Simon Rattle
(c) Sébastien Grébille/Philharmonie Luxembourg

Die Frage lautet: Kann man Mahlers Symphonien auch heute noch neue Aspekte abgewinnen, noch tiefer in diese Musik eintauchen und dabei Ungehörtes entdecken? Ihr ist Alain Steffen bei einem Konzert mit Simon Rattle und dem ‘London Symphony Orchestra’ in der Luxemburger Philharmonie nachgegangen.

Die Frage will ich gleich bejahen. Rattle, der ja schon lange als herausragender Mahler-Interpret bekannt ist, gelang es in diesem Konzert, das immense Werk ab der ersten Note neu aufzurollen. Der erfahrene Mahler-Dirigent interpretierte den ersten Satz aus dem Blickwinkel der Moderne. Die postromantischen Züge rückten in den Hintergrund, um einem akzentreichen und gewollt brüchigen Spiel Platz zu machen. Die Musik explodierte regelrecht, Rattle schien ein Höllenfeuer zu entfachen. Der erste Satz als qualvolles Aufbäumen, als expressives Erlebnis, losgelöst vom normalen Empfinden. Ein tönender Raum von Seelenqualen!

Und aus diesem ungewohnt extremen Interpretationskonzept des 1. Satzes gewann die Entwicklung der Neunten dann plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Insbesondere die beiden folgenden Sätze ‘Im Tempo eines gemächtlichen Länders’ und ‘Rondo-Burleske’ führten Rattles Gedanken eines halluzinatorischen Erlebens weiter und gerieten nahe an Dantes Inferno.

Erlösung nach dieser ‘musikalischen Katastrophe’ gab es dann im abschließenden Adagio. Aber selbst bei diesem sehr langsamen Satz wollte sich dieses Gefühl inneren Friedens nicht so recht einstellen. Kein glückliches Sterben, kein Ewigkeitsgefühl, sondern allerhöchstens Erlösung nach vielen Qualen und Wahnvorstellungen, ähnlich wie bei Tristans Tod in Wagners Oper ‘Tristan und Isolde’. Somit entließ Rattle das Publikum mit einem eher zwiespältigen Gefühl. Es war eine Interpretation, die bei so manchem sicher noch lange nachwirken wird. Großartig war die Leistung des ‘London Symphony Orchestra’, das mit einem dunkeltimbrierten, zum Teil rauen Spiel begeisterte und Mut zur Hässlichkeit und Dissonanz bewies. Zum Schluss gab es wohlverdienten und Riesenapplaus mit ‘Standing Ovations’.

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