Rafal Blechacz
Photo: Broede/DG

Ein Interview von Alain Steffen (Pizzicato-Printausgabe 3/13)

Der polnische Pianist Rafal Blechacz, Jahrgang 1985, gehört seit 2005 zum erlesenen kleinen Kreis der Warschauer Chopin-Preisträger. Inzwischen konzertiert er weltweit mit bekannten Orchestern und gibt Soloabende in berühmten Konzertsälen.

Herr Blechacz, was macht für Sie eine gute Interpretation aus?
Das Gleichgewicht zwischen intellektueller Analyse und expressivem Spiel zu finden und so einzusetzen, dass der Fluss und der Atem der Musik ihre Natürlichkeit behalten. Ein Pianist, der das sehr gut konnte, war beispielsweise Arturo Benedetti Michelangeli. Seine Beethoven- und Scarlatti-Interpretationen sind für mich sehr beeindruckend und kommen meinem Verständnis von Interpretation sehr nahe. Als Interpret muss man aber in erster Linie die Indikationen des Komponisten respektieren. Hier liegt der Schlüssel. Wenn man die Botschaft des Komponisten entschlüsselt hat, dann gewinnt man als Interpret plötzlich die Freiheit, seine eigene, individuelle Interpretation zu entwickeln. Und es ist falsch zu sagen, dass man in ein Korsett gedrängt wird, wenn man sich an die Richtlinien des Komponisten hält. Eher das Gegenteil ist der Fall. Man muss sich als Interpret auch immer seines Repertoires bewusst sein. Nur wenn man die Werke liebt, die man spielt, kann man dem Publikum etwas vermitteln. Ich verzichte ganz bewusst darauf, Werke von Komponisten zu spielen, zu denen ich keinen Zugang finde.

Auf Ihrer rezenten CD stellen Sie Klavierwerke von Claude Debussy und Karol Szymanowski gegenüber. Wie passen diese beiden Komponisten denn zusammen?
Durch ihre Gegensätzlichkeit! Ich finde, ob bei Konzerten oder auch auf CD, ist es wichtig, den Zuhörer mit verschiedenen Stilen zu konfrontieren. Das fördert die Konzentration, und die Spannung bleibt permanent erhalten. Wenn ich nur Debussy oder Chopin spiele, verschwindet irgendwann die Erwartungshaltung beim Publikum, und das Erlebnis wird durch den immer gleichen Stil nach unten revidiert.

Wie kann man die Musik von Szymanowski beschreiben?
Bei Szymanowski gibt es einen sehr starken Einfluss von Scriabin, den man insbesondere in seinen frühen Werken sehr gut wahrnimmt. Auch in den Metopen und den Masken erinnert vieles an den Mystizismus von Scriabin. Doch Szymanowski schafft es immer wieder, sich von seinem Vorbild zu lösen und einen eigenen, sehr individuellen Ton anzuschlagen. Dann gibt es den letzten Satz der c-moll Sonate, wo man ganz deutlich die Einflüsse von Rachmaninov heraus spüren kann. Nach und nach aber haben diese russischen Einflüsse nachgelassen und Szymanowski hat seinen eigenen Stil gefunden, bei dem natürlich auch die polnische Volksmusik eine sehr wichtige Rolle spielte.

Wenn wir über die polnische Musik reden, fällt uns natürlich in erster Linie Chopin ein. Doch es hat doch sicher auch Komponisten vor Chopin gegeben?
Es hat eine ganze Reihe von polnischen Komponisten vor Chopin gegeben, allerdings haben sie international nie eine sehr große Rolle gespielt. Chopin selbst hat bei Jozef Elsner studiert, der ein hervorragender Komponist war. Aber der Bekanntheitsgrad, den Chopin hatte und immer noch hat, hatte vorher kein anderer polnischer Komponist erreicht. Ich glaube, Chopin hat sehr gut den Nerv der Zeit getroffenen. Einerseits hat er eine sehr expressive Musik geschrieben, die eigentlich jeden mitreißen muss, andererseits hat er vieles aus der polnischen Volksmusik übernommen. Und hier vor allem die Tänze. Denken Sie nur an seine Mazurken und seine Polonaisen. Und genau da treffen sich Chopin und Szymanowski, da beginnt vielleicht die polnische Tradition, die ganz stark auf diese Tänze aufgebaut ist.

