The Romantics. Werke von Schubert, Berlioz, Mendelssohn, Bruckner, Brahms, Dvorák, Tchaikovsky, Mahler und Elgar; Radio-Symphonieorchester Stuttgart des SWR, Sir Roger Norrington; 10 CDs Hänssler Classic 093.313; 2002-2010 (647')

Die einzelnen CDs dieser Box, die zu Sir Roger Norringtons 80 Geburtstag erscheint, wurden bei der Erstveröffentlichung im Pizzicato besprochen. Wir haben diese Rezensionen für diesen Beitrag zusammengestellt ohne sie inhaltlich zu verändern. Was Sie lesen sind also die Originaltexte aus den jeweiligen Heften von 2002-2011. Die Bewertungen lagen zwischen 2 Sternen und dem Supersonic. Der Box haben wir den Mittelwert von vier Sternen gegeben.

Franz Schubert: Symphonie Nr. 9 ‘Die Große’ D 944 & Die Zauberharfe (Ouvertüre) – Rezension von Guy Wagner

Diese Interpretation von Schuberts C-Dur-Symphonie durch Sir Roger Norrington muss Widerspruch hervorrufen, denn sie geht einher mit einer regelrechten ‘Entweihung des symphonischen Hauses’. Mit wie viel Gefühl voll gestopft hat man dieses Werk schon gehört, was hat man nicht alles über seine ‘himmlischen Längen’ gelesen, und urplötzlich erklingt seine Musik dann neu und unverbraucht, eher noch, unbelastet von den zahlreichen Aufführungspraxen.

Das beginnt bereits mit der Wucht, ja Brutalität der Einleitung, bis die Holzbläser für Melodisches sorgen, ohne jene Sentimentalität, dafür aber mit einer glasklaren Artikulierung. Danach immer wieder die brutalen Einbrüche des Blechs, und Schockwirkung ist angesagt beim Übergang zum ‘Allegro ma non troppo’, den ich noch selten so furios gehört habe. Gut, die drängende Schnelligkeit, mit der Norrington über die Längen, die ‘himmlischen’, hinweg fegt, um nur ja keine ‘Rosamunde’-Seligkeit aufkommen zu lassen, ist für den einen irritierend, für den anderen faszinierend. Ich muss sagen, mich hat diese Auseinandersetzung regelrecht aufgewühlt, zumal die instrumentale Leistung bravourös ist.

Völlig gegen den Strich kämmt der Dirigent dann das ‘Andante con moto’, setzt auch hier ganz auf Kontraste und fordert Einsätze von radikaler Präzision. Verblüffend ist, wie willig und gekonnt die Musiker seinen Anweisungen folgen, und wenn dann Lyrismus angesagt ist, klingt dieser so natürlich und fein, manchmal auch leicht ironisch angehaucht, dass die Musik in neuem Lichte erscheint: Schubert wird zu dem, der Beethovens Gedanken zu Ende – und aus dem Ende einer großartigen Sackgasse – führt, und immer wieder neue Akzente und immer wieder dieses Drängen, diese unruhige Voranschreiten: Schubert ist der kompromisslose ewige Wanderer, der sich keine Minute Ruhe gönnt.

Das Scherzo und vor allem das fliegende Finale werden ebenso entschlossen durchleuchtet, entschlackt und genauso konsequent und unerbittlich durchgeführt, aber gerade dadurch wird ihre Binnenstruktur aufgerollt und erscheint als vollkommen evident.

Man kann sich einer solche Annäherung verweigern, vor allem, wenn einem verschiedene klassische Interpretationen, von Furtwängler bis Wand, von Tate bis Solti, vertraut sind. Man sollte es aber nicht tun. Gerade Norringtons radikale Deutung wird jene wachrütteln können, die ein zu einseitiges Schubert-Bild haben. Ist man allerdings bereit, sich mit dieser so ganz andersartigen Auslegung auseinander zu setzen, so erscheint sie nach und nach und immer stärker als unverzichtbar.

