Welche Bandbreite die Musik bieten kann, durfte Pizzicato-Mitarbeiter Uwe Krusch innerhalb von 48 Stunden in mehrfacher Hinsicht erleben. Nach dem Bundesjungendorchester im großen Saal mit großer symphonischer Musik erlebte er am Dienstag im Kammermusiksaal der Philharmonie Luxemburg einen Liederabend, also die beinahe kleinste mögliche Besetzung. Eines allerdings hatten beide Konzerte gemein: Es wurde ganz große Kunst geboten.
Welche Rolle das Kunstlied insbesondere deutscher Komponisten für die Entwicklung dieser Gattung seit der Romantik gespielt hat, kann an dem Umstand abgelesen werden, dass das Wort als eines der wenigen Beispiele den Weg als ‘the lied’ bzw. ‘le lied’ in andere Sprachen gefunden hat. Einen Teil dieser Entwicklung konnte man auch in dem Konzert der Sopranistin Anna Lucia Richter sowie des Pianisten Gerold Huber und, als erweiternde Besonderheit, des Klarinettisten Matthias Schorn genießen. Werke von Franz Schubert trugen den Hauptanteil zu dem Programm bei, doch bereits bei ihm zeigen sich bedeutsame Entwicklungsschritte im Liedkompositionsschaffen. Dazu gesellten sich drei Lieder von Louis Spohr aus seinem op. 103, davon das „Wiegenlied“ als Zugabe, und eine Uraufführung, das Werk ‘Reliquien’ von Heinz Holliger.
Dieses jüngste dreiteilige Opus knüpft in unterschiedlicher Weise an. Mit dem Titel und den drei ausgewählten Texten weist es auf durch Robert Schumann veröffentlichte Tagebucheinträge und Gedichtskizzen, die Franz Schubert hinterlassen hatte und die sein Bruder Ferdinand dann Schumann zeigte. Gleichzeitig stellt es damit eine Brücke zwischen der Sopranistin und dem Komponisten Holliger her, die sich bei der gemeinsamen Arbeit an der Rose Pilgerfahrt von Schumann schätzen gelernt hatten. Und der Kreis schließt sich, da die Sängerin nach der gemeinsamen Erfahrung den Komponisten bat, ein zeitgenössisches Gegenstück zu ‘Der Hirt auf dem Felsen’ zu verfassen.
Dieser Berufsatmer, wie Holliger sich selber einmal genannt hat, geht bei seinen Kompositionen immer von der Freiheit der Entwicklung aus, da weder das Atmen noch die Sprache oder andere Vorgänge der Natur einen mechanischen, zeitlich vorgegebenen Ablauf haben. Wie immer bei ihm zeugt auch Reliquien von seiner unermüdlichen Suche nach den Grenz(überschreitung)en von Klang und Sprache. Das lässt sich gleich am Beginn feststellen, wenn die forte spielende Klarinette mit dem Klavier im Piano zusammentrifft oder wenn der Komponist einen gesprochenen Einsatz der Singstimme fordert.
Das knapp viertelstündige Reliquien ist in diesem Sinne ein Muster für sein Kompositionswesen, bei dem man neue Musik vielleicht nicht verstehen, so doch erfühlen muss und bereit sein muss, die Musik das Trommelfell kitzeln lassen muss, um es erfassen und genießen zu können. Das ist stark, sogar beunruhigend. Aber die direkte Wirkung auf Körper und Geist ist unbestreitbar. Die Gestaltung des Werkes durch die drei Protagonisten bei der Uraufführung in Anwesenheit des Komponisten wird man sicherlich als beispielgebend betrachten müssen.
