Das 'Royal Stockholm Philharmonic Orchestra' ist auf Tournee. Alain Steffen hat sich mit dem Chefdirigenten Sakari Oramo unterhalten.

Sakari Oramo
(c) B. Ealovegae

Auf ihrer Tournee mit dem ‘Royal Stockholm Philharmonic Orchestra’ spielen Sie drei sehr unterschiedliche Werke des 20. und 21. Jahrhunderts: Andres Hillborgs ‘Exquisite corpses’, das Violinkonzert von Jean Sibelius und die 5. Symphonie von Serge Prokofiev. Ehe wir auf die Werke zu sprechen zu kommen, die Frage wie wichtig gerade heute Tourneen für ein Symphonieorchester sind.
Extrem wichtig! Einerseits können wir uns mit der internationalen Konkurrenz messen – obwohl man im Bereich der Kunst nicht von Konkurrenz sprechen soll – und in den besten Sälen spielen, andererseits ist eine Tournee ein sehr wichtiges Training für das Orchester selbst. Sie fördert die Dynamik und die Flexibilität, aber auch den Geist des Orchesters als Ganzes. Man muss sich schnell an neue Gegebenheiten, z.B. neue Akustikverhältnisse anpassen, man lernt aber auch, mit Stresssituationen umzugehen und sich eine gewisse Abgeklärtheit anzueignen. Denn nur wenn die Musiker trotz allen äußeren Einflüssen mental in einer guten Verfassung sind, können sie auch ein gutes Konzert spielen. Künstlerisch ist es natürlich besonders für ein schwedisches Orchester, was ja nur selten in der Mitte Europas spielt, wertvoll und wichtig, zu zeigen, was es kann. Das ‘Royal Stockholm Philharmonic Orchestra’ hat zwar eine sehr lange Tradition mit großartigen Chefdirigenten, aber international ist es noch nicht sattelfest. Obwohl es die Qualitäten dafür hat!

Warum werden die nordischen Orchester eigentlich so oft vom internationalen Musikgeschehen abgeschnitten?
Eine gute Frage, die schwierig zu beantworten ist. Es ist aber eine Tatsache, dass schwedische und auch andere nordische Orchester nur sehr selten in das gesamteuropäische Musikgeschehen miteinbezogen werden. Obwohl ich momentan allerdings eine Öffnung spüre, so dass diese Tournee jetzt gerade recht kommt. Vielleicht liegt es auch am Repertoire. Orchester definieren sich ja oft durch ihre Komponisten. Und in den skandinavischen Ländern gibt es nun mal nicht so viele, die einem größeren Publikum bekannt sind. Sicher, wir haben einen Sibelius, einen Grieg, einen Nielsen, aber dann sind wir schon fast am Ende.

Was können Sie uns über das rezente Werk ‘Exquisite corpse’ von Andres Hillborg sagen?
‘Exquisite corpse’ basiert ‘ auf der 7. Symphonie von Jean Sibelius. Dies wird aber erst zum Schluss deutlich und nur von dem Zuhörer erkannt, der die Sibelius-Symphonie auch kennt. Rein musikalisch ist es ein Stück, das auf sehr breiten Akkorden basiert; die Harmonie hat sehr viel Raum mit viel rhythmischer Energie. Und da merkt man sehr deutlich, dass Hillborg früher Rockmusik gemacht hat. Er hat einen besonderen Sinn für Klangfarben und Klangfarbenmischungen. Es gibt viel Schlagzeug, jede Streicherstimme wird mehrmals gesplittet und die Holzbläser werden sehr virtuos behandelt. Es gibt sehr schnelle und bissige Rhythmen und Figuren. Es ist Musik, die nicht melodisch ist, aber auch nicht unmelodisch klingt. Eigentlich ist sie für den Zuhörer sehr leicht verständlich und versteht es, ihn auf eine spannende musikalische Reise mitzunehmen. Bei Hillborg merkt man, dass zeitgenössische Musik nicht trocken und intellektuell sein muss, sondern, dass sie durchaus Freude beim Zuhören bereiten kann.

Kann zeitgenössische Musik überhaupt kommerziell bestehen?
Nein, zeitgenössische Musik hat ohne öffentliche Unterstützung keine Chance. Wenn es diese Förderung nicht mehr gibt – und dahin gehen die Tendenzen – dann werden wir keine zeitgenössische Musik mehr hören können. Dann werden die Komponisten für die Schublade schreiben. Und das wäre das Ende der sogenannten klassischen Musik.