Bei seinen resoluten Tempi hat Sir Roger auch noch die Möglichkeit, eine zehnminütige, völlig entschlackte und feinsinnige ‘Zauberharfen’-Ouvertüre auf der CD unterzubringen, und auch diese Live-Aufnahme ist exemplarisch mit ihrer spannungsgeladenen Atmosphäre eingefangen und rechtfertigt ebenfalls den Obertitel der Reihe: ‘Faszination Musik’.

Hector Berlioz: Symphonie fantastique & ‘Les francs-juges’, Ouvertüre – Rezension von Remy Franck

Als Roger Norrington vor etlichen Jahren bei EMI die ‘Symphonie Fantastique’ mit den ‘London Classical Players’ veröffentlichte, war ich nicht besonders angetan vom Resultat. Jetzt kehrt der Maestro mit dem SWR Orchester zu demselben Werk zurück und spielt es mit modernen Instrumenten, aber im Geiste der historischen Aufführungspraxis. Die immer noch sehr direkte und visuelle Umsetzung der Partitur, die Abwesenheit des Träumerischen, der Ekstase und des Fiebrigen gehen immer noch auf Kosten der Klanglichkeit  und stehen im Gegensatz zu dem, was der Komponist über sein Werk schrieb. Die ‘Marche au Supplice’ etwa wird in einem sehr behäbigen Tempo genommen und suggeriert keineswegs die ‘terribles cauchemars’ und die sonorités macabres et féroces’, von denen Berlioz schrieb.

So ist denn diese ‘Fantastique’ – wie übrigens auch die Ouvertüre ‘Les Francs-Juges’ – etwas blutarm und leidenschaftslos. Kein Gewinn für die Diskographie!

Felix Mendelsohn Bartholdy: Symphonie Nr. 3 (Schottische) & Symphonie Nr. 4 (Italienische) – Rezension von Remy Franck

Roger Norrington hat die Mendelssohn-Symphonien bereits mit den heute nicht mehr existierenden ‘London Classical Players’ aufgenommen und liefert sie jetzt in Neuaufnahmen mit einem traditionellen Symphonieorchester. Das Resultat ist erstaunlich: auch mit dem SWR-Orchester, also ohne historischen Instrumente, klingt der Mendelssohn sehr historisch. Daran ist wohl in erster Linie das vibratofreie Spiel der Streicher schuld, aber natürlich auch Artikulation und eine Balance, für die Norrington halt ein sehr gutes Ohr hat.

Die Darbietungen der Symphonien sind pulsierend, farbig, elegant und von einem hoch musikalischen Esprit. (…) Auf der zweiten CD gefällt mir die ausdrucksstarke Schottische besonders gut, während die Vierte letztlich dann doch jener Virtuosität und Leichtigkeit entbehrt, die sie in die Spitzenkategorie heben würde.

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4, Romantische (Urfassung 1874) – Rezension von Remy Franck

Roger Norrington schaut so ironisch und spöttisch auf dem Cover-Photo, dass man gleich weiß: Aha, der Herr General haben wieder etwas ganz Spezielles vor. Tatsächlich: Er dirigiert die Erstfassung von Bruckners Vierter Symphonie so schnell, dass man nur staunen kann. Er braucht immerhin 10 Minuten weniger als die von uns vor nicht allzu langer Zeit besprochene Einspielung von Simone Young mit den Philharmonikern Hamburg bei Oehms Classics. Wo die amerikanische Dirigentin die Radikalität des modernen Bruckner mit forschem Musizieren unterstreicht, geht Norrington kontrastreicher vor, akzeleriert hier, bremst dort, wechselt von Verspieltheit zu Introspektion. Das mag über weite Strecken so leicht und schwungvoll und vielleicht weniger nach Bruckner klingen als man es sich gemeinhin vorstellt, aber es ist nicht weniger interessant. Young ist konsequenter in der Durchführung, für sie ist der große Atem wichtig, sie baut auf eine Rhetorik der großen, weiten Spannung, wo Norrington mehr die kleinen Inseln pflegt, an denen er im großen Bruckner-Fluss vorbeischwimmt und immer wieder in Stromschnellen gerät, die dann auch den erheblichen Zeitunterschied ausmachen. So wirkt Bruckners Vierte doch sehr bizarr, aber durchgehend vital und letztlich sehr ansprechend. Als Alternativaufnahme ist sie wertvoll und gehört in jede gute Bruckner-Sammlung.

