Teodor Currentzis
(c) Philharmonie/Sébastien Grébille

Dass auch in Zeiten von COVID-19 spannende und hochklassige Konzerte möglich sind, hat das Gastkonzert des SWR-Orchesters in abgespeckter Besetzung und mit neuem Programm gezeigt. Dass Uwe Krusch für Pizzicato nicht enttäuscht war, das ursprünglich mit dem 2. Violinkonzert von Bartok und Auszügen aus Romeo und Julia von Prokofiev angesetzte Programm nicht hören zu können, lag daran, dass das neue Tableau an Werken reizvolle Kontraste bot und auch Dirigent Teodor Currentzis und Geigerin Patricia Kopatchinskaja erhalten blieben.

Die Meinungen zu beiden Künstlern gehen sicherlich auseinander. Aber man muss beiden zugutehalten, dass sie auf Ihre Art ihren Interpretationsansatz und dessen Umsetzung sehr ernst nehmen und ausgefeilte Darbietungen anbieten, die sicherlich auch einen Anteil an großer plakativer Geste bieten. Da diese aber immer mit handwerklich sauberer Gestaltung unterlegt werden, ist diese Art des Events eine, die sich der Rezensent gerne gefallen lässt. Warum soll Klassik nicht auch unterhaltend sein, wenn die Qualität stimmt?

Das neue, in Besetzung und zeitlich gekürzte Programm, but die Battalia von Heinrich Ignaz Franz Biber zwischen ‘…zwei Gefühle…’ von Helmut Lachenmann und Anahit von Giacinto Scelsi. Allen drei Werken ist eigen, dass sie mit den Hörerwartungen des Publikums anders umgehen als gewünscht, um nicht zu sagen, mit ihnen brechen. Dass eine solche Haltung schon im Barock möglich war und sich bei Biber konsequent Bahn bricht, ist vielleicht auch dem Umstand zu verdanken, dass er sein Werk für den Karneval schrieb. Aber es ist davon auszugehen, dass bei ihm eher auch ein persönliches Drängen bestand, aus den kompositorischen Konventionen der Zeit auszubüchsen. Bei ihm dient das Schlachtengemälde nicht der Verherrlichung des Krieges und des diesen führenden Adeligen, sondern der Beschreibung des Leids der Verwundeten und Sterbenden. So ist jede zunächst militärisch und hofierend wirkende Geste zugleich ironisch unterwandert. Kopatchinskaja im weißen Kleid und das in schwarz gehüllte SWR Orchester unter dem animierten Dirigat des fast wie ein Feldherr umherwandernden Currentzis, lebten diese Seelenzustände kunstvoll aus. Das ging bis hin zum Erlöschen der Saalbeleuchtung bis auf Pultlichter, was dann die Überleitung zu Anahit von Scelsi schaffte.

Patricia Kopatchinskaja
Photo: Marco Borggreve

Dieses Violinkonzert von Scelsi, im Untertitel `Lyrisches Poem über den Namen der Venus´, kann man eigentlich nicht als Violinkonzert in üblicher Lesart verstehen. Denn statt eines Diskurses zwischen Geige und Orchester werden wechselnde Aggregatzustände behandelt, die ein rätselhaft schönes Klangkontinuum entstehen lassen. Dieses Werk mag man fast als außerirdisch bezeichnen. Das mit 18 Musikern solistisch besetzte Orchester einerseits und die Sologeige andererseits erzeugen diese irisierende Klangwelt. Während Kopatchinskaja bei Biber das Instrument alter Mensur mit zeitgenössischem Bogen zur Hand hatte, nahm sie hier ein heutiges Instrument zur Hand, dass dann aber in diesem Werk wie im Barock häufiger anzutreffen, umgestimmt, also skordiert, verwendet wird. Auch hier zeigten sich die Musiker als Erzähler von hohen Gnaden, die dieses nicht so leicht zugängliche Werk so gestalteten, dass die Zuhörer begeistert waren. Am Ende, wie schon zuvor bei Lachenmann, konnte Currentzis das Publikum im dunklen Saal lange zur Ruhe bändigen, so dass jeder Gelegenheit hatte, sich zu besinnen, bevor der Applaus startete.

