Alain Steffen im Gespräch mit der außergewöhnlich vielseitig interessierten deutsch-japanischen Pianistin und Musikwissenschaftlerin Sophie-Mayuko Vetter.

Sophie Mayuko Vetter
© by Wilfried Beege

Frau Vetter, Sie haben vor wenigen Wochen die Klavierkonzerte KV 453 und KV 595 sowie diverse Raritäten von Mozart für Oehms aufgenommen. Wie war die Zusammenarbeit mit den Hamburger Symphonikern?
Es war ein beglückendes Erlebnis! So gab es magische Momente eines ‘jetzt oder nie’, die man sonst eher in Konzerten vermuten würde, aber auf CDs gerade deswegen essentiell sind. Diese Projektphase begann mit drei Probetagen für unseren Konzertabend, woran sich die Aufnahmetage angeschlossen haben. Danach hatte ich aber bei weitem noch nicht genug – ich war am Morgen nach der Aufnahme schon beim Aufwachen ganz traurig, dass wir nicht einfach weiter aufnahmen! In mir kam dabei auch eine Sehnsucht nach so vielen Gesichtern des Orchesters auf, die ich während des Projektes ins Herz geschlossen habe. So musste ich gleich einen Geiger aus dem Orchester anrufen und mir den morgendlichen Smalltalk mit dem Orchester auf dieser Weise importieren. Dann ging ich an den Flügel zum Üben und ertappte mich dabei, wie ich die soeben aufgenommenen Klavierkonzerte weiter zu feilen begann, weil mir in der Nacht Aspekte darin bewusst wurden, die ich für die Aufführungen in Frankreich, Rumänien und Japan realisieren wollte. Obwohl doch erst ganz andere Werke an der Reihe sind, konnte ich wieder einmal nicht loslassen (lacht). Ich fühlte mich durch die warme Kollegialität der Musiker und des Dirigenten, aber auch der Tonmeister und des Steinway- Technikers beflügelt. Wir waren gleichsam eine kammermusikalische Einheit – hielten aber auch sonst zusammen: etwa zum dritten und letzten Aufnahmetag, wo die Zeit für das Sujet ‘Mozartsche Raritäten » fest eingeplant war. Dann kamen jedoch etwa zehn freundliche, aber bestimmte, muskelbepackte Mannsbilder zum Aufnahmeflügel: Die eine Hälfte wollte den Flügel mitnehmen, die andere Hälfte den Saal umbauen! Irgendwo war ein nicht zu klärendes Missverständnis bezüglich inklusive oder exklusive Donnerstag (lacht). Meine beiden Tonmeister und der Stimmer, allesamt filigran, bildeten spontan einen Spalier und taten wirklich alles, um den wunderbaren Flügel zu verteidigen. So bekamen wir dank der netten Klaviertransporteure noch einen kurzen Moment Karenzzeit, worin wir noch eilig die Kadenzen aufnahmen, dann aber wurde schon der Saal vom zweiten Team unter Bedauern umgeräumt und die Mozartschen Raritäten mussten vertagt werden. Wir konnten jedoch inzwischen einen neuen halben Tag terminieren, Gottseidank. Das war aber auch eine Situation wie aus einem Loriot-Sketch! Stellen Sie sich mal vor, Sie kommen auf die Bühne, das Publikum klatscht, und vis-à-vis kommt lächelnd Herr Schwarzenegger und rollt den Flügel weg…

Warum gerade diese Konzerte? Und vor allem: was macht gerade Mozart für Sie heute interessant?
Ich war sehr glücklich, als mir eröffnet wurde, gemeinsam mit den Hamburger Symphonikern ein Mozart-Projekt zu realisieren – in der Friedrich-Ebert-Halle, die für ihre klare Akustik gerade für Orchesteraufnahmen begehrt ist. Zugleich kamen unvermeidbar jene Überlegungen, die man als Hammerflügelpianist bei einem solchen Angebot hat: Seit meiner Kindheit, später in meinem Studium der historischen Aufführungspraxis sowie in meiner Duo-Partnerschaft mit Rainer Kussmaul, war Mozart für mich ein ‘heiliger’ Komponist, den ich eigentlich nie auf einem modernen Instrument gespielt habe.
Was bedeutet es nun, im Jahre 2015 durch die Reflexion der historischen Aufführungspraxis Mozart auf einem modernen Instrumentarium aufzunehmen?
Durch diese Frage schließlich, die ich ein wenig später in unserem Gespräch gründlicher erläutern werde, erwuchs für mich das Motto dieser CD. Und die Auseinandersetzung damit war derart spannend, dass dieses Projekt genau so, wie es zu mir kam, zu einem absoluten Wunschprojekt geworden ist.
Die beiden Dur-Klavierkonzerte stehen charakterlich in einem größtmöglichen Kontrast: Mit dem Klavierkonzert KV 453 trifft hier ein Werk voller Lebensfreude auf ein Spätwerk Mozarts, dem KV 595, wo selbst im Moment des Lächelns die Todesahnung mitschwingt. Das Lied ‘Sehnsucht nach dem Frühlinge’ begegnet hier dem Hörer im Refrain-Thema des Rondos zunächst scheinbar fröhlich, doch entledigt es sich von Mal zu Mal gleichsam von seinem Mantel des Diesseitigen, bis es nach der Kadenz nur noch als lichter, zerbrechlicher Schatten erscheint.
Der dann folgende Ausbruch einer brillanten Coda macht auf mich den Eindruck eines Trugbildes, eines Fremdkörpers – ähnlich unmöglich wie die Existenz eines verstörenden Regenbogens, einer grellen Messerklinge gleich, im dunklen Firmament der ‘Gebirgslandschaft mit Regenbogen’ von Caspar David Friedrich. In dieser geradezu grausam triumphalen Coda überfallen uns mit einem grellen Lachen die Elementargeister, die uns in ihrem Reigen einschließen und zur Tode tanzen lassen.
Man muss indes jedem einzelnen Klavierkonzert von Mozart mit einem anderen Klang und Charakter begegnen. Sogar jeder einzelnen Phrase: Seine Klavierkonzerte sind ja wie Opernwerke, in denen viele Akteure von unterschiedlichem Charakter auf der Bühne in Interaktion treten. Genau diese Rollenspiele bilden wir als Pianist in einer einzigen Hand ab. Diese Charaktere darzustellen, gelingt dabei nur, in dem wir diese in ihren Schichten nicht nur vor-, sondern auch zurückzudenkend verfolgen.

