Ein Interview von Remy Franck

Rogger Norrington
Photo: Manfred Esser

Der britische Dirigent Sir Roger Norrington feiert am heutigen 16. März seinen 80. Geburtstag. Er startete seine professionelle Karriere als Sänger und Dirigent. 1978 gründete er die ‘London Classical Players’, um die Aufführungspraxis mit Originalinstrumenten in der Zeit von 1750 bis 1900 zu erforschen. Als Chefdirigent der Camerata Salzburg und ab 1998 des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart etablierte Sir Roger Norrington einen ihm am Herzen liegenden historischen Aufführungsstil. Seit der Saison 2011/12 ist er als Principal Conductor beim Zürcher Kammerorchester tätig.

Der ‘Pure Sound’, vibratolos, ist sein Ideal und sein Markenzeichen geworden. Er dirigiert nicht nur Beethoven, Mozart und Schubert ohne Vibrato, sondern auch Bruckner, Berlioz, Elgar und Mahler. Norrington, der Vibrato-Killer, der Apostel des reinen Klangs. Ich war und bin immer noch nicht mit allem einverstanden, was Norrington macht, und habe das in einigen Rezensionen auch schon unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Norringtons abgemagerter, faseriger Mahler etwa ist ein Gräuel für mich. Andere Aufnahmen, einiges von Bruckner z.B., halte ich zumindest als Alternative für attraktiv.

Als wir uns zum Gespräch in London trafen, wusste er sehr wohl dass ich nicht alles schätzte, was er aufgenommen hatte. Jedenfalls fragte er mich sofort, ob ich seine Aufnahmen kannte. Ich konnte die Frage ehrlich bejahen und genau so ehrlich sagte ich ihm, dass ich mit so manchem meine Schwierigkeiten hatte. Das konnte einen Engländer wie Sir Roger nicht erschüttern. Im Gegenteil! Sein missionarischer Eifer stieg sofort um ein Vielfaches, und sein Bemühen, mich zum ‘Pure Sound’ zu bekehren durchzog unser stundenlanges Gespräch wie ein roter Faden.

Ich lernte so Sir Roger Norrington als einen überaus sympathischen, liebenswerten und humorvollen Mann kennen, der sich selber nicht allzu ernst nimmt, aber von seinen Überzeugungen nicht abrückt. Und als klar war, dass es vor allem sein vibratoloser Mahler war, den ich nicht mochte, konzentrierte sich sofort alles darauf: « Mahlers Musik bewegt mich auch ohne Vibrato. Ich brauche kein zusätzliches Make-Up! »

Aber Mahler war ein sehr theatralischer Mensch, und für mich braucht es da auch mal einen etwas geschwolleneren Ton, wenn ich mich mal so ausdrücken darf.
Es ist eine Frage des Geschmacks! Ich mag diesen wabbeligen Klang nicht!

Sie waren ursprünglich ein Sänger. Ist das in Ihrer dirigentischen Tätigkeit von Vorteil?
Ja, und nicht nur in Vokalwerken oder Opern! Es hilft mir das Cantabile der Musik zu realisieren. Musik singt und Musik tanzt!  Tanz ist sehr wichtig für mich. Ich habe sehr gerne getanzt, als ich jung war.

Sie haben viele Opern dirigiert und tun das heute kaum noch.
Ich habe 2006 meine letzte Oper dirigiert, die nächste folgt in diesem Jahr. Ja, man trifft mich selten in der Oper. Das kommt zum Teil daher, dass ich mich sehr viel mit Opern abgegeben habe. Ich habe die meisten Opern dirigiert, die ich dirigieren wollte. Heute interessieren mich vor allem Sachen, die ich noch nicht oder nur selten gemacht habe. Ich interessiere mich für Projekte, die mich weiterbringen. Frühe Chormusik, Opern, Musik für Kammerorchester, all das habe ich gemacht, jetzt interessiert mich das große symphonische Repertoire. Der zweite Grund ist, dass ich nicht mehr so lange weg sein will, ich mag nicht für eine Oper sechs Wochen in Los Angeles oder Hamburg sein.

Das sagen heute viele Dirigenten und Sänger. Wenn das so weiter geht…
(lacht) … ja, dann wird niemand mehr Oper machen! Der dritte und sehr wichtige Grund ist, dass mir die Produktionswerte heute nicht gefallen. Es gibt sehr, sehr wenige Regisseure, mit denen ich zusammenarbeiten möchte. Ich brauche keine sieben Klos auf der Bühne! Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich liebe es, wenn eine Oper so aussieht, wie sie klingt. Ich brauche die angeblich genialen Ideen von 23-jährigen Regisseuren nicht!

