Ludwig van Beethoven: 9 Symphonien; Annette Dasch, Sopran, Eva Vogel, Mezzosopran, Christian Elsner, Tenor, Dimitry Ivashchenko, Bass, Rundfunkchor Berlin, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; 5 CDs (Symphonien Nr. 1–9), 1 Pure Audio Blu-ray Disc 24-bit / 96 kHz (9 Symphonien, 344'); 2 Blu-ray Video (Symphonien Nr. 1-9, Living with Beethoven, The nine symphonies with the Berliner Philharmoniker and Sir Simon Rattle, Sir Simon Rattle talks about Beethoven's Symphonies, Full HD 16:9 / Stereo & Surround); Aufnahme 10/2015, Veröffentlichung 04/2016 (344' + 45' + 49') – Rezension von Remy Franck

Nach Birmingham und Wien, nun Berlin. Simon Rattles dritter Beethoven-Zyklus ist nur unwesentlich besser als die beiden anderen. Die Gesamtaufnahme der Symphonien mit den Wiener Philharmonikern hatte uns maßlos enttäuscht: « … serviert uns der Dirigent einen Unterhaltungs-Beethoven, hemdsärmelig, sportlich leicht und locker, scherzhaft fast, für mich aber leider das Resultat eines tragischen Missverständnisses. » Also, ran an die Arbeit! Was passiert in Berlin?

Die erste Symphonie beginnt Rattle recht beschaulich. Die Tempi der beiden ersten Sätze sind moderat, der Hörer kann sich den wunderbar homogenen Orchesterklang der Berliner Philharmoniker im Ohr zergehen lassen. Im dritten Satz geht’s eher rabiat zu, und das will weder zu Beethoven passen noch zum Orchester und schon gar nicht zu den beiden ersten Sätzen. Auch im letzten Satz, der so schön und stimmungsvoll beginnt, wird manches atemlos.

Im ersten Satz der Zweiten überwältigen wieder das Orchesterspiel, die innere Balance, der Luxusklang – und der ‘Surround Sound’ ist ein eindeutiger Gewinn, wie das Umschalten auf Stereo beweist.

Rattle nimmt auch in dieser Symphonie schnellere Tempi, aber der Zusammenhalt ist hier nie in Gefahr, der Atem setzt nicht aus, auch wenn er schnell wird. Hoch interessant ist die Betonung des Sprunghaften im dritten Satz.

Problematisch ist die Dritte, die ‘Eroica’, deren Zusatztitel Rattle völlig außer Acht lässt. Schnelle erste Sätze hat es von anderen Dirigenten auch gegeben, mit mehr oder weniger großer Zerstörung der Beethovenschen Rhetorik. Rattle reduziert sie aufs Banale. Die Musik zieht vorbei wie ein ‘Pater Noster’, der so schnell fährt, dass es einem nicht gelingt in die Kabine zu kommen. Packend dann wieder der Trauermarsch, der eigentlich hier keiner ist, so sehr reduziert Rattle ihn aufs Intime, aufs Persönliche, auf eine scheinbar innere Gefühlswelt mit einer ständigen Veränderung von Trauer und Schmerz, Klagen und Aufatmen. Das Orchester ist hier ungemein inspiriert und reagiert so emotional, dass man als Hörer unweigerlich in diese Gefühlswelt hineingezogen wird. Und der Rest, das Scherzo und das Finale, ernährt sich dann von diesen genialen 15 Minuten des Adagios, und wäre nicht der etwas banale erste Satz, hätte dies eine herausragende ‘Eroica’ werden können.

Die Symphonien Nr. 4 und 5 beeindrucken immer wieder mit kleinen, liebevoll behandelten Details, fließen aber im Großen und Ganzen ziemlich schnell und manchmal effektvoll knallig vorbei, ohne ein besonderes Flair zu erlangen. In anderen Worten: die Musik hebt nicht ab, die Interpretation ist korrekt, exzellent gespielt, aber doch weitgehend Routine.

Von der Sechsten, der Pastorale, hatte ich mir viel erwartet, zumal sie ganz spannend beginnt. Im zweiten Satz jedoch wird deutlich, dass oft weniger eben mehr ist. Rattle detailliert den Satz zu sehr, und statt ihn idyllisch und entspannt werden lassen, macht er den Hörer nervös…. Der dritte Satz hingegen hat es in sich: das Zusammensein der Landleute ist lustig und tänzerisch, ein bäuerliches Glanzstück! Mit dem Gewitter hat das Orchester keine Probleme, es blitzt, bläst und donnert molto con brio.

Die bis dahin beste Interpretation ist die der Siebten Symphonie. Rattle geht das Werk ganz stimmungsvoll und differenzierend an. So wird der erste Satz zu einem sehr interessanten rhetorischen Spielchen, dessen Ziellosigkeit logisch in einen sehr bedrückt wirkenden zweiten Satz mündet. So schwermütig hat wohl seit Bernsteins legendärer Bostoner Einspielung (The Final Concert) kein Dirigent mehr dieses Satz dirigiert. Wie Rattle im weiteren Verlauf das Material auseinandernimmt und wieder zusammenfügt ist genial und einer der wirklichen Höhepunkte dieser Gesamtaufnahme. Die virtuosen Sätze Nr. 3 und 4 zeigen die Berliner als perfekt funktionierendes Ensemble.

Ebenfalls ganz zufriedenstellend kommt die Achte Symphonie daher. Aus einer prononcierten, aber entspannten Rhythmik heraus vermittelt dieses ungeliebte Werk bei Rattle viel gute Laune und Freude.

Bleibt die Neunte, die enttäuschende Neunte! Schon im ersten Satz irritiert uns der Dirigent nach einem recht spannungsvollen Beginn mit einem Spannungsabfall, der eigentlich unerklärlich ist, und sehr stört: die Musik gerät wie in einen Leerlauf, und das wirkt sich auf die Artikulation des Orchesterspiels aus, die hin und wieder direkt unappetitlich wird. Man missverstehe mich nicht: das ist kein struktureller Spannungsauf- und -abbau, wie man ihn hier oder in anderen Werken sinnvoll applizieren könnte, es ist hier ein Spannungsabfall, der keinen Sinn macht und einfach durch fehlende Energie und mangelnden Atem seitens des Dirigenten erfolgt. So inkohärent und ungepflegt habe ich dieses Satz schon lange nicht mehr gehört. Die Sätze 2 und 3 sind ganz ordentlich gespielt, nicht genial, aber flüssig und fein strukturiert. Im vierten Satz gibt es Langgezogenes und Hetze, Leerlauf und Gefühlsüberschwang, aber keinen wirklichen Zusammenhalt, nichts Organisch Gewachsenes, und so gehört die Neunte definitiv auf die Soll-Seite des Berliner Zyklus’. Und wenn ich mir Haben und Soll anschaue…, tja, Pech für Rattle. Seinen Beethoven mag ich auch beim dritten Anlauf nicht.

In Simon Rattle’s third Beethoven cycle too many disappointments, and only a low level of satisfaction lead to an assessment which is ambivalent to say the least.

 

 

 

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