Andris Nelsons
(c) Marco Borggreve

Tchaikovskys Violinkonzert und seine 5. Symphonie gehören zu den Schlachtrössern des Tourneebetriebes. Mit diesem Komponisten ist man immer auf der sicheren Seite, und dank dieser nicht kleinzukriegenden, aber auf der anderen Seite schwer großzumachenden Musik, ist einem mit einem klangpotenten Orchester, einem virtuosen Solisten und einem dynamischen Dirigenten der Jubel des Publikums sicher. Alain Steffen berichtet.

Mit diesem ersten Programm begann das Gewandhausorchester Leipzig unter Chefdirigent Andris Nelsons dann am Mittwoch auch seine zweitätige Residenz in der Philharmonie Luxemburg. Ich muss zugeben, nach dem Violinkonzert hatte ich etwas Angst, denn die Belanglosigkeit, zu der das Orchester seit Chaillys Zeiten neigte, schien sich nun fortzusetzen. Das Orchester agierte brav im Hintergrund. Die Musik erklang fast schüchtern. Der Dirigent Andris Nelsons gab wenig Impulse, erwies sich aber als feiner und aufmerksamer Begleiter. Nelsons legte seinem Solisten einen wunderschönen Klangteppich aus und es war schnell klar, da stand nur einer im Mittelpunkt: Leonidas Kavakos. Dann und wann ein Lächeln zwischen Solist und Dirigent, ein aufmerksamer Konzertmeister, viel Präzision, aber wenig Zupacken im Orchester, immerhin aber ein Violinspiel, das verzauberte.

Kavakos, der Virtuose und Gestalter, verführet wieder einmal sein Publikum, mit einem 2. Satz voller Innigkeit und Nachdenklichkeit, eingebettet in einen meisterhaft gespielten Kopfsatz und in ein leichtfüßig aber stets vorwärtsdrängendes Finale. Jubel zum Schluss. Und Bach als Zugabe.

Etwas zögerlich begannen Nelsons und das Gewandhausorchester dann die 5. Symphonie. Doch schnell spürte man: Das war so gewollt. Die Musik suchte, fand, brach auseinander. Eher gequält als schön. Kein Pathos, kein Kitsch. Wunderschön und traurig, der langsame 2. Satz mit seinem einmaligen und herausragend gespielten Hornsolo von Bernard Krug. Wie ein Traumgeschehen und ein Fremdkörper, der leichte Walzersatz, frei schwebend nicht greifbar, wie aus einer anderen Welt. Zum Abschluss das gefährlich-pathetische Finale. Und auch hier hielt sich Nelsons zurück und verdoppelte damit die Wirkung. Kein Hurra-Finale, kein Jubel, aber Zweifel. Dieser Sieg, dieser vermeintliche Sieg scheint keiner zu sein. Misstrauisch erkämpfte sich das Orchester seinen quasi nicht enden vollenden Höhepunkt, der Triumph des Blechs fiel in der letzten Note ab. Die Coda gab keine Antwort. Tchaikovsky schien zu weinen. Grandios und motiviert, klangschön und präzise, mit herrlichen Soli und einer atemberaubenden Intensität zeigte das Gewandhausorchester seine wirkliche Klasse.

Andris Nelsons
(c) Jens Gerber/Gewandhaus

Der erste Teil des zweiten Konzerts mit Gewandhausorchester wirkte nach dieser Fünften wie ein Purgatorium, wie ein Ritt durch wechselnde Seelenzustände. Der Wojewode op. 78 ist eine düstere Ballade, bei der ein Ehemann seine Gattin in flagranti beim Ehebruch erwischt, Rache üben will  und schließlich am Ende selbst von einer Kugel getroffen wird. Dramatische Impulse gab es auch in der Fantasie-Ouvertüre Hamlet op. 67, wo Tod und Verlust im Mittelpunkt standen. Andris Nelsons dirigierte die wenig melodiösen und auch wenig gefälligen Werke mit viel Herzblut und es war vor allem das dunkel timbrierte, vibrierende Spiel des Gewandhausorchesters, das Tchaikovskys Seelenleben schonungslos offenlegte.

Es folgte die 6. Symphonie, die Pathétique, ein grandioses Werk voller Düsternis und Schwermut. Selbst wenn Tchaikovsky nach dem einzigartigen Kopfsatz, der an Dramatik wohl kaum zu übertreffen ist, zwei Tanzsätze komponiert hat, so muss man doch genau hinschauen. Nelsons und das phänomenal aufspielende Gewandhausorchester entlarvten den flüchtigen zweiten Satz als ein surreales, fast schon Mahler-ähnliches Traumkonstrukt. Auch der beliebte und schmissige zweite Satz mit seinem vermeintlichen Finalcharakter fand in Nelsons kluger Interpretation keinen richtigen Lauf. Immer wieder wurde das Klanggeschehen gebremst, die Fanfaren nahmen groteske Formen an und der finale Triumph wirkte in sich gebrochen. Unbeschreiblich, welche Wirkung nach dieses aufwühlenden drei Sätzen dann das Finale mit seiner  tiefen Trostlosigkeit erreichte, und wie das Gewandhausorchester unter Nelsons hier das durch das wunderbar feine, dezente und schöne Spiel höchste Expressivität erreichten ohne dabei jemals kitschig zu erscheinen. So großartig, ehrlich und fesselnd kann Tchaikovsky klingen, wenn er mit Ernsthaftigkeit interpretiert wird.

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