Es scheint typisch für die Länder Osteuropas gewesen zu sein, ihre Musik ganz auf die traditionelle Volksmusik aufzubauen. In Ungarn finden wir das Gleiche bei Kodaly und Bartok, in Tschechien bei Dvorak, in Rumänien bei Enescu…
Auch in Russland! Ja, ich glaube die osteuropäischen Länder haben viel von ihrer musikalischen Inspiration aus der Tradition, der Kultur der einfachen Menschen und der Volksmusik gewonnen. Aber es ist falsch, dies als ein durchgehendes Prinzip zu sehen. Die Volksmusik ist immer wieder aufgetaucht, hat Impulse gegeben wurde aber nie eins zu eins umgesetzt, sondern vielmehr stilisiert und kunstvoll verarbeitet. Bei vielen Komponisten hat es auch Perioden gegeben, wo diese Einflüsse so gut wie nicht zu spüren sind. Szymanowski hat erst in späteren Jahren den Weg zu den Mazurken gefunden, sein Frühwerk, wie die c-moll Sonate, ist eigentlich frei davon, obwohl er im 3. Satz ein Menuett verwendet.

Kann man eigentlich von einer polnischen Schule reden?
Schule im Sinne einer Wiener Schule ist vielleicht etwas viel gesagt, aber sicher ist, dass Chopin die polnische Musik revolutioniert und sehr innovative Harmonien eingebracht hat. Diese Harmonien haben die romantische Musik, wie sie üblicherweise verstanden wurde, verändert und auch weitergebracht. Wenn man von einem polnischen Kompositionsstil sprechen will, dann muss man Chopin als seinen Erfinder betrachten. Es sind vor allem die Komponisten nach Chopin, die diese innovativen Harmonien weiterverarbeitet und zu einer eigenständigen Musikrichtung entwickelt haben. Eine der größten polnischen Komponistinnen ist Grazyna Bacewicz. Sie war viel gewagter und moderner als beispielsweise Szymanowski. Bacewicz war darüber hinaus sehr vielseitig. Sie hat bei Nadia Boulanger Komposition studiert, parallel als Violinistin konzertiert und war auch als Schriftstellerin recht erfolgreich. Wir haben aber auch Komponisten wie Lutoslawski, Penderecki oder Karlowicz, die wundervolle Vertreter der polnischen Musik sind. Aber daneben gibt es eine Menge hochbegabter Komponisten, die wenig bekannt sind. Ich werde jedenfalls in Zukunft versuchen, bei meinen Konzerten auch diese Komponisten zu berücksichtigen und sie einem breiten Publikum vorstellen.

