Da Gastspiele wieder möglich sind und dann noch ein Doppelgastspiel des London Symphony Orchestra unter Simon Rattle, beim ersten mit dem Sopransolo von Magdalena Kozena, ist ein weiteres Zeichen für eine weitere Normalisierung der Situation. Man wird wohl annehmen dürfen, dass die Musiker eher Opfer als Befürworter des Brexit sind und selber genug nicht nur unter der Pandemie, sondern auch der Exitkrankheit leiden. Obwohl im ersten Konzert die Lücken im Auditorium größer schienen als nur pandemiebedingt, war der Saal gefüllt. Die beiden Programme waren dann doch recht ungewöhnlich, aber umso spannender, hat Uwe Krusch gehört.
Das erste Konzert beleuchtete unterschiedliche Orchestrationstechniken und damit unterschiedliche Farbschattierungen und Klangwolkenbildungen. Bereits der Auftakt mit dem erst im letzten Jahr geschaffenen Where are You? von Ondrej Adamek bot mit seiner Suche nach Gott neue Höreindrücke zu Hauf. Das halbstündige Werk stellt eine außerordentliche Herausforderung für die solistische Sopranistin dar, die nicht nur über weite Strecken eingebunden ist und auch mehrere Sprachen, darunter aramäisch, mährisch und Sanskrit, artikulieren muss, sondern auch gestisch und geräuschhaft gefordert ist. Mit Magdalena Kozena bot sich eine Sängerin an, die dank ihrer tschechischen Herkunft nicht nur mit dem Tschechischen und Mährischen vertraut ist, sondern auch eine erfahrene Sängerin ist, die sich in diese Situation einleben kann. Vom der ersten Bewegung an, noch tonlos, bot dieses vornämlich als Augenmusik zu hörende Werk viele Raffinessen.
Die andere interessante Facette dieser Musik ist die Kombination der Instrumente im groß besetzten Orchester, so dass sich Klanggestaltungen entstehen, die auch der geübte Hörer nicht unbedingt auf Anhieb nach ihrer instrumentalen Herkunft erkennen kann, so dass ein zusätzlicher Blick lohnt. Daneben nutzt Adamek auch gerne besondere Spieltechniken oder auch im groß besetzten Schlagwerk ungewöhnliche Instrumente, so dass immer wieder geräuschhafte Passagen ihre Wirkung entfalten. Dazu kommen volkstümlich anmutende Momente. Trotz dieses Vielerlei an Stilmitteln wirkt das Werk aber nicht als beliebiges Puzzle aus effektheischenden Bausteinen, sondern gibt sich eine Struktur. Das Orchester widmete sich mit Hingabe dieser Partitur und konnte so die Puzzlesteinchen wirkungsvoll justieren.
Im zweiten Teil des Konzerts konnte das Publikum zwei bekanntere Werke auch noch jüngeren Datums erleben.
Mit der Symphonie in drei Sätzen von Igor Stravinsky und The Young Person‘s Guide to the Orchestra von Benjamin Britten boten das London Symphony Orchestra und Rattle dann zwei Werke, die schon eine längere Historie haben. Auch bei Stravinsky finden sich mit dem perkussiv eingesetzten Orchester klangverfremdete Einsatzmöglichkeiten in Richtung auf eine geräuschhafte Auslotung. Ostinate Bassfiguren, auf denen Oberstimmenschichtungen gestapelt werden, schaffen dann wieder die Brücke zu Britten, der in seinem Werk ein Thema des barocken Kollegen Henry Purcell verarbeitet, also aus der Generalbasszeit.
Bei beiden Stücken glänzte das Orchester mit handwerklicher Brillanz. Aber es lässt sich auch nicht ganz der Eindruck bestreiten, dass dicker orchestrierte Passagen, etwa bei Britten, zu wenig differenziert angeboten weurden. Ansonsten aber zeigten sich die Disposition des Dirigenten und die Umsetzung durch das Orchester vom Feinsten.
Im zweiten Konzert am Folgetag boten die Interpreten dann Bruckner pur. Der vollständigen vierten Sinfonie in ihrer letzten Fassung waren zwei Sätze aus früheren Versionen zum Vergleich und Einblick in die Kompositionswerkstatt vorgelagert worden. Im Ganzen war die Fassung von 1878/80 zu hören. Davor erklangen der Kopfsatz aus der Erstfassung 1874 und das sogenannte Volksfestfinale von 1878, dem die Fassung von 1880 in der vollständigen Sinfonie folgt.
Rattle selber erwähnte die gerade einmal knapp drei Wochen vorher erklungene Aufführung mit Herbert Blomstedt, den er als großartigen Brucknerinterpreten benannte. Doch, um es vorweg zu nehmen, Rattle selber muss sich wahrlich auch nicht verstecken. Mit welcher gelungenen Vereinigung aus herausgearbeiteter Detailtreue und Gestaltung des Aufbaus er die Mischung aus Blickverengung und Ausformulierung des musikalischen Bogens gestaltete, war großartig. Dabei pickte ihm das Orchester mit aufmerksamem Zuspruch die dirigistischen Hinweise mit Begierde aus der Hand.
Und dann muss man dringend auch noch mal erwähnen, dass die Londoner Musiker über beeindruckende instrumentale Fähigkeiten verfügen. Wenn die Holzbläser solistisch auftraten, waren feinste Linien in technischer Vollendung zu hören und wenn sie zusammen spielten, passte die Stimmung ohne kleinste Abstriche. Die Blechbläser wurden ihrer Rolle gerecht, weil ihre Beiträge nicht nur blechern klangen, sondern auch warm und abgerundet. Und dass auch die Streicher nicht zu verachten sind, wurde schon erwähnt. Trotz unterschiedlicher Konzertmeister an den beiden Abenden wurde in beiden Fällen eine unaufdringlich sichere Führung geboten, die zu kollektivem Spiel inspirierte.
Die beiden vorweg zu hörenden Einzelsätze hatten mit dem Blick in Bruckners sich entwickelnde Auseinandersetzung mit seinen Werken geboten und dem Auditorium erfrischende unerhörte Töne mit Erstklängen in Luxemburg. So durfte ein begeistertes Publikum stehend applaudieren, bevor dieses Doppelgastspiel endete.