Das ist ja sehr oft nur Provokation…
Genau! Und ich provoziere schon genug mit der Musik (lacht)! Nein ehrlich, es geht mir nicht darum, zu provozieren, aber manchmal macht es schon viel Freude, etwas zu tun, wovon man weiß, dass es die einen bass erstaunt und von anderen abgelehnt wird. Dabei geht es mir, wie gesagt, primär nicht darum, zu provozieren, es geht mir um die Wahrheit. Die einen finden das gut, die andern empfinden es als Provokation. Das ist aber nicht mein Ziel. Sehen Sie, in Wien bekomme ich meistens sehr unterschiedliche Kritiken. Die einen schreiben, es sei wundervoll, die anderen, es sei fürchterlich. Einmal aber war ich dort mit Mendelssohns Paulus. Ich dirigierte die Camerata Salzburg und den Schwedischen Kammerchor. Und siehe da, alle Kritiken waren sehr positiv. Ich wusste warum: Die Kritiker kannten das Stück nicht. Wenn man ein Stück nicht kennt, wirkt meine Interpretation nicht neuartig und gefällt. Bei einem Stück, das jeder kennt, fällt der Unterschied meiner Sichtweise auf, und etliche Leute glauben dann, es sei provokativ.

Aber es gibt Musikwissenschaftler, die behaupten, dass Brahms sehr wohl Vibrato mochte, dass Wagner es ausdrücklich verlangte, dass Vibrato also lange da war, vor der Zeit, die Sie als Ursprung des Vibratos ansehen, auch wenn die Praxis des Vibrierens vielleicht nicht so gängig war wie heute.
Ja, ich gebe zu, dass es das Vibrato auch damals gab, aber es war nicht so verbreitet. Nicht so gängig! Und als das generalisierte Vibrato aufkam, war es schon für viele sehr neuartig und sie mochten es. Sie mögen es heute noch (grinst). Und es ist sicher eine Möglichkeit. Aber nicht mehr für mich. Ach, man kann stundenlang darüber diskutieren. Ich jedenfalls halte den Anhängern von vibriertem Spiel entgegen, dass sie sich nicht konsequent sind. Wenn schon Vibrato, warum spielen dann nicht alle Instrumente mit Vibrato, Hörner, Trompeten, Posaunen, Klarinetten? Warum tun die es nicht? Da ist keine Logik im Spiel!
Doch mir geht es nicht um endlose Diskussionen. Mir geht es um den reinen Klang.

Komisch ist ja, dass niemand Ihren reinen Klang in Frage stellte, als Sie Beethoven mit den London Classical Players machten.
Bei Beethoven ist es erlaubt. Bei Mozart ist es erlaubt. Aber nicht bei Bruckner, nicht bei Mahler, nicht bei Elgar…. Und ich sage es noch einmal: Das Vibrato, so wie wir es heute kennen, war nicht da, es tauchte ganz plötzlich Anfang des XX. Jahrhunderts auf, so wie die Touristen an den Stränden Korfus. Nicht aufzuhalten! Vibrato ist Teil des modernen Lebens, es ist Umweltverschmutzung. Und ich eliminiere es wieder. Weil es meiner Meinung nach historisch nicht korrekt ist und vor allem, weil dieser reine Klang so unglaublich schön ist. Vibratolos ist nicht gleichbedeutend mit dünn, ausgemagert, es ist nicht entwertend, es ist etwas Aufwertendes. Musik Plus!

Sie hatten mit den London Classical Players viel Erfolg. Und dann stellte das Orchester plötzlich seine Tätigkeit ein. Warum?
Weil wir das getan hatten, was wir uns vorgenommen hatten. Die London Classical Players waren etwas Experimentelles. Es war kein Karriere-Orchester, es war projektbezogen.
Und ich wollte letztlich nicht auf Dauer mein eigenes, eingeschworenes Orchester haben, ich wollte ein normales, modernes Orchester leiten und mit ihm den reinen Klang anstreben.

Wie reagierten denn die Stuttgarter auf Ihr Ansinnen?
Sehr gut! Aber ich ging ja auch sehr behutsam vor. Ich bin nicht mit der Tür ins Haus gefallen. Zuerst machten wir es nur ohne Vibrato bei Beethoven und bei Mozart. Wenn ich Bartok dirigierte, war keine Rede von vibratolosem Spiel. Eines Tages machten wir Brahms. Sie sagten: aber mit Vibrato! Ich meinte: Ja, wenn Sie daran festhalten wollen. Aber wir könnten es auch mal ohne versuchen. Und so geschah es. Und dann fanden es alle schön und aufregend. So wuchsen wir langsam zusammen in diese Spielweise hinein. Mit Berlioz, mit Schumann, mit Bruckner…mit Mahler. Heute glauben sie daran. Und sie möchten, wie ich erfuhr, diesen Stil nicht ganz aufgeben, wenn ich einmal nicht mehr bei ihnen bin.