© by Kevin Ku

Wird man denn mit solch oft eingespielten Konzerten auf dem CD-Markt überhaupt noch wahrgenommen?
Dieser Frage muss man sich natürlich stellen. Aber gerade Mozarts Klavierkonzerte gehören zu jenen Werken, bei denen die Neugierde des Hörers auf eine neue Interpretation im Wandel der Zeit immer präsent sein wird, auch angesichts verschiedener Lesarten der historisch informierten Aufführungspraxis.
Und in unserer Zeit, wo man sich als Musikschaffende mit der Existenz der musikalischen Streaming- und Downloadangebote immer mehr auseinanderzusetzen hat, begegnet man einem interessanten Phänomen: dass nicht nur Spezialisten, sondern auch Liebhaber immer mehr die Lust an vergleichenden Interpretationsanalysen entdecken, um schließlich ihrem eigenen Mozart zu begegnen, wobei der Interpret als ‘Medium’ des Komponisten empfunden wird. Der Komponist erlangt hierbei wieder primäre Wichtigkeit. Natürlich kann man die komplexe Entwicklung, die der Musikmarkt gerade durchmacht, nicht vorhersagen. Aber der Gedanke, dass ausgerechnet diese technologische Entwicklung zu einem Umdenken anregen könnte, wodurch dem musikalischen Inhalt künftig eine noch größere Rolle zuteil wird, ist doch zumindest ein verlockendes Gedankenspiel (…wobei ich fest an die parallele Weiterexistenz der CD glaube – die Lust am ‘Haptischen » wohnt im Gen des Musikgenießers!)
Mal ganz abgesehen von diesen Überlegungen: Mozarts Klavierkonzerte sind einfach besondere Juwelen der Musikgeschichte, von denen man nie genug Versionen im Schrank haben kann, meinen Sie nicht? Dazu noch Raritäten Alter und Neuer Musik – diese Mischung macht oft das Hör-Bouquet eines Klassikliebhabers aus, das ich nicht nur im CD-Repertoire spiegeln und ausreizen möchte, sondern auch in meinen Konzerten. Hierbei ‘komponiere’ ich für meine Hörer regelrecht die Programme: Es ist mir wichtig, Vertrautes und weniger Vertrautes, Tradition und Moderne mit einem roten Faden konzeptionell miteinander zu verbinden, sie untereinander in Spannung treten zu lassen. Dabei Vertrautes in der Intensität und dem Authentizitätsanspruch einer Erstaufführung erklingen zu lassen sowie Modernes im sinnlichen Kontext der historischen Linie zu erleben. Was in einem konzertanten Mischprogramm möglich ist, kann man natürlich nicht auf einer einzigen CD ausloten, da diese meist einem einzelnen Komponisten gewidmet ist. Allerdings habe ich bei meinen ersten Dutzend CD-Aufnahmen durchaus das besondere Augenmerk auf Raritäten sowie Erstaufnahmen zeitgenössischer Werke gelegt; auch in diesem Jahr wieder mit Kompositionen von Peter Ruzicka und dem späten Liszt. Erst mit meinen weiteren aktuellen Aufnahmen von Brahms sowie Mozart, habe ich wieder das Gebiet des pianistischen Kernrepertoires berührt. Allerdings nicht, ohne dabei die Raritäten der jeweiligen Komponisten mit aufs Programm zu nehmen. Bei unserer Mozart-CD wird das Hell und Dunkel der Klavierkonzerte in zwei Fragmentwerken gespiegelt: Erstens im Konzert in D für Violine, Klavier und Orchester KV Anh. 56 (315f). Es handelt sich hierbei um ein Fragment, das abrupt nach etwa vier Minuten endet. Für dieses Doppelkonzert haben wir einen ganz großen Geiger gewinnen können! Mehr darf ich heute noch nicht verraten, obwohl mir gerade fast mein Mund platzt. Genau dieser Geiger wird wohl auch die kurze Violinphrase spielen, die in der Eigenschrift des dramatisch-dunklen Fragmentes der sogenannten ‘Klavierfantasie’ c-Moll KV396 (385f) zwar von Mozart notiert, aber noch nie aufgenommen wurde. Dieses Fragment wurde bereits ein paar Jahre nach dem Tod Mozarts von seinem Freund, dem Benediktiner-Abt Maximilian Stadler, pianistisch um eine ausdrucksstarke Durchführung nebst Reprise so komplettiert, dass die Formteile gleichsam verschmelzen. Ja, wie geht man mit Fragmenten um? Wir finden, dass unsere Lösungen die CD-Gesamtkomposition spannend ergänzen – aber sie stellen natürlich nur eine der sich bietenden Möglichkeiten dar.

