Endlich ist es wieder soweit für die Freunde moderner Musik. Die Rainy Days an der Philharmonie Luxemburg haben begonnen. Sie starteten am Freitag sozusagen mit einem Gastspiel. Für eine Musiktheateraufführung des Werkes Abstract Pieces von Manos Tsangaris hatte man die Fühler zum Grand Theatre ausgestreckt und zeigte das Werk in dessen Studio. Für unseren Rezensenten Uwe Krusch war diese Aufführung eines opus sui generis, wie es der Jurist ausdrücken würde, eine spannenden Erfahrung, der er gleich am Tag zwei der Rainy Days in der Philharmonie Luxemburg zwei Aufführungen folgen liess.

Denn der Begriff Oper passt ebenso wenig wie viele andere Kategorien und ein Jurist schafft in einem solchen Fall immer eine eigene. Der Komponist als Vertreter neuen Musiktheaters, das sich bei ihm durch eine Vielseitigkeit der Dispositionen und Formen auszeichnet, siedelt seine Werke zwischen Installation, Performance, eben auch Oper und anderem Musiktheater an. Dabei erforscht er die Komponenten und ihr Verhältnis, so dass man fast schon in Richtung Gesamtkunstwerk denken kann. Er beschränkt sich nicht allein auf die Arbeit mit Tönen, sondern sucht die Verbindungen zwischen verschiedenen Medien. Insbesondere der Raum hat maßgeblichen Einfluss, wie gerade auch hier. Entstanden für die besondere Situation im Alten Orchesterprobensaal der Staatsoper unter den Linden in Berlin musste das Werk für das Studio in Luxemburg angepasst werden. Erhalten blieb die Aufteilung des Publikums in zwei Gruppen, die sich vor und hinter der Spielfläche finden und nach der Pause jeweils auf der gegenüberliegenden Seite Platz nehmen müssen. Das mag auf den ersten Blick wie Spielerei wirken, entpuppte sich aber als komplett neuer Blickwinkel, wobei der ‘Blick’ über den reinen Augeneindruck hinaus auch andere Eindruckswege heraufbeschwört.

(c) Philharmonie / Alfonso Salgueiro

Im Zentrum der Betrachtung von Tsangaris steht der leere Theaterraum selbst. Statt klassischen Requisiten werden die beteiligten Menschen und Objekte auf leerer Fläche positioniert. Abstrakte kurze Stücke aus Bewegung, Klang und Licht finden statt und entfalten nach und nach die verborgenen Geschichten zweier Figuren, die mit und in diesem Raum eine Veränderung durchmachen. Diese mehrere Dutzend kurzen Partikel reihen sich wie Kurzgeschichten, auch nach Situation und Umfeld in neuer Ordnung, zu einer Erzählung.

Inhaltlich kehrt Tsangaris an das griechische Theater zurück. Dionysos kehrt 2000 Jahre später an den Ausgangspunkt seiner Schöpfung zurück, um zu sehen was aus seinem Theater geworden ist. Im Laufe übernimmt er die Figur des Orpheus. Der Mythos wird ergänzt um die Variante, dass in diesem Fall Orpheus der Euridice aus dem Hades folgt. Und ihr gelingt es, sich nicht umzudrehen. Doch die Rückkehr auf die Erde führt zum Alltäglichen, also auch nicht zur Erlösung.

Für die Zuschauer auf den vis-a-vis angeordneten Tribünen entsteht der Vorder-, Mittel- und Hintergrund, der mit teilweise auch sie blendenden Lichteffekten bestrahlt wird und mit dem Einsatz von projizierten Videos für die Seite des Orpheus als Spielmoment angereichert, optisch extrem unterschiedlich erscheint. Die beiden Hauptakteure und die Instrumentalisten teilen sich die Geräusche und das Singen, wobei die Mezzosopranistin Marielou Jacquard für Eurydike wie für die Weiblichkeit selbst und der Bariton Cornelius Uhle für Orpheus und Dionysos wie für das männliche Wesen schlechthin stehen. Zu diesen gesellt sich die Rolle des von diesem selbst verkörperten Inspizienten. Diese üblicherweise hinter dem Vorhang agierende Person ist hier offen involviert, was so weit geht, dass er bereits vor Beginn die verbleibende Restzeit bis zur Aufführung verkündet und damit den Gong ersetzt und auch später immer wieder die Auftritte ansagt.

Der Chor wird als Konserve in Form von Lautsprechern von den Pianistinnen Jenny Kim und Alba Gentili-Tedeschi auf die Bühne getragen und trägt zunächst die Texte des Chors aus der Unterwelt aus Glucks Orpheus vor. Ansonsten tragen die Pianistinnen von entgegengesetzten Ecken der Fläche ihre pianistischen Einsprengsel vor.