Ist es eigentlich schwierig für die Musiker, hin und her zu switchen?
Eigentlich nicht! Mit Vibrato  haben sie ja immer gespielt, sie haben es so gelernt. Sie müssen sich also nur für mich etwas mehr anstrengen!

Unter den Dirigenten stehen Sie ja, was Spätromantik anbelangt, ziemlich allein auf weiter Flur!
Ja, ich weiß das. Entweder liege ich falsch und alle anderen richtig, oder umgekehrt… (lacht verschnitzt). Ich stelle aber fest, dass mittlerweile auch andere Orchester für mich ohne Vibrato spielen: Leipzig, Dresden, Bayerischer Rundfunk, Oslo, Concertgebouw, Philadelphia, Cincinnati… ich dirigiere eigentlich nur noch Orchester, die dazu bereit sind. Mit zwei Ausnahmen, Wiener und Berliner Philharmoniker. Dort verlange ich es nicht!

In den Neunzigerjahren waren Sie sehr schwer erkrankt, Sie hatten Krebs, aber Sie konnten die Krankheit überwinden und wurden wieder ganz gesund. Hat diese Phase Ihres Lebens eigentlich Ihr Denken über Musik und Ihre Sicht auf die Musik verändert?
Gar nicht! Ich war vorher fasziniert von der Musik und bin es immer noch.

Sie werden jetzt 80…
Wenn Sie darauf bestehen… Muss ich wirklich? Ich bin doch nur ein kleiner Junge. Muss ich wirklich so alt werden?

Sie müssen! Definitiv! Ich will nämlich wissen, ob so ein Geburtstag ein Tag ist, wo Sie an Highlights Ihrer Karriere zurückdenken oder sich sagen: Das und das will ich noch unbedingt machen.
Also an Highlights zurückdenken, nein, das ist zu anstrengend. Und es sind ihrer zu viele! Und überlegen, was ich noch machen will, das ermüdet auch. Ich konzentriere mich lieber auf das, was ich jetzt tue, auf mein unmittelbares Vergnügen, Musik zu machen.

Was machen Sie sonst noch im Leben, wenn keine Musik angesagt ist? Oder gibt es für Sie nur Musik?
Nein, um Gotteswillen, nein! Ich wohne auf dem Land. Ich bin zwar 26 Wochen im Jahr unterwegs, aber ich bin auch 26 Wochen zuhause. Wir haben zwei Hunde, zwei Pferde, 18.000 Bienen, wir produzieren Honig und haben drei Hektar Land zu bewirtschaften. Ich lese viel, Literatur, Kunstbücher, wissenschaftliche Bücher. Ich liebe es, Freunde bei mir zu empfangen und mit ihnen bei einem guten Glas Wein zu diskutieren. Und meine Freunde sind Dichter, Maler, Ärzte, Architekten, keine Musiker. Ich lebe nicht in einem Blockhaus der Musik, ich führe ein ganz normales Leben. Sehen Sie, ich war bis zu meinem 28. Lebensjahr ein Amateurmusiker. Erst dann wurde ich Berufsmusiker.

Erstaunlich!
Ja, und manchmal glaube ich, ich sei immer noch ein Amateur, nicht im Sinne von Qualität, sondern weil mir die Musik so viel Spaß macht. Und die Leute bezahlen mich sogar dafür. Amazing! Sehen, ein deutscher Musiker, der ordentlich ausgebildet wird, der kann nichts werden wie ich. Der kann nicht auf so verrückte Gedanken kommen. Die wissen, was sie tun müssen. Ich weiß es nicht, darum muss ich mir immer Fragen stellen und experimentieren. Bei mir kommt nicht das Studium an erster Stelle, sondern die Leidenschaft. Ich habe auch keine Vorbilder. Ich will nicht sein wie Furtwängler, nicht einmal wie Toscanini, der mir schon eher näher stehen müsste. Meine Vorbilder sind die Komponisten. Meine Ideen beziehe ich aber von vielen Seiten. Ich möchte die Musik nie und nimmer missen, aber es gibt auch andere Sache als Musik. Manchmal schockiere ich ein Orchester, wenn mich Musiker fragen: Wie sollen wir dies tun, wie sollen wir das tun? Dann antworte ich: Freunde, es ist nur Musik! Just Music! Keine Gehirnchirurgie! Musik muss nicht wie Arbeit klingen. Playful muss es sein, kreativ, und mit Risiken, von denen Sie einige nicht mögen. Aber, lieber Remy, geben Sie nicht auf, hören sie immerzu meine Aufnahmen, und eines Tages werden Sie merken, dass auch Mahler ohne Vibrato nicht schmeckt wie eine Zitrone vor dem Frühstück….

Versprochen, Sir Roger! Versprochen! Ich bemühe mich!

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