Gustav Mahler: Die Neun Symphonien; Janina Baechle, Lioba Braun, Mojca Erdmann, Mihoko Fujimura, Michaela Kaune, Marisol Montalvo, Anne Schwanewilms, Manuela Uhl, Albert Dohmen, Michael Nagy, Stefan Vinke, Chor der Bamberger Symphoniker, Tschechischer Philharmonischer Chor, Windsbacher Knabenchor, Bamberger Symphoniker, Jonathan Nott; 12 SACDs Tudor 1670; Aufnahmen 2003-2013, Gesamtveröffentlichung 06/2016 (o.A.) – Rezension von Remy Franck

Zehn Jahre arbeitete Jonathan Nott in Bamberg an seinem Mahler-Zyklus. Als die Symphonien einzeln veröffentlicht wurden, erhielten die Erste und die Neunte im Pizzicato einen Supersonic, die Dritte, die Vierte und die Sechste 5 Noten, die Fünfte und die Siebte 4 Noten, die Zweite und die Achte 2 Noten. Für die Box geben wir daher eine durchschnittliche Vierer-Bewertung. Hier sind unsere Rezensionen der einzelnen Symphonien.

Mit einer phänomenalen Transparenz verzaubert Jonathan Nott den ersten Satz aus Mahlers Erster Symphonie mit purer Klangmalerei. Er nimmt uns beim Ohr und lenkt unser Gehör auf das Frühlingserwachen. Langsam. Schleppend. So wie es geschrieben steht. Man sieht förmlich, wie zu kecken Vogelrufen erste Blumenspitzen aus dem Boden drängen, wie mit knisternder Spannung die geballte Kraft der Natur die Welt verwandelt. « Frühling und kein Ende », wie Mahler im ersten Elan selber geschrieben hatte. Das Scherzo  kommt immer noch hundertprozentig durchhörbar als rustikaler Tanz daher, wobei die Tanzbewegung deutlicher, aber auch differenzierter formuliert wird als in anderen Interpretationen. Die Ironie gerät dabei etwas ins Abseits, aber nicht wie bei Muti (Philadelphia) oder Solti (Chicago), weil das orchestrale Polish jedweden schrägen Klang verbietet, sondern weil die « vollen Segel » (Mahler) das Volkstümliche, das Bäuerliche-Gemütvolle in den Vordergrund stellen. Ironie, Groteske und Trunkenheit der ‘Commedia humana’ finden sich aber so reichlich im hinreißend köstlichen dritten Satz, dass die Symphonie davon mehr als genug hat. Was Nott hier an Klangsuggestion vermittelt, gehört zu den Spitzenleistungen in Sachen Erste Mahler. Im Finale kann das Orchester dann so richtig mit klanglicher Fulminanz aufdrehen, um gleich wieder zusammenzubrechen in einem ergreifenden Ausbruch von Verzweiflung, angereichert mit gellenden Angstschreien. Auch hier ist das Orchestrale nie Selbstzweck, nie Show, nie pure Virtuosität, nie leidenschaftliche Dramatik, sondern tief gefühlte Musik. Es ist, als wolle Nott aus diesem ersten symphonischen Finale des Komponisten den musikalischen Embryo aller noch anstehenden Mahlerschen Konflikte machen.

Jonathan Notts Interpretation zeugt von einer außerordentlichen Werkkenntnis, von einem profunden Mahlerverständnis und muss zu den ganz großen und sicher spannungsvollsten Aufnahmen dieser Symphonie gerechnet werden.

Die Zweite ist die schwächste der Mahler-Einspielungen von Jonathan Nott. Zwar gibt es immer wieder schöne Momente und ganze besondere Phrasierungen mit ganz besonderen Klangwirkungen, hin und wieder auch wirkliches interpretatorisches Feuer, aber im Großen und Ganzen wirkt die Musik recht betulich und es fehlt es an durchgehender Spannung. Keinen besonders guten Eindruck machen die Solistinnen: Anne Schwanewilms mangelt es an Charakter und Lioba Brauns Gesang wirkt flach und kahl wie ein Brett, das gerade aus dem Sägewerk kommt.