Die Violaspielerin Emily Yabe, eine der Pianistinnen und die Sängerin hantieren auf der einen Zuschauerseite an Tischchen mit klappernden Halsketten und den Schlägen gegen Glocke und Trinkglas, was eine charmante Klangwelt schafft und die weibliche Seite darstellt. Die andere Seite erlebt die Sicht des Mannes, wo drei Beamer sequenzartige Videos auf die weißen Hemden von Orpheus, Bassklarinettist und zweiter Pianistin projizieren. Später projiziert der heutige Orpheus aus einem noch kleineren Beamer die Partnerin auf sich. Der Bassklarinettist Alexander Glücksmann als das männliche musikalische Prinzip kann mit instrumentalen Schnarch- und Tiergeräuschen und Dirigat in instrumentalen Passagen aufmerken lassen.

Wie erwähnt, geht die Probe aufs Exempel: Eurydike wirft Orpheus vor, sie schlafe gern bei offenen Fenstern, Orpheus aber bei geschlossenen. So banale Differenzen, zumal wenn man sie doppelt zweimal hintereinander vorbringen bzw. hören muss, trennen mehr als dass sie verbinden. Voneinander abgewandt mit Kopfhörern, aus denen Che faro aus Glucks Orpheus gewispert erklingt, es fehlen fast nur die Handys, wird die Distanz deutlich. Nach schwarzem nunmehr in weißem Gewand hängt die Protagonistin der Vergangenheit nach und schlägt ihm vor, noch Kontakt zu halten, aber nicht heute und morgen. Und sie sinnt der Frage nach den nicht geborenen gemeinsamen Kindern hinterher.

Mit neuem Blick nach der Pause schien der Ablauf zu divergieren. Zwar war der Wiedererkennungswert hoch, doch verschob sich auf jeden Fall die Wichtigkeit von Details und die Anteilnahme zu den Protagonisten. Den wesentlichen Unterschied im Ablauf bilden zwei Bühnentechniker, die mit Bohrschraubern an der als Projektionsfläche dienenden Kiste hantieren. Zu Beginn als Eröffnung unmotiviert noch letzte Hand anlegend, schlagen sie am Ende den Bogen zum Anfang und lösen die Schrauben wieder.

Gerade in dieser Kleinteiligkeit und Beschränkung auf bestimmte Elemente ist die Ouvertüre des Festivals ein gelungenes Beispiel für das Motto in diesem Jahr, das mit less is more ein universales Thema zugrunde legt. In Welten eines immer weiter immer höher sollte die Besinnung auf das Wesentliche mit konzentrierter Aussage und weniger Alarmismus nicht nur in diesem Kreis der Enthusiasten moderner Musik wieder Gehör und Gewicht bekommen.

Am späten Nachmittag des zweiten Tages gaben sich drei arrivierte Tonsetzer aus Luxemburg die Ehre, sich und jeweils eines ihrer Werke vorzustellen. Dazwischen hatte das Programm zwei Werke gesetzt, die mit konservierten Tonmaterialien erzählten.

Natasha Barrett hat mit Mobilis in Mobili vor einigen Jahren eine Form geschaffen, die mit Unter-Wassergeräuschen und damit verbundenen Lauten eine Kurzgeschichte um Jules Verne und seine 20.000 Meilen unter dem Meer Klang werden lässt, die man als Hörer unmittelbar nachvollziehen kann. Zwar mag man damit nicht konkrete Bilder als Hörbuch verbinden, aber trotzdem erlebt man eine Hörreise in eine Welt, die sich mit persönlichen Assoziationen verbinden lässt. Rein von der Dauer her nähert sich ‘Presque rien avec filles pour danseuse et son mémorisé’ von Luc Ferrari dann schon einer Erzählung, wenn auch keinem Roman. Diese kleinen Nichtigkeiten erklangen eher wie Kollagen kleiner beliebig gesammelter Schnipsel, deren Zusammenhang sich schwerer erhören lässt. Grundsätzlich kann man bei diesen Lautäußerungen immer die Frage stellen, warum ich in ein Konzert gehen soll, wenn ich vorgefertigte Materialien auch zu Hause mit Tonträgermedium hören könnte. Vielleicht wäre meine Vorstellungskraft in den eigenen vier Wänden sogar besser als im ablenkungsreichen Umfeld.