Johannes Brahms: Symphonie Nr. 3 & Symphonie Nr. 4 – Rezension von Remy Franck

So stelle ich mir Brahms nun aber auch gar nicht vor, so detailverliebt, so …narzisstisch, so unausgegoren, so völlig ohne Linie, so wenig zielbewusst. Da geht es nicht einmal um Vibrato oder kein Vibrato, es geht vor allem um eine Auffassung. Norrington spielt keinen Brahms, sondern er spielt mit Brahms. Gut, er ist in den Tempi nicht mehr so extrem wie in seinen Einspielungen mit den London Classical Players, aber den richtigen Atem für diese Symphonien hat er immer noch nicht!

Antonín Dvořák: Symphonie Nr. 9 (Aus der Neuen Welt) & Carnival (Ouvertüre) – Rezension von Guy Engels

Kolumbus hat Amerika entdeckt, obwohl er der Meinung war, auf dem Seeweg nach Indien zu sein. Auf seiner Forschungsreise zur 9. Symphonie, der ‘amerikanischen Symphonie’ von Antonin Dvorak, ist Roger Norrington wohl auch etwas vom Kurs abgekommen. Die Rezepte der historischen Aufführungspraxis greifen eben nicht immer, und Dvoraks Musik verträgt sie eigentlich überhaupt nicht. Wenigstens das hat uns Sir Roger deutlich vor Ohren geführt, besonders im 1. Satz der Symphonie. Seine angenehm zügigen Tempi und den süffigen Klang unterbricht er wiederholt mit sehr phantasievollen Rubati, die nur Unruhe ins Geschehen bringen und die natürliche Dramaturgie dieser Musik unterbinden.

Glücklicherweise gibt Norrington sein Experimentiergehabe im Folgenden auf. Das Largo ist von traumhafter Innigkeit und bezaubert durch die vermittelte Gedankenverlorenheit, das Scherzo ist lebhaft, schwungvoll und heiter.

Am Ende bleiben dennoch ein Zwiespalt und die Überzeugung, in der Oktober-Nummer von Pizzicato eine weitaus bessere Neunte von Dvorak (Bertrand de Billy) vorgestellt zu haben.

Peter Tchaikovsky: Symphonie Nr. 6 (Pathétique) & Der Nussknacker (Balletsuite) – Rezension von Remy Franck

(…) Bei aller musikalischen Kraft wird man aber den Eindruck nicht los, dass Norrington sich fürs Seelenleben des Komponisten nicht  interessiert, die Tragik, die hinter den Noten steht, nicht wirklich hörbar macht.

Ich hatte Norrington in einem Gespräch versprochen, mich ehrlich mit seinem ‘Pure Sound’ auseinandersetzen, und in der Symphonie kann ich wirklich damit leben (ohne das vibratolose Spiel der Streicher wirklich sinnvoll und vor allem besser zu finden als jenes mit Vibrato). In der Nussknacker-Suite halte ich den ‘Pure Sound’ jedoch für unangebracht. Ballett ist bei Tchaikovsky opulente Musik und zu Opulenz gehört auch die Pracht des Streichklanges, die ohne Vibrato nicht zu erzielen ist. Die frischen Farben und das prägnante, rhythmisch tadellos einstudierte Spiel des Orchesters kann an diesem Eindruck nichts ändern.