In Ihrer kürzlich bei Hänssler Classic erschienenen Brahms-CD fällt einerseits eine sehr offene und musikantische Herangehensweise, andererseits aber auch ein sehr intimistisches, reflektives Interpretationskonzept auf. Worauf kam es Ihnen bei dieser Brahms-Einspielung, die ja wie ein Konzeptalbum zusammengesetzt ist, denn an?
Ich freue mich, dass Sie diese CD als Konzeptalbum wahrgenommen haben. Tatsächlich möchte ich darin Brahms’ Verneigung vor dem Barock abbilden. Und diese Geste ist musikalisch zweifach begründet. Zum einen – wie Sie sagen – im Musikantischen, das sich ja in den barocken Tänzen der Suite widerspiegelt. Und zum anderen durch die sakralen Momente, die in den aufgenommenen Spätwerken, ganz besonders im Opus 117 und Opus 118, eine große Rolle spielen – etwa durch die rege Verwendung der Kirchentonarten, aber auch durch die enge kompositorische Verwandtschaft mit seinen ‘Vier Ernsten Gesängen’ op. 121, die auf Texte aus dem Alten Testament komponiert sind. Der rote Faden des Programms führte mich noch zu einer Rarität, die erst im Jahr meiner Aufnahme entdeckt wurde: das Albumblatt in a-moll. Brahms rekomponierte dieses 1853 entstandene Werk 12 Jahre später im Scherzo seines Horntrios op. 40. Dessen Adagio, das er gleichsam als Requiem für seine Mutter schrieb, erklingt im berückenden ‘mesto’ in der bei Brahms äußert seltenen Tonart es-Moll – beides geheime Parallelen zum finalen es-Moll-Intermezzo des eingespielten Opus 118, worin die Musik um das Dies-Irae-Motiv der lateinischen Totenmesse kreist. Ich muss anmerken, dass ich einen Tag vor der Aufnahme erfahren hatte, dass mein Vater, dem ich diese CD gewidmet habe, sehr ernst erkrankt war. Er ist ein Jahr später verstorben. Solch eine Nachricht kann man bei einer Aufnahme natürlich nicht verdrängen, und ich weiß noch, dass ich meine ganze Sehnsucht an ihn in die Interpretation dieser Werke gelegt habe. Ich erinnerte mich dabei auch an ein Kindheitserlebnis, wo ich, nachdem ich die drei Intermezzi op. 117 gehört hatte, nachts aufgewacht und zu meinem Vater gerannt bin. Ich fragte ihn atemlos: “Papa, gibt es ein Leben nach dem Tod? Sehen wir uns dort ganz bestimmt wieder? »