Wie steht es denn jetzt um die spielerische Qualität des RSPO?
Die ist hervorragend und ich kann das RSPO jetzt ohne Zögern auf internationalen Bühnen präsentieren. Das Orchester besitzt jetzt die Fähigkeit, ein sehr breites Repertoire auf allerhöchstem Niveau zu bedienen. Ich bin jetzt seit sieben Jahren in Stockholm, leite ebenfalls das ‘BBC Symphony Orchestra’ und war lange Zeit Chefdirigent in Birmingham und beim Finnischen Radiosymphonieorchester. Ich glaube sagen zu können, dass das RSPO in den letzten Jahren unheimlich gewachsen ist und sich in einer Topverfassung befindet.

Ist es heute allgemein schwierig, solche Orchester wie das RSPO im Vergleich zu den Eliteorchestern aus Berlin, Wien, Amsterdam, London, New York oder Chicago zu positionieren?
Da muss man unterscheiden. In Schweden sind wir sehr fest positioniert. International gibt es sehr viele Orchester gibt, die hervorragend sind und spieltechnisch problemlos auf dem Niveau der Berliner oder Wiener Philharmoniker mithalten können. Was dann vielleicht den kleinen Unterschied macht, ist die künstlerische Persönlichkeit und die lange Tradition solcher Orchester.

In wieweit beeinflussen äußere Umstände wie beispielsweise das allgemeine, zeitbezogene Wahrnehmen der klassischen Musik oder eben die perfekten Aufnahmen die Entwicklung eines Orchesters?
Aufnahmen sind natürlich sehr wichtig für ein Orchester, aber sie sind meistens ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann man ein Werk hier perfekt einfangen und alle Nuancen herausschälen und Fehler verbessern, allerdings ist eine CD-Aufnahme größtenteils das Produkt eines Toningenieurs und hat mit der musikalischen Realität nicht mehr viel zu tun. Das Publikum kommt dann oft mit falschen Vorstellungen ins Konzert. So wie auf einer CD klingt ein Orchester im Konzert sicherlich nicht. Was die allgemeine Wahrnehmung betrifft, so wird sie natürlich von bekannten Dirigenten und Solisten geprägt. Um sich durchzusetzen, muss ein Orchester ein solches Niveau erreicht haben, dass bekannte Dirigenten und Solisten gerne mit ihm musizieren. Und wenn man sich die lange Liste der Dirigenten anschaut, die das RSPO in den letzten Jahrzehnten dirigiert haben – von Bruno Walter über Furtwängler und Karajan bis hin zu Zubin Mehta und Lorin Maazel waren sie alle da – so zeugt das schon von der hervorragenden Qualität unseres Orchesters.

Der Dirigent Ferenc Fricsay hat einmal gesagt: « Falsche Noten zählen nicht“. Wie halten Sie es denn mit der Perfektion?
Was Fricsay gesagt hat, stimmt. Insbesondere, weil er immer den hundertprozentigen Ausdruck von seinen Musikern wollte. Perfektion ist etwas Langweiliges! Ich finde es weitaus interessanter, wenn Sachen passieren. Denn nur wenn man während eines Konzertes aktiv weiter nach einem Klang, einer Atmosphäre oder einer Phrase sucht, kann etwas passieren, was wiederum eine neue Reaktion auslöst. Eine Interpretation auf der Bühne muss sich bewegen, sie muss leben und darf nicht zu einer starren, unflexiblen Perfektion führen. Nur wenn wir bereit sind Risiken zu nehmen, kann sich etwas Ungeahntes entwickeln. Ich sage das auch immer meinen Musikern: « Ihr müsst Risiken eingehen, ihr müsst etwas wagen.“ Auch wenn es mal schiefgeht, ist es ok. Das ist für mich kein Problem. Und gerade deshalb sind Tourneen so wichtig. Da kann man innerhalb einer bestimmten Zeitspanne verschiedenen werke öfters spielen und sie verändern sich dabei jedes Mal. Und sie wachsen. Es sind aber keine großen Veränderungen, vielmehr sind es die Details, die sich nach und nach, eben durch die Wiederholung, festigen und dem Werk und seiner Interpretation eine größere Tiefe geben.