Erfreulich an diesem Konzert und generell an den Rainy Days ist der steigende Zuspruch beim Publikum. Zwar ist die Gemeinde immer noch überschaubar, aber das Espace Découverte war prall gefüllt und die gemütlich Sitzenden mussten den mit dem Gong noch Nahenden Platz machen. Dieser Raum kann wohl demnächst nicht mehr ausreichen oder müsste zahlenmäßig größer bestuhlt werden. Auch positiv und vielleicht auch überraschend die hohe Zahl, mindestens ein Dutzend, von kleineren Kindern, die insgesamt dem Konzert mit mehr Spannung und weniger Störungen folgten als manche Erwachsene.

Alexander Müllenbach
Photo: Remy Franck

Eröffnet wurde das Ereignis nach einer kurzen Einführung der Leiterin mit den involvierten Komponisten mit der Hommage à Debussy für Flöte und Klavier von Alexander Mullenbach. Kürzlich als Wettbewerbswerk entstanden, liefert es augenzwinkernd die Ehrung für den Geehrten und den Ehrenden ebenso wie reichlich Hausaufgaben für die Ausführenden. Dass Maria Miteva den Flötenpart und Kae Shiraki den Pianoteil nicht nur technisch beherrschen, sondern auch die musikalische Substanz verständlich und überzeugend darbieten würden, war bei diesen Mitgliedern von ARS Nova Lux / Noise Watchers nicht anders zu erwarten.

Ganz traumhaft gelang auch Third dream für Violine und Klavier von Claude Lenners aus seinem Zyklus Dream Museum, in dem Lenners mit variierenden Besetzungen Phasen des Unbewussten erörtert. Hier wirken vor allem punktuelle Sequenzen zusammen, die in der Malerei vielleicht als Pointilismus gelten könnten. Neben Kae Shiraki kam am hohen Streichinstrument Martha Kaden-Missagh zu Gehör, die sich ebenfalls als versierte und ausdrucksstarke Vermittlerin der Absichten des Komponisten zeigte.

Albena Petrovic
(c) Stefan Pieper

Den Abschluss bildete eine Uraufführung von Albena Petrovic. Das viertelstündige Werk Sacred Stone für Ensemble ist im Auftrag der Philharmonie entstanden. Petrovic widmet sich darin den Tagträumen, bzw. besser gesagt den Phantasien oder der Einbildungskraft des Menschen, der in den von ihr gesammelten Klangeindrücken seine eigene Vorstellung entfalten kann. Neben den genannten Instrumenten und ihren Protagonisten agierten hier noch Josep Dragnić, akustische Gitarre, und Victor Kraus, Perkussion. Wobei auch alle anderen Beteiligten ihre Anteile an der Perkussion beizutragen hatten ebenso wie stimmliche Äußerungen, so dass jeder mehrfach beschäftigt war. Neben Quietscheentchen und dem mit der Sprache wurden auch genügend normale instrumentale Beiträge vermittelt, so dass ein abwechslungsreiches Tongemälde der Lenners-Schülerin erklingen konnte, das vielleicht ein wenig präziser und damit kürzer noch wirkungsvoller hätte ausfallen können.

Gut eine weitere Stunde Musik wurde dann abends im großen Saal der Philharmonie geboten. Unter der Rubrik ciné-concert erstrahlte L’Âge d’or von Luis Bunuel und Salvatore Dali auf der Leinwand. Dieser schon rund neunzig Jahre alte Film, der durch seine als surrealistisch bezeichnete Bildsprache für einen Skandal sorgte, bietet eine musikalische Ideen geradezu herausfordernde Grundlage. Die von Martin Matalon als Le Scorpion komponierte Musik für sechs Schlagzeuggruppen und Piano bot den Musikern von Les Percussions de Strasbourg und Dimitri Vassilakis den Boden, um ihre Kunstfertigkeit zu entfalten. Wie abwechslungsreich Werke mit Schlagzeug, dieser Begriff umfasst ja eine Vielfalt von Instrumenten unterschiedlichster Klangerzeugung und klingender Tongestalt, ist gewusst. Wenn sie dann in großer Formation die ganze Bühne einnehmend auftreten, ist für ein vielfach aufgefächertes Hörerlebnis gesorgt, dass für sich spricht und der Bilder des Films gar nicht bedürfte. Zusammen ergibt sich dann eine neue Schicht und damit Sicht. In gewisser Weise verstärkt diese Musik die Surrealität, da man beispielweise eine Liebesszene eher mit schwelgenden Streicherklängen als mit Schlagwerk verbinden mag.

Dass die Krise des Kinos mit nicht gerade überwältigenden Zuschauerzahlen auch hier sichtbar wurde, zeigte sich am gut besuchten, aber noch viele freie Plätze aufweisenden Interesse an diesem Abend.

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