Heute spielen ja Interpreten die Musik des 19. Jahrhunderts mit einem ganz anderen Wissen als Hintergrund. Die Darmstädter Schule, die historische Aufführungspraxis, das Kennen eines Repertoires, das sich über Jahrhunderte erstreckt, all dies wirkt sich ja direkt oder indirekt auf die Interpretation des heutigen Künstlers aus.
Ja, das spielt für den Interpreten eine große Rolle. Was man aber auf dem ersten Blick nicht vermuten würde: Dies gilt auch umgekehrt, denn in der Auseinandersetzung mit den Zeitgenossen lernt man viel darüber, wie man sich der Musik der Tradition näheren kann. Lassen Sie mich etwas weiter ausholen. Schönberg hielt 1933 einen Vortrag mit dem Titel « Brahms, der Fortschrittliche », und auch für Berg und Webern war Brahms ein Vorbild: Nicht nur für die romantischen Zeitgenossen als Vordenker, sondern noch für Generationen später durch seine progressive, staunenerregende Komplexität.
Die Avantgarde ist also nicht an eine Epoche gebunden, sondern findet vielmehr in unserer Wahrnehmung statt. Und diese wiederum wird dem Publikum erst erfahrbar, wenn sie durch uns Interpreten fließt. Findet dies in Form einer Uraufführung zum ersten Mal statt, ist die Verantwortung natürlich besonders groß. Denn wenn ein Pianist die Brahmsschen Klavierwerke schlecht spielt, ist er es ja nur, der von der Presse verrissen wird, und nicht Brahms, denn die Genialität seiner Werke kennt jeder durch verschiedenste Interpretationen, und die Tonsprache ist allgemein vertraut. Wenn aber ein noch nicht allbekannter Komponist unserer Zeit in den entscheidenden Momenten seiner Karriere Pech mit einem Interpreten hatte, die seine Uraufführungen dem Publikum leichtfertig als wirres Etwas hinterlassen haben, kann das schlimme Folgen haben für dieses vermeintlich schlechte Werk, das laut Presse, Veranstalter und Publikum vom ach so inspirierten, engagierten Pianisten versucht wurde zu retten. Denn dieser schaute ja erleuchtet in den Himmel und wirbelte virtuos mit den Händen – damit nicht auffällt, dass er dieses Stück nicht geübt hat (lacht). Häufen sich solche Ereignisse, kann selbst ein hervorragender Komponist für immer verkannt bleiben.
Sie können es sich daher vielleicht vorstellen, was für eine Verantwortung man als Interpret in einer Situation wie dieser spürt: Claus-Steffen Mahnkopf bekam einen Auftrag, für die Salzburger Festspiele ein Klavierkonzert zu schreiben. Er vertraute mir hierfür die Uraufführung an, widmete mir das Stück. Ich habe dieses Werk so intensiv wie nichts zuvor eingeübt – erst eine gefühlte Ewigkeit auf Millimeterpapier und Taschenrechner, bis sich sein Werk an den Tasten als tanzende Naturgewalt entpuppte. Es ging alles gut, wir waren so glücklich! Das Spannende ist für mich, dass mit jeder Uraufführung, die ich seither spiele, immer ein Stück dieses Gefühls, dem Werk bei der letzten Geburtspassage mit der maximalen Verantwortung dienen zu wollen, hängen bleibt – und sich auf meine Konzerte mit traditionellem Repertoire überträgt. Wenn Komponisten einem Musiker Werke schreiben, entsteht eine so intensive, geradezu freundschaftlich vertrauensvolle Zusammenarbeit, dass diese bei mir für diese Zeit gleichsam monogam vonstatten geht. Dabei nehme ich Altersunterschiede, wie etwa zu Henri Pousseur, gar nicht erst wahr. Es passiert das, was ich mir etwa bei Schubert so sehr gewünscht habe – ihn selbst zu befragen, mit ihm einmal spazieren zu gehen -, aber natürlich nur auf sublimierte Weise erreicht werden kann.
Diese extrem bereichernde Erfahrung durch den direkten Kontakt zu Komponisten wirkt sich allerdings weiter auf meine Wahrnehmung des klassischen Repertoires aus. Denn durch die Gespräche mit ihnen lerne ich etwa, ein Gespür für das zwischen den Zeilen Erwünschte zu schärfen. Man bekommt das Ringen der Komponisten um die Notation mancher Stellen mit, wo die dahinter steckende Idee dem Komponisten über das Notierbare hinaus mit heiligem Ernst erfüllt. Kompositionsskizzen, aber auch Briefe und andere Zeugen von Wahrnehmungen dieser Meister vergangener Zeiten sind für mich vor diesem Hintergrund umso interessanter zu lesen, denn es ist ein wenig so, als würde man dem quicklebendigen Schönberg beim Komponieren über die Schulter schauen, Fragen beantwortet bekommen.

Sie sind ja nicht nur Musikerin, sondern auch Musikwissenschaftlerin. Kann die Wissenschaft nicht manchmal auch ein Hindernis für die Interpretin Sophie-Mayuko Vetter sein?
Ich fühle mich in erster Linie als Interpretin. Musikwissenschaft ist daher für mich persönlich die Konsequenz der Achtsamkeit, Demut und Leidenschaft in meiner täglichen Begegnung mit der Musik und deren Vermittlung, und steht niemals isoliert. So wie ich Musikwissenschaft begriffen habe, dient sie in all den Facetten ihrer Disziplin dazu, dem Menschen in der Musik noch mehr Authentizität und Differenzierungen entdecken zu lassen, die einen zum Aufhorchen bringen. Dieses Bewusstsein verdanke ich Hans Heinrich Eggebrecht, meinem ersten Lehrer dieses Fachs, aber auch und gerade Musikwissenschaftlern wie Claus-Steffen Mahnkopf und Peter Gülke – dem ich den wunderbaren Booklettext zur Brahms-CD verdanke -, die aus ihrer musikalischen Praxis heraus agieren. Wenn ich mir recht überlege, gibt es für mich eigentlich keinen großen Unterschied, ob ich einen musikwissenschaftlichen Text verfasse – sei es für ein Buch, Zeitschrift, CD-Booklet, eine Rundfunksendung, ein moderiertes Konzert et cetera -, oder dieselben Gedanken und Recherchen für meine unmittelbar interpretatorische Tätigkeit anstelle, um sie dann mit geschärftem Bewusstsein, aber allvergessend als pures Klangresultat meinen Zuhörern zu übermittlen und mit ihnen gemeinsam jedes Mal aufs Neue auf eine Entdeckungsreise zu gehen. Nach einer derart intensiven Beschäftigung mit der Materie kommt oft urplötzlich ein Moment, wo ich die Musik loslassen kann, weil sie mir in ihrer Totalität, ihrer Mikrostruktur und im Kontext allzugleich als zwingende Konsequenz aufgeht. Es ist ein Moment, wo sich plötzlich alles rauschhaft in Farbe und Leben hüllt. So, als würde man sich intensiv in einen Menschen verlieben – aber zum zweiten Mal, aufgrund alles dessen, was man nun mit dem Auge des Liebenden kennengelernt hat. Und dieser Rausch eröffnet eine Menge an musikalischer Freiheit, Spontaneität, Fantasie und Entfesselung, die mich dazu bringt, auf der Bühne ‘fliegen’ zu können. Denn nur, wenn ich Wurzeln habe, wachsen mir Flügel. Dabei lässt man die Energie ins Publikum fliegen, sie reflektiert diesen zurück, was wir dankbar aufnehmen – so entsteht ein Kreislauf von 90 Minuten, das wir Konzert nennen.