Was sind in Ihren Augen die Stärken des RSPO?
Das Orchester hat einen herrlichen Klang und einen sehr differenzierten Ton. Wenn man ein Orchester als Chefdirigent übernimmt, so glaub ich, muss man sich zuerst in seinen Klang verliebt haben. Für mich ist das die Basis einer zusammen- und Aufbauarbeit. Die Streicher sind die Basis des Orchesterklanges, und die sind im RSPO hervorragend besetzt. Auch die Holzbläser besitzen enorme Qualität, insbesondere, wenn sie solistisch aus dem ganzen heraustreten können. Heute muss ein gutes Orchester sehr viele Solisten in seinen Reihen haben. Und die Musiker des RSPO wissen genau, wann sie wie zu spielen haben. Ob im Ensemble, im Dialog oder eben solistisch. Und das ist ihnen ins Blut übergegangen. Natürlich ist auch stilistische Vielfalt eine große Stärke des Orchesters. Wir können, wie eben heute, sehr unterschiedliche Werke spielen und jedem Werk seine Atmosphäre geben. Hillborgs ‘Exquisite corpse’ verlangt einen komplett anderen Stil wie das Violinkonzert von Sibelius oder die 5. Symphonie von Prokofiev, die für jedes Orchester eine unwahrscheinliche Herausforderung in Sachen Klang und Farben ist. Und natürlich sind es diese unglaubliche kollegiale Wärme, die von den Musikern ausgeht, diese Offenheit und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, die mich immer sehr berühren.

Wie Sie bereits vorhin erwähnt haben, sind Sie auch Chefdirigent bei der BBC in London. Eigentlich haben Sie immer zwei Chefposten gleichzeitig gehabt.
(lacht) Ja, das ist doppelte Belastung, aber auch doppelte Freude. Für mich ist es sehr wichtig, vielseitig zu bleiben. Aber nachdem ich meinen Posten bei der Oper von Helsinki aufgegeben hatte, ich wollte zuerst nur Chefdirigent des RSPO sein und mich voll hier investieren. Aber dann habe ich beim ‘BBC Symphony Orchestra’ in London mein erstes Konzert dirigiert und am nächsten Tag hat man mich gefragt, ob ich den Posten des Chefdirigenten übernehmen wolle. Bei so einem Orchester in so einer Stadt kann man doch nicht nein sagen, oder? Ich denke, man kann zwei Posten sehr gut bedienen, wenn man sich zeitlich richtig einteilt. Oft ist es dann auch so, dass ich dieselben Werke in London und Stockholm mache, was mir hilft, meine Arbeit in Sachen Interpretation zu vertiefen. Aber ich wiederhole nie die Programme. Und wenn ich dadurch auch nicht so oft in London oder Stockholm dirigieren kann, so ist es trotzdem gut für das Orchester, denn dann müssen sie mit einem Gastdirigenten arbeiten, der ihnen neue Impulse gibt.

Zusammen mit Ihrer Frau Anna Komsi haben Sie die ‘Kokkola Opera’ gegründet. Könnten Sie uns dieses Projekt erklären?
Kokkola ist eine kleine Stadt an der Westküste Finnlands. Es ist eine Stadt mit einer sehr reichen musikalischen Tradition und einem sehr guten Kammerorchester. Meine Frau, die ja Opernsängerin ist, kommt aus Kokkola, wie übrigens erstaunlich viele finnische Sänger. Und weil es dort keine Oper gibt, wollten wir ein kleines Opernfestival gründen, das neue Wege geht. Wir begannen 2006 mit ‘Figaros Hochzeit’, open-air und szenisch. Dann haben wir jedes Jahr mehrere Produktionen an den verschiedensten Orten gemacht. So z.B. in einem Zirkuszelt, in einer Kirche oder in einem kleinen Theater. Die Orchester variieren, meistens spielen wir aber mit dem dortigen ‘Ostrobothnian Chamber Orchestra’, das dann mit anderen Musikern erweitert wird. ‘Carmen’ haben wir beispielsweise mit einem Studentenorchester gemacht, für zeitgenössische Oper benötigen wir oft nur ein kleines Ensemble von zehn Musikern. Mit unserer ‘Kokkola Opera’ wollten wir die traditionelle Oper etwas durchschütteln und neue Impulse geben. Hier ist eigentlich nichts wirklich fertig, hier gibt es noch so etwas wie einen Werkstattcharakter.

Sie haben von ‘durchschütteln’ und ‘Werkstattcharakter’ gesprochen. Braucht die klassische Musik nicht auch neue Impulse und Ideen?
Ich finde es sehr wichtig, dass man heute phantasievoller denn je an die Klassik herangeht. Aber wenn man so einen herrlichen Saal mit einer überragenden Akustik wie hier in Stockholm besitzt, warum soll man den nicht nutzen? Viel wichtiger ist es, dass es uns gelingt, diesen sogenannten elitären Charakter der klassischen Musik wegzubekommen und sie für alle zu öffnen. Wir sind dabei, mit phantasievollen Programmen und qualitativ hochwertigen Veranstaltungen wirklich auf alle Menschen zuzugehen und sie einzuladen, an dieser wundervollen Erfahrung ‘Musik“ teilzuhaben.

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