Der 1980 geborene finnische Dirigent Pietari Inkinen ist Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie und Music Director des KBS Symphony Orchestra in Seoul, Korea. Er war auch Chefdirigent des New Zealand Symphony Orchestra und des Japan Philharmonic. Er wurde eingeladen, bei den Bayreuther Festspielen den Ring des Nibelungen zu leiten, inszeniert von Valentin Schwarz. Alain Steffen hat sich mit dem Dirigenten unterhalten.

Pietari Inkinen

Wie viele andere finnische Dirigenten entstammen Sie der legendären Schule von Jorma Panula. Was ist denn das Besondere an diesem regelrechten Dirigentenmacher?
Ich denke, Jorma Panula steht in der direkten Linie der finnischen  Musikgeschichte, die mit Jean Sibelius begonnen hatte und danach von Robert Kajanus weitergeführt wurde. Kajanus war der Gründer des ersten finnischen Symphonieorchesters, dem späteren Helsinki Philharmonic Orchestra. Wie Sibelius war er ein Künstler, der sowohl Dirigent, wie auch Komponist und Pädagoge war. Die Sibelius-Akademie in Helsinki war dann auch das eigentliche Zentrum für Musik in Finnland. Jorma Panula machte eigentlich die Vielseitigkeit der Dirigenten zu einem Prinzip. Alle Dirigenten sollten mehrere Instrumente spielen und ebenfalls Orchestererfahrung als Musiker sammeln. Dieses Prinzip unterscheidet sich demnach stark von der westeuropäischen Richtung, wo man als Dirigent als Korrepetitor in der Oper beginnt und sich dann langsam dort hocharbeitet. Ich habe z.B. Geige, Horn und Pauke gespielt, bin sogar als Solist aufgetreten und habe ein sehr ernsthaftes Studium in Violine bei dem berühmten Zakhar Bron in Deutschland absolviert. Doch zurück zu Panula. Irgendwann im Studium lud er Jungstudenten ein, sich als Dirigent auszuprobieren. Meistens waren das ungefähr 20 Kandidaten, von denen er 3 zurückbehielt. Ich gehörte glücklicherweise zu diesen Auserwählten, genauso wie Mikko Franck und ein anderer Kollege, der dann aber Augenarzt geworden ist, hin und wieder aber trotzdem noch dirigiert. Panula hatte ein sehr gutes Auge, ein sehr gutes Feeling und er vertrat auch die Ansicht, dass jeder Musiker mindestens einmal vor dem Orchester gestanden haben soll, so wie jeder Dirigent auch im Orchester als Musiker mitgespielt haben soll.

Ist das denn möglich?
In Finnland ja. Wir sind ein kleines Land mit rund 5 Millionen Einwohnern und ungefähr 35 Profiensembles, von Symphonieorchestern bis kleineren Staatsorchestern und kleinen Kammerorchestern mit einem eher niedrigen Budget. In Finnland ist man gut untereinander vernetzt, so dass man als Dirigent, wenn man talentiert ist, schnell und früh eine Chance bekommen kann. Das hat sehr viel mit der finnischen Mentalität zu tun, glaube ich. Man hat klare Ziele und ist in der Kommunikation sehr klar.

Sie haben aber auch noch bei einem anderen finnischen Dirigenten studiert, der stilistisch genau das Gegenteil von Panula ist, nämlich bei Leif Segerstam.
Oh ja, beides sind sehr verschiedene Typen. Während Panula eher der feine, transparente und analytische Dirigent ist, schöpft Segerstam aus dem Vollen und ist in seinen Interpretationen viel emotionaler und dramatischer. Ein Vulkan! Wenn Segerstam dirigiert, will er mit der Musik die ganze Welt umarmen. Panulas Stärke als Pädagoge lag darin, keinen festgelegten Stil weiterzuvermitteln, wie wir es beispielsweise von der russischen Schule her kennen, sondern individuell die Stärken eines jeden Schülers zu fördern. In diesem Sinne gibt es auch keinen finnischen Stil, sondern viele individuelle Stile.

Wie würden Sie Ihren Stil denn bezeichnen?
Obwohl ich Leif Segerstams Kunst sehr bewundere, ich bin eher ein Panula-Typ. Mir kommt es sehr viel auf Finesse, einen reinen klaren Klang und auf ein transparentes Orchesterspiel an. Gerade bei Sibelius ist es für mich wichtig, den puren Ausdruck zu finden, ohne dabei zu überinterpretieren. Das kann man jetzt mögen oder nicht, das ist jedem Hörer selber überlassen. Deshalb liebe ich es, mit japanischen Orchestern zusammenzuarbeiten. Die Musiker dort haben genau die gleichen Ansichten vom Muszieren wie ich, nehmen in der Arbeit kleinste Details war und bieten ein sehr feines, klares Spiel.

Haben Sie diesen feinen Stil auch beim Bayreuther Ring angewandt?
Ich muss sagen, dass ein derart transparentes Klangbild in Bayreuth nicht möglich ist, hier muss man sich anpassen, denn ein zu feiner Dirigierstil trägt im Festspielhaus mit seinen besonderen akustischen Verhältnissen nicht. Dort muss alles wegen dem gedeckelten Orchestergraben sehr emotional, fast übertrieben dirigiert werden, sonst kommt der Klang beim Publikum nicht entsprechend an. Also hier eher Segerstam als Panula. Die Bühne ist sehr groß, das Bühnenbild spielt eine enorm große Rolle bei der Akustik. In Bayreuth ist es ein Prozess der Erfahrung. Ich bin sehr froh, dass ich nach den Corona-Jahren 2023 mit solch großem Erfolg den Ring dort dirigieren konnte. Der Bayreuther Ring gehört für mich zu den absoluten Highlights meiner Karriere.