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 1 (mit « Blumine »-Satz) – Rezension von Remy Franck

Ehrlich gesagt: Roger Norrington hatte ich mit Mahler nicht unbedingt auf CD erwartet. Aber der Maestro wollte eben doch Mahler mit ‘reinem’ (=vibratolosem) Klang auf Tonträgern dokumentieren. Hier ist er also und als Auftakt gibt es die Erste Symphonie, mitsamt dem Blumine-Satz aus der Originalfassung. Nun ist der Anspruch, Mahler vibratolos zu spielen, so wie Mahler seine Werke selber hörte, nicht das einzige Element einer Interpretation. Jedoch hat Norrington an anderen Gestaltungsmöglichkeiten nicht außergewöhnlich viel zu bieten. Seine Lektüre ist zwar spannungsvoll, aber jedenfalls nicht von der Glut gezeichnet, die sie in einen Spitzenrang heben könnte. Es fehlt ihr die Größe einer wirklich überragenden Mahler-Deutung und so ist sie, trotz ‘reinem Klang’ eher im Mittelfeld einzustufen.

Gustav Mahler:  Symphonie Nr. 4 (Solistin: Anu Komsi, Sopran) – Rezension von Remy Franck

Roger Norrington ist immer da, wo man ihn nicht erwartet, etwa mit ungewohnten Akzenten, während er Stellen, die andere betonen, unterspielt. Die Tempi sind eher unüblich, sehr schnell im ersten und im zweiten Satz – schneller vielleicht, als Mahler es wollte, als er ‘Nicht eilen’ auf die Partitur schrieb -, während der dritte Satz doch stark gedehnt wird, aber immer wieder kontrastreich aufflackert. So kommt eine sehr spontane Vierte zustande, mit der weitgehend unbeschwerten Welt der Kindheit (erster Satz), dem spukhaften Scherzo, in dem laut Norringtons interessantem Booklet-Text der Tod die Fiedel spielt. Den dritten Satz bezeichnet der Dirigent als Kindertotenlied und entsprechend schmerzvoll (und ergreifend) gestaltet er ihn. Die Humoreske treibt er dann wieder zum Summum in dem himmlisch verspielten Finale.

Mahlers Orchestrierung dieser Vierten kommt Norringtons Wille, die Grammatik der historischen Aufführungspraxis ins moderne Symphonieorchester transplantieren, sehr entgegen, und er erzielt eine faszinierende Durchhörbarkeit!

Die Finnin Anu Komsi passt sich Norringtons Vision an und tut mit dem Dirigenten zusammen alles, damit wir uns am Ende der Symphonie, am Ende einer Traumreise durch Hölle und Himmel viele Fragen stellen. Was war denn nun Realität, was Traum, was Freude, was Schmerz? Und wieso können wir jetzt schon (im Juni 2006) eine CD hören, deren Aufnahme laut Booklet-Angabe erst im September 2006 entsteht? Mahler als totales Märchen?

Edward Elgar: Enigma Variations, In the South (Alassio), Introduction and Allegro – Rezension von Remy Franck

Stimmungsvoller kann man Edward Elgars fast 23 Minuten lange Konzertouvertüre (Tondichtung wäre ein treffenderer Titel) nicht dirigieren: Das nach einer Italienreise geschriebene ‘In the South’ ist keine billige musikalische Postkarte, sondern eine überlegt ausgearbeitete Klangreise an die Riviera, deren Musik die südliche Luft atmet, mit schwungvollen Rhythmen sowie tief empfundener Erinnerung an Ruhe und sonnengetränkte Landschaften.

Anspruchsvoll gestaltet und spannungsvoll dirigiert erklingt ‘Introduction and Allegro’ für Streichquartett und Streichorchester,

Doch das eigentliche Ereignis der CD ist die Wiedergabe der ‘Enigma Variations’. Zwar möchte ich sie in opulenteren, klanglich blühenderen Interpretationen nicht missen, aber diese schlanke und ungemein reflektiv gespielte Version führt zu einer Neubetrachtung des Elgarschen Meisterwerkes. Norrington erreicht das nicht nur durch seinen ‘Pure Sound’, durch vibratolos spielende Streicher, sondern durch den mysteriös-nachdenklichen Touch der Musik, welche, so gespielt, eine innere Liaison des Komponisten zu seinen enigmatischen Musikporträts aufzeigt, die bei anderem Dirigenten in dieser Form nicht spürbar wird. Eine herausragende Deutung!

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