Was versteht man unter Hochbegabung?
Was ist Hochbegabung? Was ist ein Wunderkind? Was ist überhaupt ein Wunder? Das ist doch wie die Liebe. Man kann sie zwar chemisch verifizieren, aber alle Erklärungsversuche bleiben ja immer eine Umschreibung des nie Fassbaren. Wenn ein Kind Instrumentalunterricht bekommt, erwirbt es nach einer recht kurzen Zeit eine gewisse manuelle Fähigkeit. Und diese bringt die sprudelnde musikalische Quelle im Kind, sofern sie denn in ihr schlummert, plötzlich zum Klingen. Diese Leitung von der Quelle bis zu den Fingerspitzen « steht » dann gleichsam von einem Tag auf den anderen, und ab diesem Moment spricht unvermittelt aus diesem kleinen Menschlein die Musik in einer erstaunlichen, für sich schlüssigen Vollkommenheit. Dieses Ereignis überfordert oft die Umwelt, die Suggestion eines sogenannten Wunderkindes ist nun da. Dabei gibt sich hierbei nur die musikalische Persönlichkeit in dem Kind zum ersten Mal zu erkennen – im Kern ist hierin alles vorhanden, woran man diese auch nach 80 Jahren wiedererkennt, denn die musikalische Seele, die man als Hörer wahrnimmt, bleibt nach 80 Jahren an Erfahrungen und Repertoirezuwachs auch dieselbe.
Eine unverdorbene musikalische Quelle ist in sich so vollkommen und in seiner eigenen Art so weise – diese reine Quelle durch verschiedene Gesteinsschichten des Erwachsenwerdens nicht zu verunreinigen, sondern diese verschiedenen Metamorphosen sowie den Prüfungen des Lebens mit neu hinzugewonnener Stärke und Liebe zur Musik zu überstehen, ist die eigentliche, oftmals sehr harte Herausforderung.

Sie haben mit vier Jahren begonnen, Klavier zu spielen und wurden dann auch schnell in die Schublade des Wunderkindes und der Hochbegabten gesteckt. Wie geht man gerade als Kind oder Jugendliche mit diesen Erwartungen um?
‘Die’ Wunderkindprobleme haben meiner Meinung nach nur selten eine Eigendynamik – da auch unsere Biografien nicht in Reagenzgläsern entstehen, beeinflussen etwa schwere Schicksalsschläge die Art der Zellteilung des musikalischen Seins. Hierbei muss man auch mal gegen starke äußere Widerstände seinen Weg zur Musik gehen.
Aber sicherlich hatte alles seinen Sinn. Im Nachhinein denke ich, dass ein Weg, der letztendlich alleine und aus eigenem Willen freigekämpft werden musste, vielleicht ein Lackmustest war, um zu sehen, ob meine Liebe zur Musik groß genug ist, um all die Lebensprüfungen auf diesem Weg bestehen zu können oder zu wollen. Wenn ja, steht man die Tränen durch. Wie ein Löwenzahn, der durch den Asphalt blüht.
Nun aber nur zum Glücklichen, Harmonischen! Denn so empfand ich den Beginn meiner musikalischen Entwicklung, die Musik war in der Familie allgegenwärtig. Etwa, dass sie meine Babywiege einfach zwischen sich stellten, als sie damals den ganzen Tag Stockhausen übten. Kurz, bevor ich vierjährig mit dem Klavierspiel begonnen
habe, hat mein Vater täglich mit mir das Obertonsingen geübt. Ein gutes Dutzend Jahre lang übte, konzertierte und unterrichtete ich gemeinsam mit meinem Vater diese Disziplin, die vielleicht mein Hörverständnis am stärksten geprägt hat. Kurz erklärt, handelt es sich hierbei um eine Vokaltechnik, durchs Horchen ins Innere des gesungenen Grundtones dessen Obertöne zu fokussieren und in bis zu vier übereinander gelagerten polyphonen Stimmen eigenständig zu bewegen. Bei alldem aber die Klangästhetik zu kultivieren, ist die größte Herausforderung, wie beim Klavierspiel.
So kam es, dass ich nach den ersten Musikschulstunden in Theorie, Klavier, Geige und Komposition begonnen habe, wie von der Tarantel gestochen täglich mehrere Stunden zu komponieren, da ich plötzlich alles, was sich musikalisch in mir staute, auf Papier bringen durfte. Zunächst Klavierstücke, später natürlich unzählige Obertonduette für mich und meinen Vater – wobei ich zugunsten des Duos nur zwei Obertonschichten komponierte, diese aber in der rhythmischen Struktur enorm ausreizte. Ich liebte den Rhythmus! Das Klavierspiel war so gesehen eigentlich nur ein Schritt in meiner Entwicklung als ‘homo musicus’, sie stand nicht plötzlich in meinem Leben.
Ich habe mich aber nie als ‘Wunderkind’ gefühlt, sondern war ein normales, sehr geselliges Kind mit einem großen Bewegungsdrang, das neben den nächsten Kompositionen auch allerlei Streiche mit Freundinnen im Kopf hatte. Damit war aber nach zwei Jahren Schluss: Allein das Klavierüben stand sieben Stunden am Tag auf der Agenda – gegen eine unerbittliche Stoppuhr, die angehalten wurde, wenn ich auf die Toilette musste, schleichen war hier leider zwecklos (lacht). Bei Fieber gab es ab 39 Grad etwas Überabatt. Herumtollen war ab dieser Zeit auch nicht mehr erlaubt. Dies aber aus sehr gutem Grund, denn wir Pianisten müssen zwar beweglich bleiben, dürfen uns aber niemals dem Risiko eines Sportunfalls aussetzen. Gottseidank musste ich noch nie ein Konzert absagen, und so soll es bleiben. Wenn man sich für diesen Weg entscheidet, muss man sich ohnehin bewusst sein, dass man bis zum Lebensende auf vieles verzichten muss – man kann eigentlich erst wieder im Jenseits rollschuhfahren.
Ich fühle oft in mir eine sehr gemütliche Katze, auch habe ich zahlreiche außermusikalische Interessen. Umso mehr muss ich mich täglich dazu disziplinieren, ein Workaholic zu sein. Auch, wenn einem Freunde für meine Fokussiertheit den Vogel zeigen. Auch, wenn man dadurch nicht nur die erste Liebe verlor. Klar, man kommt dabei immer wieder in Gewissenkonflikte -insbesondere, wenn man zwischenmenschliche Beziehungen so ernst nimmt, wie es bei mir der Fall ist. Am liebsten möchte ich meine Freunde täglich bekochen und bei deren Liebeskummer nonstop erreichbar sein. Ganz lasse ich mir das aber nicht nehmen. Und schon gar nicht, meinen Lebenspartner nach Kräften zu unterstützen!