Das Sperrige und Raue, das Unentschlossene wie auch das Aufbruchhafte, das Zarte und das Gebrechliche, das Grandiose und das Traumatische, das Visionäre und das Unmittelbare, alles findet sich in Jonathan Notts überlegener Interpretation der Dritten Symphonie: Der Mahlersche Kosmos ist in seinem ganzen Reichtum erfahrbar, wobei der Dirigent immer auf eine möglichst natürliche, plausible Wirkung aus ist, Mahlers Formwillen respektiert und das tut, was sich Mahler so sehr gewünscht für diese Symphonie, weil er das Ganze überblickt und des Komponisten Baum in « voller Lebensgröße » darstellt.

Wie schon in den vorangegangenen Aufnahmen beeindrucken die Bamberger Symphoniker, auch wenn sie den Grad an Geschmeidigkeit und schierer Klangschönheit nicht erreichen, den Jansons etwa mit dem ‘Concertgebouw Orkest’ erzielt, dafür aber insgesamt vielleicht etwas mehr Spannung in die Musik einbringen, und das auch und gerade bei etwas breiteren Tempi in den langsamen Sätzen (in der Nachterzählung ist Nott  mit 11 Minuten zwei Einheiten und in der Liebeserzählung mit 26 Minuten drei Einheiten länger als Jansons.

Mihoko Fujimura singt ihre Soli bewegend und mit viel Weisheit in der Stimme. Die Surround-Tonaufnahme ist hervorragend.

In der Vierten Symphonie dreht Jonathan Nott zunächst mit teils zärtlichem, teils schalkhaftem Blick einen Film über einen Kinderspielplatz, auf dem sich die Kinder austoben, wo auch durchaus mal kleinere Unfälle passieren und das kleine Wehwehchen zum Drama wird. Die ersten vier Minuten des dritten Satzes sind der Film, in dem die Mutter ruhevoll – Nott setzt die Satzbezeichnung sehr genau um – vor der Wiege sitzt und ihr danach mögliche Zukunftsgedanken durch den Kopf gehen, was wohl alles mit dem Kinde passieren wird in seinem Leben, und dabei kommen auch ganz böse Gedanken auf. Dem äußerst kecken Orchesterspiel im Finalsatz steht die warme und mit himmlischer Ruhe vortragende Stimme von Mojca Erdmann gegenüber. So entsteht ein wundervoll farbiger, aufregend intensiver Mahler-Film, auch ohne wirkliche Bilder. Kino im Kopf!

Notts Interpretation der Fünften Symphonie Gustav Mahlers spricht eine klare Sprache: mit großer Spannung erzählt er Gustav Mahlers Seelendrama in einem Wechsel von herrlich dekadenten und sehr sensuellen Passagen. Nott strukturiert die Musik mit kammermusikalischer Transparenz, aber das Klangbild bleibt auch im Surround-Sound etwas mulmig und zu wenig konturiert. Die Bamberger Symphoniker spielen engagiert, aber letztlich doch nicht mit der Souveränität, die man von anderen Orchestern in diesem Werk kennt.

In der Sechsten Symphonie, der Tragischen, sind Notts Tempi beileibe nicht so schnell wie jene Gergievs. Aber ein klein wenig eilig hat er es doch und durchmisst den ersten Satz im rabiaten Geschwindmarsch, und rabiat beginnt auch der zweite, das wuchtige Scherzo, und wenn darin die ersten Stacheln auftauchen, wenn die Entschlossenheit gebremst wird, wenn die bösen Gedanken Überhand nehmen, akzentuiert Nott den Tanzschritt, versucht mit guter Laune und Optimismus – das Booklet spricht nicht von ungefähr von einer Komödie – die Situation in den Griff zu bekommen. Keine Chance! Und gegen Schluss winselt die Musik nur noch. Im langsamen Satz, hier an dritter Stelle, hütet sich Nott vor Gefühlsüberschwang. Sein Andante moderato ist jedoch keineswegs nüchtern und lässt die weitere Verschlechterung der Situation sehr deutlich werden. Dabei profitiert Notts Dirigat vom gesunden Klangempfinden der Bamberger Musiker, die schon im ersten Satz mit einer wunderbaren Durchleuchtung der Strukturen und des Klanggeflechts begeistert hatten. Der Dirigent erklärt im Textheft die inneren Zusammenhänge, die ihn dazu gebracht haben, das Scherzo vor dem Andante zu spielen (was ihm gewiss mancherorts als grober Fehler angekreidet werden wird).

