Karol Rathaus: Klaviersonaten Nr. 1 op. 2 & Nr. 3 op. 20; Dmitri Shostakovich: Klaviersonaten Nr. 1 op. 12 & Nr. 2 op. 61; Vladimir Stoupel, Klavier; 2 CDs Cavi 8553481; Aufnahmen 2013/2014, Veröffentlichung 18/09/2020 (104'10) - Rezension von Remy Franck

Karol Rathaus wurde am 16. September 1895 in polnischen Tarnopol geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Er starb am 21. November 1954 in New York. Studiert hatte er bei Franz Schreker in Berlin und bekleidete dort in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Position eines Lehrers für Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik. Erste Werke folgten, mit denen er für Furore sorgte und große Erfolge feierte. Im Jahre 1932 ging er nach Paris in die Emigration; später begab er sich nach London, bevor er sich in New York endgültig niederließ. Dort trat er eine Professur für Komposition am Queens College an; in dieser Stellung brachte er es zu Ansehen und Beliebtheit. Darüber hinaus war er auch weiterhin als Komponist sehr produktiv. Territorial gesehen ist er schwer festzulegen. Sein erster Biograph hatte schon die Frage aufgeworfen, ob Rathaus denn nun Pole sei, Amerikaner oder Jude.

Rathaus’ Tonsprache mischt das Traditionelle mit radikaler Modernität. Einzelne Kritiker feierten ihn, ehe er 1932 ins Exil ging, als eine der größten Hoffnungen des 20. Jahrhunderts. Andere zerrissen seine Werke, und auch das Publikum stand ihnen meist ablehnend gegenüber. Doch die expressive Musik sollte eigentlich heute besser bekannt sein.

Die erste Klaviersonate wurde zwar schon aufgenommen, aber die Aufnahme mit Vladimir Stoupel scheint mir auf Anhieb die beste von denen zu sein, die derzeit erhältlich sind. Die noch spätromantisch einzuordnende Sonate spielt der Pianist mit viel Intensität und Ausdruckskraft. Besonders faszinierend ist das Lento con espressione, in dem Stoupel einen sehr hohen Grad an Verinnerlichung erreicht, die sein Spiel sehr bewegend werden lässt. Das sind rund 10 Minuten mit einem packenden, tief berührenden Klavierspiel. Mit ähnlich glutvollem Ausdruck und zuzüglich stupender Virtuosität spielt Vladimir Stoupel die Dritte Sonate, deren klangliche Nähe zu Scriabin der Pianist in seinem Booklettext herausstreicht.

Auf der zweiten CD dieses Albums bewährt sich Stoupel als hoch virtuoser Interpret in den beiden Shostakovich-Sonaten. Die einsätzige erste Sonate ist sehr effektvoll, mit Kontrasten, die der Pianist  maximal leidenschaftlich ausleuchtet.

Die gegenüber ihrer Vorgängerin weit weniger effektvolle Zweite Sonate braucht einen phantasievollen Interpreten, um wirkungsvoll zu erklingen. Stoupel hat das gestalterische Talent und die Fähigkeit, das Werk in seinen langsamen wie in seinen virtuosen Teilen instinktiv richtig erklingen zu lassen. Da wirkt nichts konstruiert oder intellektuell verbrämt. Stoupel hat diese phänomenale Ausdruckskraft und jene Sicherheit des Akzentes, der über ganze Perioden Licht und Schatten verteilt und den Hörer zum Miterleben zwingt.

Karol Rathaus was born in 1895 in Polish Tarnopol, which at that time belonged to the Austrian-Hungarian Empire. He died on 21 November 1954 in New York. He had studied with Franz Schreker in Berlin and held the position of teacher of composition and music theory at the Hochschule für Musik in the 1920s. First works followed, with which he had a great success. In 1932 he emigrated to Paris; later he went to London before he settled down in New York. There he became professor for composition at the ‘Queens College’; in this position he became famous and popular. In addition, he continued to be very productive as a composer. Territorially speaking, he is difficult to define. His first biographer had already raised the question of whether City Hall was Polish, American or Jewish.
Rathaus’ musical language mixes the traditional with radical modernity. Some critics celebrated him, before he went into exile in 1932, as one of the greatest hopes of the 20th century. Others tore his works apart, and the public was also mostly hostile to them. But the expressive music should actually be better known today.
The first piano sonata has already been recorded, but the recording with Vladimir Stoupel seems to me to be the best of those currently available. The pianist plays the sonata, which can still be classified as late romantic, with great intensity and expressiveness. Especially fascinating is the Lento con espressione, in which Stoupel’s playing is very introverted. That is about 10 minutes of a gripping, deeply touching piano playing. The Third Sonata, whose tonal proximity to Scriabin the pianist emphasises in his booklet text is performed with a similarly glowing expression and, in addition, stupendous virtuosity.
On the second CD of this album, Stoupel proves himself to be a highly virtuoso performer of both Shostakovich sonatas. The one-movement first sonata is very effective, with contrasts that the pianist illuminates with maximum passion.
The Second Sonata, which is far less effective than the first one, needs an imaginative interpreter to sound effectively. Stoupel has the creative talent and the ability to make the work instinctively sound right in both its slow and virtuoso parts. There is nothing constructed or intellectually tuned in this performance. Stoupel has this phenomenal expressiveness and that confidence of accentuation, which distributes light and shadow over entire periods and forces the listener to fully experience the music.

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