Bedauern Sie manchmal Ihren Entschluss, sich hundertprozentig der Musik und eben nicht dem echten Leben verschrieben zu haben?
Nein, nie eine Sekunde! Ich dachte sogar vorher, als ich sagte, im Jenseits könnte ich endlich wieder rollschuhfahren: Was, ich kann mich doch nicht einfach vom Klavier trennen? Also: bis der Tod uns nicht scheidet! Allein was das gerade besprochene menschliche Miteinander betrifft, schenkt mir mein Beruf wunderbare Momente. So vieles geschieht nur im Teamwork. Auch baut sich in Konzerten eine Intimität zum Publikum auf: man gibt sein Innerstes frei, und spürt zugleich, dass diese Berührung von vielen Seelen reflektiert wird. Früher machte mir das Publikum dies nach dem Konzert bewußt, mittlerweile spüre ich diesen Moment unmittelbar und liebe ihn sehr. Hierauf freue ich mich vor dem Konzert am meisten und bin gespannt wie auf ein Überraschungsgeschenk, denn ob ich nun in Japan oder Europa, in Köln oder in Düsseldorf spiele – die Energie des Publikums, womit ich in Austausch trete, hat überall ein anderes Gesicht. Besonders intensive Erlebnisse hierbei hatte ich immer wieder, wenn ich mit der Musik einem speziellen Publikum Trost spenden durfte. Es ist, als käme man auf die Wurzel der Motivation zurück, warum man überhaupt Musik macht. Musik verbindet, Musik tröstet; Musik kann verändern. Nicht die Welt, aber den Menschen, und daher doch die Gesellschaft. Dieser Verpflichtung sollte man sich als Musiker bewusst stellen, denke ich. Hierbei bin ich Menschen begegnet, die unglaubliches leisten. Aktuell bin ich beim Planen und Recherchieren für Konzerte zu Gunsten unserer Flüchtlinge auf das erst vor kurzem gegründete Syrische Exilorchester in Bremen aufmerksam geworden. Welch’ leidenschaftliche Menschen und Musiker!
Und immer, wenn ich selbst Trost brauche, denke ich an eine Fra-Angelico-Karte, worauf mein Lieblingspianist Andras Schiff geschrieben hat: Spiele wie ein Engel. Diese Karte war seine Antwort auf meinen 8-seitigen Liebesbrief an sein Spiel, den ich ihm direkt nach meiner Übersiedlung im gebrochenen Deutsch schrieb (lacht).

Sie haben sowohl bei Edith Picht-Axenfeld wie auch bei Robert Hill Historische Aufführungspraxis studiert.
Als Kind habe ich begonnen, bei Edith Picht-Axenfeld am Klavier und Hammerflügel Privatunterricht zu nehmen. Dies setzte sich fort bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 – meine Güte, wie glasklar und energisch sie noch kurz vor ihrem Tod unterrichtet hat! Ihrem Sohn Johannes – einem wunderbaren Weggefährten und Musiker, der mich überhaupt zu Edith gebracht hat – verdanke ich, dass ich weiterhin an ihrem Hammerflügel spielen darf. Hier fühle ich mich ihr so nah…! Ich habe bei ihr sehr viel Bach gelernt, aber sie war ebenso eine Avantgardistin wie eine Spezialistin für die historische Aufführungspraxis. Bei Robert Hill habe ich dieses Fach dann in der Musikhochschule studiert. Er hat nicht nur ein profundes Wissen und Können, das er seinen Schülern auf diesem Gebiet weitergibt, sondern machte uns auf eine einzigartig differenzierte Weise Mut, Mut zu haben.