Und wie steht es mit einer polnischen Pianistentradition? Es ist ja nicht zu leugnen, dass polnische Pianisten, ich denke da nur an Eva Kupiec oder Krystian Zimerman, Chopin auf eine ganz andere Weise spielen als ihre westeuropäischen Kollegen.
Ich glaube, das stimmt nur zum Teil und unterliegt irgendwelchen Klischees. Was stimmt, ist die Tatsache, dass polnische Pianisten einfach besser die Musik in ihrer Substanz verstehen und sie in ein natürliches Gleichgewicht bringen können. Es ist klar dass Kupiec und Zimerman die polnischen Tänze in ihrem Blut haben, da sie zu unserer Kultur gehören. Das heißt aber nicht, dass ein deutscher oder ein amerikanischer Pianist diese Musik nicht ebenso gut spielen kann. Ich glaube, es ist wichtig, sich gerade bei Chopin mit der Tiefgründigkeit seiner Kompositionen auseinanderzusetzen. Wenn man aber als Interpret zu oberflächlich an diese Musik herangeht, die Mazurken und Polonaisen unterschätzt, ja, dann klingen sie plötzlich schwerfällig und pathetisch. Chopin lässt seinen Interpreten sehr viel Freiraum zur Eigengestaltung. Es gilt einfach die gesunde Balance zwischen Expressivität, Architektur, Farben, Nuancen und Virtuosität zu finden. Aber ernsthafte Musiker setzen sich mit jeder Art von Musik intensiv auseinander, ob das jetzt Chopin, Bach oder Debussy ist. Eine gelungene Interpretation muss aber noch außermusikalische Voraussetzungen berücksichtigen.  So sind Saalakustik und der Klang, die Intonation des Klaviers, auf dem man spielt, sehr wichtig. Es wird ja auch viel darüber diskutiert, ob beispielweise chinesische Pianisten einen guten Beethoven spielen können, weil ihnen die deutsche Kultur fremd ist. Ich bin davon überzeugt, dass Musik keine Grenzen kennt, man muss sich allerdings als Interpret investieren und versuchen, den verschiedenen Kulturen so nahe wie möglich zu kommen. Denn sonst bleibt die Interpretation nur technisch oder virtuos. Musik zu spielen, setzt voraus, dass man sich zuvor mit ihr auseinandergesetzt hat. Und dazu gehören nun auch einmal die Kultur und die Literatur. Mir persönlich haben beispielsweise die Briefe von Chopin sehr geholfen zu verstehen, wie er seine Musik gespielt haben möchte.
Aber um auf ihre Frage zurückzukommen, nein, wir haben keine polnische Interpretationsschule die beispielsweise mit der russischen Schule vergleichbar wäre, aber wir haben eine Spieltradition, die sich von Generation zu Generation weitervererbt. Paderewski, Rubinstein oder Raoul von Koczalski sind hierfür die besten Beispiele. Besonders Koczalski ist ein unwahrscheinlicher Pianist gewesen, der leider in Vergessenheit geraten ist. Koczalski war ein Schüler von Karol Mikuli, der wiederum ein direkter  Schüler von Chopin war. Und als Chopin-Interpret war Koczalski tatsächlich einmalig. Es gibt einige sehr alte Aufnahmen von ihm, die man unbedingt gehört haben muss.

Pianisten wie Maria Joao Pires oder Gerhard Oppitz haben sich darüber beklagt, dass die neue Generation von Musikern gerne sehr schnell verheizt wird, dass alles sehr schnell gehen muss und dass der immense Stress des internationalen Konzertbetriebes die jungen talentierten Musiker kaputt macht.
Damit haben sie sicherlich recht. Als ich  2005 in Warschau den Chopin-Wettbewerb gewonnen hatte, ging es plötzlich ganz schnell. Ich wurde regelrecht überrannt mit Angeboten, überall sollte ich spielen. Aber ich bin zum Glück jemand, der ganz genau auf seine Bedürfnisse hört. So fühlte ich mich am Anfang meiner Karriere recht verloren, bis ich dann die richtigen Agenturen gefunden hatte. Das war zuerst einmal sehr entlastend. Ich habe mir dann eine Strategie zurecht gelegt, mit der ich auch heute noch sehr zufrieden bin. Einerseits spiele ich nur an wichtigen Konzertplätzen oder auf internationalen Festivals, andererseits spiele ich nicht mehr als 40 Konzerte pro Jahr. Ich brauche sehr viel Zeit, um die Musik zu lernen. Erst wenn ich ein Werk von Grund auf begreife, spiele ich es vor Publikum. Zum anderen habe ich momentan nicht das Bedürfnis, öfters aufzutreten. Ich bin gerne in meiner Familie und benötige auch für die Reisen etliche Zeit. Da ich Flughäfen mit ihrem Lärm und ihrer Hektik hasse, reise ich lieber mit meinem Wagen und in Begleitung meines Vaters.

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