In der Luxemburger Philharmonie dirigierte Maxim Emelyanychev gestern Händels Oratorium Theodora. Uwe Krusch war für Pizzicato dabei.
In der deutschen Rechtswissenschaft gibt es mitunter Rechtsfragen, die von einer großen Mehrheit so und von Einzelnen anders beurteilt werden. Dann spricht man von der herrschenden und der Mindermeinung. Ich weiß, dass ich jetzt wohl eine Mindermeinung vertrete, aber danke, endlich war in der Philharmonie Luxemburg kein Messias, sondern das Oratorium Theodora von Georg Friedrich Händel zu hören. Nicht, dass ich den Messias nicht auch mögen würde, aber diese Theodora war eine grandiose Offenbarung. Das liegt nicht nur am Werk selber, sondern auch an den Leistungen der Mitwirkenden. Und auch das Publikum im gut gefüllten, aber für so ein Ereignis auch nicht überwältigend besetzten Auditorium wird dem wohl zustimmen.
Dieses Werk um die Märtyrerin Theodora und seine Qualität wurde erst vor wenigen Jahren wirklich entdeckt. Es gehört zu den späten Oratorien von Händel. Dass es weniger beliebt ist, mag daran liegen, dass in dem Werk sozusagen keine Schlager wie ein Halleluja zu hören sind. Aber dafür erklingt in Theodora so viele feinsinnige, variabel geschriebene Musik, ohne Nachpfeifcharakter, dass man aus dem Genuss nicht herauskommt. Selbst über drei Stunden kommt auch nicht eine Sekunde Langeweile auf, man bleibt gebannt.
Umso mehr gilt das, wenn Orchester und Gesang so ausdrucksstark und sensibel agieren wie an diesem Abend in der Philharmonie. Und, was bei mehreren solistischen Sängern auch nicht immer passt, dass alle Stimmen hervorragend miteinander harmonierten und alle Beteiligten etwas die gleiche Stimmgröße hatten. So fiel niemand aus dem Kanon. Allen gemeinsam war auch ihre gute Aussprache, die im Hinblick auf das Englisch, dass aus der Barockzeit stammt und deswegen genügend nicht mehr geläufiges Vokabular bietet, zu genauerem Hören Anlass bietet. Natürlich konnte man auch auf die französischen und deutschen Übertitel schauen.
Allen voran darf man sicherlich Joyce DiDonato nennen, die die Rolle der Irene, der Vertrauten der Titelheldin sang. Vorab hatte sie in einem Gespräch mit Dramaturg Matthew Studdert-Kennedy mit amerikanisch aufgeräumter Laune bereits über ihr weiteres Projekt in Luxemburg Anfang März und über dieses Oratorium geplaudert und ihr Kollegium gelobt. Ihre eigenen Qualitäten, die auch von Pizzicato immer wieder hervorgehoben wurden, kann man durchaus bestätigen. An diesem Abend kam positiv hinzu, dass ihre manchmal auch spitz oder metallisch klingende Stimme an diesem Abend solche Spitzen nicht zu bieten hatte. Dafür aber eine große Bandbreite an Schattierungen und Qualitäten, die ein zutiefst menschliches Bild der Irene zeichneten.
Ihr zur Seite, sowohl in der Rolle als auch im stimmlichen Vermögen war Lisette Oropesa in der titelgebenden Person Theodora zu erleben. Auch ihr Gesang zeigte großartige Kunst, war genauso dramatisch wie auch fein in nachdenklichen oder zurückgenommenen Passagen. Ihre Technik ließ keine Wünsche offen. Mit ihrer Mimik konnte sie der von Vergewaltigung bedrohten und von Didymus zunächst geretteten realitätsgleiche Kontur vermitteln.
Der bereits genannte Didymus wurde vom Countertenor Paul-Antoine Bénos-Dijan mit mindestens ebenso vielen Qualitäten gesungen. Ihm gelang eine überzeugende sängerische Leistung, der man den ganzen Abend über keine Schwächen oder Anstrengung, wie auch bei den anderen, anmerkte. Einfühlsam gegenüber Theodora, selbstbewusst auftretend gegenüber Septimius konnte er beide Seiten mit seiner Präsenz zeigen. Seine Stimme war ebenso wandelbar wie sie auch angenehm ohne irgendwelche störenden Charakteristika.
Sein Freund im Werk, Septimius fand in Michael Spyres einen Sänger, der in dieser Rolle nicht mit tenoraler Schau glänzen konnte. Aber die in der Rolle angelegte Statur verkörperte er prägend, obwohl seine darstellerischen Andeutungen etliches hinter denen der anderen blieben. Vielleicht wollte er mit der ein wenig statisch linkischen Art auch seinen Konflikt andeuten, weder gegen den Befehl verstoßen zu wollen noch der Bitte des Freundes nicht nachkommen zu wollen. Stimmlich wusste auch er die Rolle auszuleben, so dass auch er zwischen seinen Rollenpolen differenzieren und sich verschiedene Charaktere geben musste, was er denn auch tat.
Der andere Tenor, Massimo Lombardi, nahm die kleinen Auftritte als Bote aus dem Chor heraus wahr und wusste sich damit hervorzutun.
Valens, der lokale Herrscher, wurde vom Bariton John Chest dargestellt. Ihm gelang es auch mimisch geradezu mit Gänsehauteffekt, seine Bosheit oder doch nur Prinzipientreue in Bezug auf die Durchsetzung von Recht und Ordnung zu Lasten von Mitleid oder Gnade mitzuteilen. Sängerisch war diese einzige tiefe Stimme markant mit eben dem Schuss Unnachgiebigkeit.
Ein großer Pluspunkt waren ebenso die Tuttibeteiligten. Der Il Pomo d’Oro-Chor, je Stimme vierfach besetzt, kommt in Theodora nicht allzu oft zum Einsatz, wusste dann aber seine Chancen zu nutzen und mit behänder Durchsichtigkeit die Stimmen der Heiden bzw. der Christen zu artikulieren.
Das Il Pomo d’Oro-Orchester zeigte mit historischem, aber nicht spartanischem Auftritt, dass es diesem Werk viel Wärme und Charakter geben kann.
Alle Beteiligten sammelten sich unter der nimmermüden und agilen Koordination von Maxim Emelyanychev, der vom Cembalo oder ohne Taktstock dirigierend die Fäden zusammen hielt und für nicht endende Intensität und auch Präzision sorgte.
Trotz drei Stunden Musik, als das nach 19 Uhr mit der üblichen Verzögerung gestartete Konzert kurz vor 23 Uhr endete, kamen Applaus und Bravorufe erst zum Erliegen, als Chor und Orchester die Bühne verließen. Irgendwie schade, dass so ein Abend enden muss. Jeder, der nicht da war, hat etwas versäumt.