Dann war es ja fast eine Fügung, dass Sie gerade in Freiburg ihr Studium gemacht haben. Freiburg ist ja quasi die Brutstätte einerseits für Zeitgenössische Musik und andererseits für historische Aufführungspraxis.
…genau, und dies entsprach der Persönlichkeit und dem pädagogischen Ethos von Edith Picht-Axenfeld, die ein Gründungsmitglied unserer Hochschule war und von Beginn an zu diesem Ambiente beigetragen hat. Noch heute spüren wir den Geist dieser großartigen Frau – man muss sich aber auch aktiv der Aufgabe stellen, dieses Geschenk durch unsere Generation immer weiter fortzutragen. Die Stadt selbst ist übrigens auch nicht ganz unschuldig an der Atmosphäre, die Sie beschreiben, denn sie ist reichlich inspirierend: es gibt hier immer noch die Aufbruchsstimmung und den Pioniergeist der späten sechziger Jahre, was mir sehr sympathisch ist. Hier fühle ich mich zuhause!

Wie wichtig sind eigentlich Lehrer für den angehenden Musiker?
Gerade in der Anfangszeit, also meistens noch im Kindesalter, ist die Verantwortung des Lehrers ganz besonders groß. Denn hier besteht die Gefahr, dass dem Kind, das beim ‘Herumklimpern’ eigentlich eine erstaunlich organische Spielart hat, eine unphysiogische Technik beigebracht, aber auch eine inkongruente musikalische Persönlichkeit aufgesetzt wird, worunter sie später leiden. Wenn ich selbst unterrichte, bemühe ich mich daher sehr, herauszuhören, welcher Interpret eigentlich in dem Studenten steckt, um diesen zu unterstützen. Ebenso muss ich ihm eine Technik mit auf den Weg geben, der die individuelle Physis des Schülers berücksichtigt. Ganz wichtig ist es, dem Schüler sein Gehör zu schulen. Im Unterricht meiner Schüler spielen die Obertöne dabei eine tragende Rolle. Nicht nur hier ist es mein großes Bedürfnis, die Lehren meines Vaters in jeder Sekunde des Lebens weiterzutragen.
Jeder Pianist wird seit seiner Kindheit über die Studienzeit bis zum Erwachsenenalter vielen verschiedenen Lehrern begegnen. Dies ist ebenso unvermeidlich wie die Tatsache, dass sie einem auch oft das jeweilige Gegenteil lehren (lacht). Man ist letztendlich immer für sich selbst verantwortlich. Je bewusster man sich im Laufe der Zeit über sein musikalisches Ich wird – oft gerade durch Reibungssituationen mit den Lehrern -, desto sicherer, reflektierter und produktiver kann man mit Einflüssen umgehen.
Ich selber hatte ja das Glück, seit meiner Übersiedlung nach Deutschland in Edith eine ostinate Mentorin gefunden zu haben. Mit neun Jahren wurde ich als Jungstudentin in die Musikhochschule Freiburg aufgenommen und studierte parallel bei Elza Kolodin. Sie war eine Spezialistin für pianistische Frühförderung, die sich mit Edith sehr gut verstand. Wenig später studierte ich in der Hochschulklasse von Vitaly Margulis, einem hervorragenden Klavierpädagogen. Wie allgemein bekannt, konnte er einem eine sehr stabile Klaviertechnik beibringen – allein Dank ihm war ich damals mit vierzehn Jahren imstande, die 24 Préludes von Chopin aufzunehmen. Bei Bach flogen oft die Fetzen zwischen mir und ihm, aber im russischen Klangfarbenfetischismus, den er uns auf einmalige Weise nahebrachte, waren wir ein Herz und eine Seele! Er war zudem ein fantastischer Pianist. Ebenso wie sein Nachfolger in der Hochschule, dem Enescu-Spezialisten Tibor Szasz, bei dem ich meinen Abschluss gemacht habe. Danach ging ich in London zu Peter Feuchtwanger in die Lehre. Durch ihn habe ich eine Aufführungspraxis im Spiegel des goldenen Belcanto-Zeitalters kennengelernt und wurde an die entlegenen Kostbarkeiten der Musikliteratur herangeführt. Seine Technik war für mich eine Offenbarung und schien mir ganz anders zu sein als alles bisher gelernte, insbesondere jene für mich maßstäbliche von Margulis. Ich habe hart an mir gearbeitet, um eine Synthese zu finden – bis ich immer mehr übergeordnete Schnittstellen entdeckte, wodurch mir diese Techniken von Neuem aufgingen und ich sie endgültig zu meiner eigenen machen konnte.
Letztendlich wird ein guter Lehrer einen lehren, dass man selbst zu seinem kritischsten Lehrer wird. Man bleibt das ganze Leben lang ein Lernender. Inspirationsquellen öffnen sich einem doch in jeder Sekunde des mit allen fünf Sinnen erlebten Lebens: In Begegnungen mit der Kunst im Allgemeinen, der Literatur, der Natur… Auch eine umgeworfene Tasse Heißwasser auf dem Bein kann einen spontan zum Klavier humpeln lassen, weil man doch für einen Akkord von Ruzicka genau diese Farbe gesucht hat – bordeaux mit einem Abgang in silber-taubenblau (lacht). So lehrt einen das Leben selbst den Umgang mit der Musik täglich aufs Neue.
Allerdings geschieht das auch genau andersherum: Stehe ich etwa vor einer besonderen Herausforderung im Leben, kann es passieren, dass ich leise den Pianisten in mir frage: wie würdest Du das an den Tasten lösen? Ganz einfach: nehme das Bergmassiv nicht als unüberwindbar wahr, sondern als Landschaft. Betrachte diese zudem in vielen kleinen, leicht verdaulichen Einheiten. Und in all ihren Schönheiten! Eine vermeintlich ewige Rennstrecke an Klavieroktaven ist ja unter dem Mikroskop gesehen eine Verkettung von Entspannungsmomenten. Warum sollte diese Strategie, immer zum bewussten Nullpunkt zurückzukehren, im Leben nicht auch aufgehen – wie auch die Dereflexion, die einen zu solchen Erkenntnissen führt?

