Ludwig van Beethovens ‘Missa Solemnis’ ist nicht nur eines seiner größten, sondern auch eines seiner schwierigsten Werke. Rhythmisch ist es nur schwer in den Griff zu bekommen, abgesehen von allen anderen interpretatorischen Anforderungen, die es an die Sänger, die Musiker und an den Dirigenten stellt. Der französische Dirigent Jérémie Rhorer betreut längst nicht nur die Barockszene, aber seine Lesart der ‘Missa Solemnis’ kam doch für mich eher überraschend. Ich hatte mich auf eine historisierende Fassung eingestellt und hörte bei diesem vierten Abend des Warschauer Beethoven-Festivals eine hoch dramatische, opulent-kraftvolle, tief geatmete Interpretation, die eher aus der Ecke Karajan II zu kommen schien. Was durchaus kein Fehler ist!

Rhorer imponierte in der Art, wie er sein großes Ensemble zusammenschweißte, alle Mitwirkenden mitsamt dem Publikum in seinen Bann zog und am Ende eine ‘Missa’ von absoluter Kohärenz und zwingender Geschlossenheit erreichte.

BF140409_4972

(c) Bruno Fidrych

Die Tempi schwankten zwischen Klempererscher Breite und Toscaninischer Fulminanz. Rhorer wies Pathos resolut von sich und suchte das ‘Solemnis’, das ‘Feierliche’ eher in klanglicher Opulenz und einem glühenden musikalischen Eifer.

In diesem Gesamtbild zeichnete sich – wie erwartet – der Philharmonische Chor aus Brünn (Brno) durch eine überragende Klangqualität aus. Das Philharmonische Orchester aus Poznań spielte engagiert, aber technisch nicht immer an allen Pulten einwandfrei.

Ein Plus der Aufführung war das homogene Solisten-Quartett. Die wunderbar reine und leuchtende Sopranstimme der jungen ukrainischen Sängerin Olena Tokar schwebte wie ein Fanal über dem Ensembleklang und war von berückender Wirkung. Eine lyrisch-warme und kommunikative Stimme, der man eine große Zukunft voraussagen kann.

Olena Tokar (l.) & Agnieszka Rehlis © Bruno Fidrych

Olena Tokar (l.) & Agnieszka Rehlis
© Bruno Fidrych

Marcus Schäfer (l.) & Johannes Weisser  © Bruno Fidrych

Markus Schäfer (l.) & Johannes Weisser
© Bruno Fidrych

Agnieszka Rehlis sang den Mezzopart beeindruckend, Johannes Weisser war ein imponierender Bass, während der Tenor Markus Schäfer seinen diffizilen Part direkt meisterhaft bewältigte. Die warme, wohlklingende und gut fokussierte Stimme schwang sich prächtig aus dem Ensemble auf und harmonierte in Sachen Dramatik mit der Auffassung des Dirigenten. Ausdrucksmäßig war Schäfer neben Olena Tokar sicherlich der Solist, der Beethovens Musik am freiesten und am überzeugendsten darstellte. Hier kam, wie generell in dieser herausragenden, von Rhorer mit strömender Dramatik geleiteten Aufführung, viel richtiges und wahrhaftiges Gefühl zum Ausdruck.                                                                                                          Remy Franck

Jérémie Rhorer (c) Bruno Fidrych

Jérémie Rhorer
(c) Bruno Fidrych

  • Pizzicato

  • Archives