Wie auch im restlichen Programm gestaltet Anna Lucia Richter ihre Partien mit heller, an Vibrato armer Stimme. Diese nutzt sie, um die Stimmungen und Affekte der vertonten Lyrik erlebbar zu machen. Dabei entwickelt sie eine diese Stilmittel ergänzende Erweiterung um mimische und gestische Elemente. Damit setzt sie Komponenten in die Darbietung, die ältere Sänger vermieden, um den Fokus allein auf die Stimme zu lenken. Dass diese Zutaten nicht schaden müssen, konnte man bei der vielschichtigen und ausdrucksstarken Gestaltung des Gesangsparts erleben, die mit dem gelegentlichen Blick in die Noten eine Versicherung der Interpretation erlaubten. Bei ihrem Vortrag ergänzen sich lyrische und dramatische Elemente. Das interpretatorische Verständnis wird durch die gestaltete Emotion erfahrbar gemacht. Im Vordergrund steht die Aussage der Musik, nicht jedoch, bei aller technischen Perfektion, der bloße Klang der Stimme. Manchmal mag man sich nach etwas mehr Süße, nach mehr Innigkeit, nach mehr Verführung im Klang sehen. Aber das dunkle Reich der Seele bei Schubert war ja zuvörderst kein biedermeierliches, sondern affektgerichtet.
In der Entwicklung der Liedkomposition setzte Schubert mehrere Wegmarken. So war es maßgeblich sein Verdienst, dass das begleitende Klavier sich vom Sänger emanzipierte. Damit schuf er einen reicheren Gegenpart zur Melodie, bei dem die Musik Bedeutung neben dem Wort bekommt und den Ausdrucksgehalt des Werkes bestimmend mitprägt. Goethe war von Schuberts neuem Stil allerdings wenig angetan, er fürchtete, der Text stünde dabei nicht mehr im Vordergrund.
Wie inspirierend und textbereichernd diese Kompositionsweise jedoch ist, durfte die Zuhörerschaft dank des äußerst sensiblen und aufmerksamen Spiels von Gerold Huber erleben. Mit sich geradezu in das Klavier hineinbeugender Haltung und den Text meist mit den Lippen mitführend, war er der begleitende und auch selber aktive Part sowohl im Verhältnis zur Sängerin als auch dem Klarinettisten. Neben den einzeln stehenden Liedern ‘An den Mond’ D 259, ‘Der Zwerg’ und ‘Heimweh’ boten die beiden Musiker drei Lieder der Mignon sowie drei Gesänge der Ellen aus dem umfangreichen Schaffen in dieser Gattung von Schubert dar.
Eine andere Bereicherung erfuhr die Gattung des Klavierliedes von Schubert durch den Einsatz eines zweiten begleitenden Soloinstruments. Dabei fällt jedem mit der Materie Vertrauten das den Abend krönend abschließende ‘Der Hirt auf dem Felsen’ ein. Es gilt seither als Standardwerk für Sopran, Klarinette und Klavier. Mit dem Werk von Holliger und den drei Liedern von Spohr boten sich weitere Momente für den Klarinettisten des Abends. Matthias Schorn, der inzwischen Soloklarinettist der Wiener Philharmoniker ist, demonstrierte mit seinem Auftreten die Möglichkeiten des Instruments, was eben auch die Breite der dynamischen Grenzerfahrungen angeht. Dazu muss man dann gerade auch zu der Uraufführung zurückkehren, in der die Spanne vom Unhörbaren bis zu selbstbewusst kräftigen Spiel reicht. Aber vielmehr als die technische Beherrschung war die Einbindung in die Partnerschaft mit Sängerin und Pianist zu bewundern. Seine Wechselgesänge mit Anna Lucia Richter zeigten die innige verlustfreie Übernahme nicht nur der großen Linie, sondern der mikroskopisch feinen Übereinstimmung.
Dem Ambiente des Saals oder dem familiären Rahmen eines Liederabends entsprechend, waren zwar aus dem Publikum hinterher Zufriedenheitsbekunden wie genial zu vernehmen. Aber diese Begeisterung führte nicht etwa zu überschäumendem, sondern zu herzlich intensivem kammermusikalischem Applaus. Damit wurde das intensive feine Konzert ebenso sensibel beschlossen.