Das wiederum recht schnell gespielte Finale besticht durch die Transparenz der Musik, durch die Unerbittlichkeit der Progression. Das Schicksal wird bei Nott nicht so sehr durch düstere Farben und Hammerschläge als vielmehr durch mitreißende, spannungsgeladene Orchesterkräfte von aufregender Transparenz und klanglich sehr in die Tiefe angelegte Endzeitvisionen deutlich gemacht.

Jonathan Notts Sechste Symphonie ist weder dunkel noch schwermütig, sie ist nicht grell und überfrachtet, sie forscht nicht nach dem Unergründlichen, sondern bedient sich der elementaren Kräfte, um das Destruktive der Komposition deutlich werden zu lassen. Sie ist dementsprechend voller Dramatik und von einer berserkerhaften Wildheit.

Das Tolle an den Mahler-Symphonien und ganz besonders an der Siebten ist, dass sie in vielen verschiedenen, oft sehr divergierenden Interpretationen funktionieren können. Nun interpretiert Nott eigentlich gar nicht viel hinein in dieses mysteriöse Werk, außer im Finalsatz, wo er persönlicher wird. Er hält sich an Mahlers Vorgaben und lässt das Orchester sehr transparent werden. So scharf das Klangbild dabei auch wird, Nott macht nichts, um den Ausdruck zu schärfen. Nach allem, was man vom ersten Satz und den Nachtmusiken gehört hat, kann man das unter Umständen als nüchtern empfinden.

Das Scherzo ist wirklich ‘schattenhaft fließend’: ein musikalischer Spuk par excellence. Der Höhepunkt, und hier ist dann von Sachlichkeit nichts mehr zu spüren, ist das aufgewühlte Finale mit kräftigen Pauken, brillanter Meistersinger-Parodie und jeder Menge an turbulenter Fröhlichkeit mit unterschwellig gespenstischen Nebengedanken. Eine gute Siebte!

Trotz sehr interessanter interpretatorischer Ansätze und einiger echt starker Momente ist die Aufnahme der Achten Symphonie nicht zu empfehlen, da es bei den Solisten zu starke Defizite gibt, die einem das Zuhören wirklich schwer machen.

Die ausdrucksstarke Interpretation der Neunten Symphonie wird der komplexen Partitur vollauf gerecht. Auffallend sind die langsamen Tempi der Ecksätze mit ihrem Weltschmerz und ihren furchtbaren Todesahnungen – wie gehen diese Momente doch hier unter die Haut! – . So kontrastieren sie optimal mit den durchaus nicht geschärften Mittelsätzen.

Die Bamberger Symphoniker stellen einmal mehr ihr hohes Niveau unter Beweis und brauchen sich nicht vor der gefährlichen Transparenz zu fürchten, die Nott erzielt, und die ein weiteres bestechendes Merkmal der auch tontechnisch exzellenten Mehrkanalproduktion ist.

Und letzten Endes sollte hier auch Mahler selbst nicht vergessen werden, der mit dieser Symphonie ein Werk schuf, das in so vielen grundlegend verschiedenen Interpretationen den Hörer immer wieder fasziniert ergreift und somit neu bereichert.

Fazit: Mit vielen seiner Aufnahmen der Mahler-Symphonien festigt Jonathan Nott seinen Ruf als Mahler-Dirigent. In den meisten fügt er zu dem, was wir von Mahlers Symphonien kennen und gehört haben, Neues hinzu, weckt immer wieder unser Interesse mit sehr eigenen Gesichtspunkten, die aber nie recherchiert oder theatralisch wirken, sondern organisch hundertprozentig eins sind mit der Materie.

Rather quick tempi, a gorgeous, phenomenally transparent orchestral sound are one major character of these recordings. In most of the symphonies Jonathan Nott is adding new aspects, so continuously waking our interest. If the Second and the Eight Symphonies are the weakest performances in this cycle, the First and the Ninth are the best, followed by the Third, the Fourth and the Sixth symphonies.

 

 

 

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