mich ungemein inspiriert und so haben wir 1998 mit einer Konzertreihe begonnen, und daraus ist das eigene Ensemble entstanden. Seither ist das eine tolle Entwicklung: Nächstes Jahr machen wir Platée von Rameau. Und dann planen wir einen Rameau-Zyklus in den nächsten Jahren.

Einmal ganz allgemein gesprochen: Wenn Sie dirigieren, macht es für Ihre Interpretationen einen Unterschied, ob Sie sich auf ein Livekonzert vorbereiten oder ins Studio gehen? Oder anders gesagt: Lassen Sie einen Klangkörper in einer Studiosituation anders klingen als live? (Und wenn ja, warum?)
Ich glaube, ich bin extrem spontan, aber im Dirigat präzise. Wir studieren etwas ein, aber in der Aufführung lasse ich mich dann von meiner Inspiration leiten. Das Unmittelbare im Konzert, das Live-Musizieren, das ist schon etwas ganz Tolles. Deshalb sind Live-Aufnahmen auch so spannend. Bei Monteverdi waren wir so gut aufeinander eingespielt, dass wir in der Studioproduktion sehr spontan reagiert haben, gerade mit den Continuo-Leuten, die sehr viel improvisiert haben. Also was das Continuo macht, ist eigentlich Improvisation über einen ausgeschriebenen Bass, was ein spontanes Musizieren erfordert. Die Basslinie haben wir selbst beziffert, denn da gibt es in der Handschrift keine Bezifferung.

Ihr Amt als Thomaskantor haben Sie praktisch mitten in der Coronakrise mit all ihren Herausforderungen und Umwälzungen angetreten. Ich stelle mir vor: Man kommt mit Plänen, Ideen, die man gern mit den Thomanern umsetzen möchte, und dann wird man durch die Coronakrise ausgebremst. Was war das für eine Erfahrung?
Wir konnten in voller Stärke starten; bis zum Ewigkeitssonntag, Ende November 2021, haben wir eigentlich miteinander singen können, und dann wurden die Konzerte abgesagt. Aber wir haben ja trotzdem weiter gesungen, wenn auch zum Teil in sehr kleiner Besetzung. Wir haben sämtliche Motetten und Gottesdienste in der Thomaskirche gemacht, haben sogar den sechsten Teil des Weihnachtsoratoriums an Epiphanias mit acht Thomanern plus den Solisten gesungen. In kleiner Formation haben wir so jedes Wochenende gesungen, mal mit 8, mal mit 16 Sängern, das Gewandhausorchester auch kleiner besetzt, zum Teil sogar stehend, die Jungs vor dem Orchester an der Brüstung. Das war schon eine interessante Erfahrung, die ich so nie vergessen werde, weil so ein Anfang schon etwas Verrücktes und Belastendes ist. Ich würde mir das nicht wieder zurückwünschen. Das Singen geht eben nur in der Gemeinschaft miteinander. Und die Kleinen können das nur lernen, wenn sie Größere neben sich haben, und das war im letzten Jahr schwierig, weil eben nur die Solisten aus dem Thomanerchor gesungen haben. Wenn du nur ein oder zwei Soprane hast, die singen – je ein erster und zweiter Sopran –, dann muss es ein Solist sein, der das abliefert, da kannst du keinen Viertklässler hinstellen. Das bedeutet, denen fehlt später die Erfahrung. Aber sie sind heute trotzdem sehr gut, die vierte Klasse ist richtig toll jetzt.

Hat die Coronakrise Chöre eigentlich noch stärker betroffen als Orchester? Nachdem Studien gezeigt hatten, dass gerade beim Singen ein hoher Aerosolausstoß besteht, wurde Singen in der Coronakrise ja zu einer gefährlichen Angelegenheit erklärt. Was hatte das für praktische und vielleicht auch strukturelle Auswirkungen bei den Thomanern?
Mit Emanuel Scobel haben wir einen Geschäftsführer, der das sehr ernst nimmt. Wir haben die Jungs täglich getestet. Und wir testen jetzt immer am Montag, am Mittwoch und am Freitag, bevor wir mit dem Gewandhausorchester zusammenkommen. Auf unseren Konzertreisen, zum Beispiel in Schneeberg, in Wiesbaden und in Königslutter, da haben wir jeden Tag getestet. Wenn mal ein Junge positiv war, dann musste man organisieren, dass man ihn nach Hause bringt oder die Eltern kommen. Ich finde es für die Kinder eine Belastung, weil sie eigentlich keine Symptome haben. Und die Tests waren nicht immer zuverlässig: das ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Aber wir proben weiter, wir testen und wir proben. Und im Moment sehen wir alles noch positiv.
Seit dem dritten Adventswochenende haben wir beim Thomanerchor täglich online geprobt, bis zu den Ferien Anfang Februar, also zwei Monate. Die Proben haben wie zu den normalen Zeiten stattgefunden. Ein Teil, 8 oder 16 Jungs, waren jeweils bei uns im Probensaal, mit Abständen, und der Rest war zu Hause. Ich würde mal sagen, 95 Prozent haben jeden Tag mitgemacht, jeden Tag! Und ich war pädagogisch natürlich extrem gefordert. Ich habe immer versucht, gute Stimmung zu machen. Wir haben es anfangs mit zusätzlichen Mikrofonen versucht über Zoom, das war schrecklich. Die Zeit war schwierig, aber die Jungs haben eigentlich die ganze Matthäuspassion über Zoom gelernt – und die war top! Und ich bin dabei schon auch ein bisschen über meine eigenen Grenzen gegangen in der Zeit.

Was sind Ihre aktuellen Vorhaben mit dem Thomanerchor?
Ja, als nächstes kommt die h-Moll-Messe. Wir sind seit Ende August am Proben, und es ist erstaunlich, wie schnell wir das jetzt gelernt haben. Wir haben im Juni schon ein bisschen h-Moll-Messe gemacht. Und jetzt singen wir die ganze Messe in einigen Motetten und Gottesdiensten. Die Messe wird zweimal mit dem Gewandhausorchester aufgeführt. Das ist momentan der Fokus. Dazu haben zwei volle A-Cappella-Programme aufgeführt. Beim Schütz-Fest in Zeitz haben wir Schütz, Calvisius, Schein, Scheidt, Bach aufgeführt – Alte Musik mit kleiner Formation, das macht Riesenspaß! Und dann geht es natürlich schon in Richtung Weihnachten: Sobald die h-Moll-Messe vorbei ist, gehen wir nach Finnland mit 60 Jungs, 35 bleiben hier, lernen Weihnachtsoratorium, lernen Weihnachtsliederabend, und dann geht es Schlag auf Schlag. Also, wir sind alle froh, wenn wir am 25. Dezember sind, und werden alle glücklich sein, wenn ein paar ruhige Tage kommen.

Thomaskantor dirigierte eigene Fassung von Monteverdis L’Incoronazione di Poppea

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