Wenn auch Kopatchinskaja bei dem den Abend eröffnenden Werk ‘…zwei Gefühle…’ von Helmut Lachenmann nicht dabei war, so kann man eine Brücke zwischen beiden schlagen, da sie ein kleines Bonbon von Otto M. Zykan in ihrem Repertoire hatte, das sich ‘Das mit der Stimme’ nennt und bei dem zum Geigen stimmliche Äußerungen hinzutreten, also ein Duo einer Person. Das mit der Stimme ist auch für Lachenmann ein Thema, wie er im Einführungsgespräch vorher in der Nähe zu seinem 85. Geburtstag äußerte. So hat er für das vor beinahe drei Jahrzehnten komponierte Werk eine Sprechstimme involviert. Lachenmanns legte seine Sicht dar, nach der Gesang die Lyrik der vertonten Gedichte eher stört als stärkt. Er wählt stattdessen die gesprochene Stimme und in diesem Fall auch eine emotionslos strikt maschinell arbeitende, die Worte auch in Silben oder sogar Buchstaben-kombinationen zerlegt und so eine neue Ästhetik und Ordnung schafft. Wer wäre besser geeignet, als er selber, diesen zerstückelten Text vorzutragen. Dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung eines Gedichtes von Leonardo da Vinci über eine zufällig gefundene Höhle am Meer. Die Angst vor dem Eintreten ins Dunkle und die Neugier des Erkundens stellen die beiden Gefühle dar, die Lachenmann als Sterbensangst und -schicksal liest. Seinem Denken liegt dabei nicht ein bildlicher Ansatz zugrunde, sondern er behandelt die Umstände situativ und beobachtet sie zunächst urteilsfrei. So führt er seine Kompositionen, wie es die Situationen erfordern aus, so wie das Kulturleben situativ auf COVID19 reagieren muss. Ein wesentlicher Aspekt seines Wirkens ist die Abwendung von gewohnten Hörerwartungen, was sich in der Abkehr von klassischen tonalen Strukturen und sogar Tönen manifestiert und zur Vertonung von Höreindrücken der Umwelt führt, die dann auch kratzend, rauschend und schabend sind Insofern fordert sein Musik immer zum genauen Beobachten auf und erlaubt kein gemütliches Zurücklehnen.

Die Deutung seiner Komposition durch das SWR Orchester mit Currentzis zeigte ein hellwaches und agiles Ensemble, das diese Musik lebt und aufsaugt, nicht nur erduldet. Insofern konnte trotz der politisch durchgedrückten finalen Auflösung des SWR Orchesters Baden-Baden Freiburg und Eingliederung einiger Musiker in das SWR Symphonieorchester in Stuttgart ein guter Teil der Experimentierfreude dieses erloschenen Klangkörpers mitgenommen werden. Exponierte Instrumente wie Gitarre und Harfe sowie ungewöhnliche Anforderungen an Spieltechniken prägen das Werk ebenfalls. Die Sprechrolle dient bei der Aufführung nur der akustischen Beobachtung, den Text bzw. Inhalt sollte man im Umfeld selber studieren. Derart kompetent dargeboten hinterließ das Stück einen nachhaltigen Eindruck, der die noch immer nicht bei allen akzeptierten Klanggestaltungen verständlich werden lässt und den Blick in diese Gedankenwelt emotionaler Näherung nahe legt. Im Vorgespräch hatte Lachenmann gesagt, dass er den im Kontext zeitgenössischer Musik gebräuchlichen Ausdruck ‘das war interessant’  als Beleidigung betrachtet. In diesem Sinne, das war nicht interessant. Das ging unter die Haut.

  • Pizzicato

  • Archives