Johann Sebastian Bach: Das Wohltemperierte Klavier Band II (Ausz.); Piotr Anderszewski, Klavier; 1 CD Warner Classics 0190295118730; Aufnahme 12 & 08/2020, Veröffentlichung 29/01/21 (78’08) - Rezension von Alain Steffen

Es erscheint mir wichtig, an dieser Stelle zuerst den Pianisten Anderszewski zu Wort kommen lassen: « Ich habe mich lange gefragt, bis zu welchem Ausmaß Bachs Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier für das Konzertpodium geeignet sind. Obgleich sie bewusst in einer logischen chromatischen Abfolge veröffentlicht wurden, scheint mir, dass die Stücke in dieser Anordnung emotional und musikalisch nicht zwangsläufig so aufeinanderfolgen müssen. Abgesehen davon, möchte ich Werke von einer derart großartigen Architektur und Ausdrucksvielfalt – Werke, die dem Interpreten und dem Hörer nahezu grenzenlosen Raum zur Erkundung bieten – unbedingt spielen und mit dem Publikum teilen.

Schaut man hinter den gelehrten Kontrapunkt, den diese Werke entfalten, stellen sie sich für mich als Charakterstücke dar, und während ich sie studiert habe, erkannte ich, wie wichtig es ist, jedem Fugenthema einen jeweils eigenen Charakter zuzuteilen (Bach lässt uns hier völlige Freiheit, es gibt keinerlei Angaben des Komponisten). Ich bin überzeugt, dass man, um die ganze architektonische Präzision und Schönheit dieser Werke zu zeigen, ihre bestimmten Eigenarten von der ersten Stimme an, die jede Fuge einleitet, bis zum Ende des Stückes möglichst streng durchführen muss.

Ich habe mich dafür entschieden, 12 Präludien und Fugen aus Teil 2 in einer von mir gewählten Abfolge zusammenzustellen, die manchmal auf der Verwandtschaft von Tonarten beruht, die auf eine natürliche Weise miteinander funktionieren, und manchmal auf Kontrasten, die die Stücke unwiderstehlich miteinander zu verbinden scheinen. Indem ich diese Werke in dieser besonderen Abfolge spiele, möchte ich eine Dramatik erzeugen, die einen Zyklus andeutet: 12 Charakter, die miteinander konversieren und einander spiegeln. »

So der Pianist über seine Kürzung dieses gewaltigen Bach-Werkes, das mit seiner Gesamtdauer von fast zweieinhalb Stunden (nur Band II) im Konzertsaal kaum integral an einem Abend aufgeführt werden kann.

Anderszewski ist als Bach-Interpret ein Feingeist, so wie es Andras Schiff oder Nikolai Lugansky auch sind, Interpreten, die ganz auf die Form der Kompositionen vertrauen und jeder für sich seinen eigen Klang und seine eigene Dynamik entwickelt. Anderszewski überzeugt mit einem technisch brillanten und glasklaren Spiel, dessen Stärke in der Gegenüberstellung von musikalischer Erzählkunst und spielerischer Brillanz, von strenger Formtreue und ungebundener Leichtigkeit liegt. So erlebt der Hörer während 78 Minuten einen Reigen vollendeter Miniaturen, die zudem in dieser Konstellation der Präludien und Fugen eine große innere Geschlossenheit, einen noblen Gestus  und eine intensive emotionale Tiefe erreichen. Ein musikalisches Erlebnis der besonderen Art!

It seems important to me to let the pianist Anderszewski have his say first: « I have long wondered to what extent Bach’s Preludes and Fugues from Das Wohltemperierte Klavier are suitable for the concert platform. Although they were deliberately published in a logical chromatic order, it seems to me that order is not one in which the pieces follow each other with an emotional, musical inevitability. Having said that, I cannot resist playing and sharing with the public works of such magnificent architecture, such range of expression – works that offer both the interpreter and the listener almost limitless scope for exploration.
Looking beyond the contrapuntal science they display, I perceive these works as character pieces, and while studying them I realised the particular importance of giving each theme of each fugue a specific character (Bach gives us complete freedom here, there are no indications from the composer whatsoever). I am convinced that in order to reveal all their architectural rigour and beauty, these distinct characters must be carried from the first voice introducing each fugue right through to the end of the piece, as implacably as possible.
I decided to put together 12 Preludes and Fugues from the second book in a sequence of my own subjective choosing, based sometimes on key relationships that work naturally with one another, at other times on contrasts which seem to draw the pieces irresistibly together.
The idea behind playing these works in this specific order is to create a sense of drama suggestive of a cycle: 12 characters conversing, mirroring each other.
Thus the pianist Piotr Anderszewski about his abridgement of this enormous Bach work, which with its total duration of almost 3 hours (not counting Volume I) can hardly be performed integrally in a concert hall in one evening. »
As a Bach interpreter Anderszewski is a fine spirit, just as Andras Schiff or Nikolai Lugansky, performers who trust completely in the form of the compositions, yet develop her own sound and dynamics. Anderszewski convinces with technically brilliant and crystal-clear playing, whose strength lies in the juxtaposition of musical storytelling and playful brilliance, of strict adherence to form and unconstrained lightness. Thus the listener experiences over 78 minutes of perfect miniatures. In this constellation of preludes and fugues those pieces achieve a great inner unity, a noble gesture and an intense emotional depth. Anderszewski’s CD is a musical experience of a special kind!

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