Wenn Sie jetzt eine Oper einstudieren, wie gehen Sie vor? Nähern Sie sich dem Werk vom Text oder von der Partitur?
Ich versuche es gleichzeitig zu tun, denke aber, dass ich zuerst von der Partitur ausgehe. Ich überlese sie zuerst nur, blättere sie durch, um einen ersten Eindruck zu erhalten. Es ist wie ein Blick aus der Vogelperspektive. Dann versuche ich mir Text und Gehalt anzueignen und mich dann immer mehr auf die Musik zu fokussieren. So wie ein Bildhauer. Zuerst werden die groben Formen gestaltet, danach kommt die Feinarbeit. Und gerade bei Wagner war es mir wichtig, diese wunderbar feinen und schönen Passagen nicht mit germanischem Pomp zu überladen, sondern die Musik hier frei strömen und atmen und sie immer durchhörbar zu lassen.

Valentin Schwarz Ring-Inszenierung ist ja sehr modern und wird auch z.T. heftig kritisiert. Finnische Künstler sind dagegen sehr eng mit der Moderne verbunden und somit auch sehr offen für Neues. Gibt es eine Grenze, eine Inszenierung, wo Sie selbst Nein sagen würden?
Ein Werk wie Wagners Ring ist immer aktuell, deshalb ist es durchaus legitim, ihn sehr modern und aktuell zu inszenieren. Wobei allerdings Musik und Szene eine Einheit bilden sollen. Als Künstler müssen wir Neues versuchen, Musik und Kunst fordern das regelrecht von uns. Was ich allerdings nicht mag, sind Inszenierungen, die gegen die Musik arbeiten oder aber billige Kopien. Jede Inszenierung soll ihre Eigenständigkeit besitzen und bestenfalls nicht von einem anderen Regisseur übernommen, resp. kopiert werden. Das ist Plagiat für mich und ein Grund, mich von einer solchen Inszenierung zu distanzieren. Momentan bin ich sehr tolerant, kann mir aber vorstellen, dass ich, wenn ich älter bin, nicht mehr unbedingt alles mitmachen werde. Selbst ein an der modernen Musik und an aktuellen Inszenierungen geeichter Dirigent wie Christoph von Dohnanyi sagte manchmal Nein, auch Marek Janowski hat sich gegen moderne Inszenierungen gestellt und dirigiert Oper nur noch konzertant. Ich denke, man muss ehrlich mit sich selbst sein. Wir Dirigenten entwickeln und ja auch weiter. Schauen Sie, Colin Davis wollte zum Schluss nur noch Jugendorchester dirigieren und die jungen Musiker pädagogisch leiten. Auf den Pulten der großen Orchester hatte er alles gesagt.

DRP mit Pietari Inkinen
(c) Werner Richner

Seit 2017 sind Sie nun Chefdirigent bei der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken – Kaiserslautern. Und deutsche Radioorchester sind ja für ihren Einsatz in Sachen moderne und zeitgenössische Musik bekannt. Welche Akzente setzen Sie denn bei ihrem Orchester?
Moderne Musik, zeitgenössische Werke, neue Konzepte, das ist alles enorm wichtig. Aber es ist nur eine Seite unserer Musiklandschaft. Als Deutsche Radiophilharmonie versuchen wir, wie übrigens die meisten Symphonieorchester, die gesamte Bandbreite abzudecken. Also von Bach und Haydn hin zu den Komponisten von heute, denen man selbstverständlich unbedingt eine Bühne geben muss. Ich muss allerdings zugeben, dass mein Hauptfach die spätromantische Musik ist. Da fühle ich mich wohl, da bin ich zu Hause. Generell ist es aber eines sehr wichtig:  Wir Musiker müssen offen für alles bleiben. Und z.B. auch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis in unsere Arbeit mitaufnehmen und sie gegebenenfalls an ein modernes Symphonieorchester anpassen. Zudem müssen wir uns auch immer wieder dem Konzertalltag anpassen.

Sie hatten vorher die Corona-Pandemie angesprochen. Wie weit wurde die Musikwelt dadurch verändert?
Vieles hat sich seither verändert, sowohl im Negativen wie auch im Positiven. Leider bleiben viele Leute jetzt zu Hause, haben Angst vor der Masse und haben so das Live-Erlebnis gegen Streaming oder DVD-Aufnahmen eingetauscht. Ich persönlich finde das sehr schade, denn  Musik ist nur live wirklich echt. Und an einem reellen Konzert mit Publikum und Musikern teilzunehmen, ist immer eine bereichernde und unwiederholbare Erfahrung. Auf der anderen Seite sind wir alle flexibler geworden. Wir können und müssen uns einfach schneller anpassen. Der rückläufige Verkauf der sogenannten Abonnements zeigt es uns. Die Leute entscheiden sich im letzten Moment, on sie ein Konzert besuchen oder nicht. Und auch wir Musiker mussten durch Corona lernen, noch flexibler zu sein, in letzter Minute Programme zu ändern, schnell etwas anderes zu lernen und zu spielen. Plötzlich konnte man ein Konzert doch nicht mit den Bläsern, sondern nur mit den Streichern spielen, oder Konzerte fielen ganz aus und wurden verlegt, Programme kurzfristig geändert, ja auch die Sitzordnung der Musiker im Orchester musste immer wieder neu angepasst werden. Die wahren Helden der Pandemie im Konzertbetrieb aber waren die Bibliothekare, die oft das Unmöglichste leisteten und in letzter Minute Material hervorzaubern mussten, damit wir die richtigen Partituren schnell zur Hand hatten. Ohne sie hätten sehr viele Konzerte überhaupt nicht stattfinden können.

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