Wenn das West Eastern Divan Orchestra in diesem Frühjahr auf Tournee geht, wird es nicht von dem erkrankten Daniel Barenboim geleitet, sondern von dem neunundzwanzigjährigen Thomas Guggeis. Und dieser ist alles andere als ein Newcomer. Unser Mitarbeiter Alain Steffen hat sich mit ihm unterhalten.

Thomas Guggeis
(c) Simon Pauly

Thomas Guggeis, Sie übernehmen kurzfristig für den erkrankten Daniel Barenboim die Tournee mit dem West Eastern Divan Orchestra, auf der Bedrich Smetanas Zyklus Mein Vaterland auf dem Programm steht. Wie bereitet man sich so kurzfristig auf eine solche Herausforderung vor?
Das ist natürlich eine große Verantwortung. Die Leute haben Daniel Barenboim erwartet und jetzt darf ich das Publikum nicht enttäuschen und  muss ein exzellentes Resultat liefern. Ich habe mich wirklich jetzt mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln in die Arbeit geworfen, habe die Partitur wieder und wieder studiert, am Schreibtisch wie mit den Musikern gearbeitet, mir Nächte um die Ohren geschlagen und mir natürlich auch einige Referenzaufnahmen angehört, insbesondere die legendäre Einspielung mit Vaclav Talich und der Tschechischen Philharmonie aus den Fünfzigerjahren.

Wie eng arbeiten Sie denn generell mit Daniel Barenboim zusammen?
Mit Maestro Barenboim arbeite ich schon 5 Jahre zusammen, wir kennen uns gut und konnten im Laufe der Jahre unsere Zusammenarbeit immer stärker intensivieren. Es ist ein sehr respektvoller Umgang, der auch seine Früchte trägt und mir persönlich hilft, mich weiterzuentwickeln. Darüber hinaus besteht ein reger Austausch in Sachen Interpretationsfragen; Barenboim ist ein Künstler, der die Musik sehr ernst nimmt und sie immer in ihrer Substanz verstehen und kommunizieren will. Auch jetzt haben wir lange und intensive Gespräche über dieses Werk geführt.

Wie schätzen Sie den vaterland-Zyklus ein und wie schwierig ist es, ihn zu dirigieren?
Es besteht aus sechs sehr unterschiedlichen Stücken. Neben der bekannten Moldau gibt es das episch angelegte Vysehrad, das dramatische Sarka, Aus Böhmnens Hain und Flur mit seiner wunderbar ländlichen Atmosphäre und abschließend Tabor und Blanik, die beide für zusammengehören und nachkomponierte Nationalgeschichte sind. Für mich ist es sehr wichtig, einerseits alle Stimmen sehr deutlich herauszuarbeiten, aber die Musik immer in diesem besonderen Volkston zu halten. Für das Orchester ist es übrigens keine leichte Sache. Mein Vaterland ist spieltechnisch äußerst schwierig, ja anstrengend und verlangt wirkliche Hingabe von den Musikern. Mit dem West Eastern Divan Orchestra steht ein tolles, junges Orchester auf der Bühne, das die Exzellenz der großen internationalen Klangkörper besitzt und über eine unwahrscheinliche Energie verfügt. Dazu kommt dieser humanistische Geist, dieses Miteinander und Füreinander, was dieses Orchester so besonders macht.

Wenn man wie Sie jetzt so kurzfristig einspringt, bleiben dann noch Zeit und Raum für eigene Interpretationsideen?
Ich hatte das große Glück, die Proben von Anfang an leiten zu können, natürlich immer im Austausch mit Daniel Barenboim. Somit hatte ich die Möglichkeit, mit dem Orchester ‘meine’ Interpretation intensiv zu erarbeiten. Es ist auch sehr schwierig, dieses Werk von jemandem andern zu übernehmen und quasi ‘nachzudirigieren’.  In allererster Linie ist es wichtig, den Zugang zu der Sprache des Komponisten, also zu der Sprache Bedrich Smetanas zu finden.

Ein erstes Mal sind Sie für den erkrankten Christoph von Dohnanyi bei einer Salome-Vorstellung eingesprungen. Wie war das damals für Sie?
Ja, das war am Anfang meiner Karriere und Salome ist nicht das einfachste Stück. Ich hatte das Werk studiert und war auch bei dieser Produktion der Assistent von Christoph von Dohnanyi gewesen. Ich muss aber sagen, dass damals die Musiker der Staatskapelle Berlin mich wunderbar unterstützt haben. Salome ist ein schwieriges Stück und eine echte Herausforderung für jeden Operndirigenten. Und ich hatte damals ja noch recht wenig Erfahrung. Aber wie gesagt, das Orchester hat mir sehr geholfen.

Thomas Guggeis
(c) Simon Pauly

Sie sind daraufhin zum Staatskapellmeister an der Staatsoper Unter den Linden ernannt worden. Was hat es mit dieser Bezeichnung auf sich?
Ich war zuerst Pianist und Assistent an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Dann bin ich als Kapellmeister nach Stuttgart gegangen, bis man mir in Berlin diesen Posten angeboten hat. Staatskapellmeister ist eine besondere Auszeichnung. Das Orchester vergibt den Titel nur an Dirigenten, mit denen es eine sehr enge, eine langjährige und eine gute Zusammenarbeit hegt.

In der Zwischenzeit aber sind Sie kein ungeschriebenes Blatt mehr in der Dirigentenlandschaft. Sie haben u.a. an der Staatsoper Wien, an der Semperoper in Dresden und in Stuttgart dirigiert. Zudem sind Sie designierter GMD der Oper Frankfurt ab der Spielzeit 23/24. Also eine Karriere, die eher in Richtung Oper läuft?
Ich habe in der Oper angefangen, aber ich versuche, eine gesunde Balance zu finden. Die Konzerttätigkeit interessiert mich sehr und ist auch sehr inspirierend. Neben meiner Tätigkeit als zukünftiger GMD in Frankfurt werde ich auf jeden Fall versuchen, regelmäßig mit Konzertorchestern zusammenzuarbeiten. In der Oper finden sich viele Kunstformen zusammen, und man hat eigentlich für sehr viel Musik relativ wenig Probenzeit zur Verfügung. In der Oper geht es vor allem um Balance und Begleitung der Sänger. Im Konzertbetrieb hat man dagegen verhältnismäßig viel Probenzeit. In diesem Repertoire kann man demnach viel besser am Feinschliff arbeiten. Das ist Detailarbeit. Und das ist etwas, was ich unbedingt machen will.

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