Sophie Mayuko Vetter © by Wilfried Beege

Wann spielen Sie auf dem Hammerklavier, wann auf dem normalen Konzertflügel?
Der moderne Flügel ist das Kind des heutigen Musiklebens. Da aus dem modernen Flügel die Entwicklungsgeschichte des Klavierrepertoires spricht, kann man auf ihm alle musikalischen Epochen und Stile wiedergeben, was man auf einem einzigen Hammerflügel nicht kann: auf einem Walther, eigentlich ein Mozart-Instrument, würde ich Bach spielen, wenn kein Silbermann verfügbar ist, denn er ist wunderbar vielseitig. Man könnte einen Rosenberger zu einem Liszt überreden – aber man kann einen Hammerflügel auch nicht verbiegen. Für einen Spaziergang durch mehrere Epochen müssten also mehrere Hammerflügel bereitstehen. Ich habe allerdings einmal ein Konzert gegeben, wo ich in der ersten Hälfte ein Mozartprogramm auf einem Hammerflügel und in der zweiten Hälfte ein Stockhausenprogramm auf einem modernen Flügel mit Kurzwellen gespielt habe (lacht).
Aber welches Instrument steht mir näher? Der Hammerflügel ist seit jeher meine ganz besondere Liebe und spricht mir unmittelbar aus der Seele. Allerdings ist die Positionierung von mir auf dem Markt ein anderer. Eine Hammerflügel-CD wäre natürlich ein großer Traum! Am allerliebsten spiele ich am Hammerflügel mit meinem so kostbaren Duopartner: dem wunderbaren Geiger, Pädagogen und Menschen Rainer Kussmaul. Die kammermusikalischen Erlebnisse mit ihm sind einfach unvergleichlich intensiv beglückend. Man kann vom Spiel auf den historischen Tasteninstrumenten sehr viel für das Kammermusikspiel lernen, aber auch sonst kann man von ihnen jede Menge für sein Spiel auf dem modernen Flügel mitnehmen. Vom Spiel auf dem Cembalo lernte ich primär die Demokratie der Stimmen und die Polyphonie, aber auch die Kunst, die Dynamik über Fremdparameter zu beeinflussen. Vom Hammerflügel wiederum die sprachliche Qualität durch die Differenziertheit der Leis-Stärke, woraus als organische Konsequenz improvisatorische Ornamente herauswachsen, die eine Körpersprache der Melodie zu sein scheinen. Diese Spontanität muss man dann nur noch je nach Epoche und Komponist lenken, wobei man viel über den historischen Ornamentationsstil in den damaligen Methodikbüchern, wie etwa von Leopold Mozart oder C. P. E. Bach, lesen kann, aber auch in den Werken der jeweiligen Komponisten selbst die jeweils eigene Manier der Ornamentation findet, etwa in den Reprisen. Es ist eine spannende Herausforderung, einiges davon auf den modernen Flügel zu übertragen, eine organische Synthese zu ertasten – ich glaube, diesbezüglich bin ich beim Livemitschnitt im Rahmen des Klavierfestivals Ruhr mit Haydn und Händel am frechsten gewesen. Im Zusammenspiel mit weiteren modern ausgerichteten Instrumenten muss man sich hierbei natürlich im Zaume halten, um die interpretatorische Einheit nicht zu gefährden. Ich denke, bei der soeben aufgenommenen Mozart-CD ist uns eine sehr harmonische Balance gelungen!

Ist das Klavier denn das perfekte Instrument?
Ein Klavier möchte singen, möchte sprechen, möchte ein Orchester, ein Streichinstrument, ein Gong oder eine Oboe sein – wie auch der Mensch, möchte es nicht auf das beschränkt werden, was es physisch ist. Ein Klavier fühlt sich erst authentisch als entfesseltes Medium, das unbegrenzte Klangvorstellungen realisieren kann. Es scheint mir bei jeder Aufführung ins Ohr zu flüstern: Grenzen sind zum Sprengen da!

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