Nicola Benedetti
Photo: Solea

Nicola Benedetti, schottische Geigerin mit italienischen Wurzeln, geht zielstrebig aber auch mit künstlerischem Verantwortungsgefühl ihren Weg. Alain Steffen hat der Violinistin Fragen zu Spieltradition, Crossover und Musikgattungen gestellt.

Sie hatten noch die Gelegenheit bei Lord Yehudi Menuhin zu studieren und mit ihm zu spielen. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen großen Musiker?
Erstaunlicherweise war es nicht der direkte Kontakt, der mich geprägt hat, sondern die Tatsache, dass ich zur ‘Yehudi Menuhin School’ kam und den großartigen Geist und Humanismus erleben konnte, der dort herrschte. Andererseits waren es Menuhins frühen Aufnahmen, die mich doch sehr beeinflusst haben. Meine direkte Begegnung mit Menuhin war  sehr kurz, und ich war damals noch sehr jung. Mit elf Jahren war mir natürlich nicht bewusst, welche Größe dieser Mann besaß. Was mir aber geblieben ist – und ich trage das auch jetzt noch in mir – ist das Gefühl, das dieser Künstler in mir ausgelöst hat. Auch jetzt fällt es mir sehr schwer, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Aber ich bedaure sehr, dass ich nicht mehr das Glück hatte, seine persönliche Schülerin zu werden. Der Termin war festgelegt, aber er starb drei Wochen zuvor.

Worin bestand oder besteht für Sie die Größe dieses Musikers?
Sein Klang war einmalig und ich habe noch nie so viel Menschlichkeit in einer Interpretation erlebt. Als Mensch und Musiker war er ein Humanist, der auf einer ganz anderen Ebene lebte als wir. Selbst am Ende seines Lebens, als er technisch nicht mehr so gut spielen konnte, war er fähig, seine Zuhörer in den Himmel zu heben. Das hatte nichts mehr mit Technik zu tun,  es war eine  außerkörperliche Erfahrung. Und diese außergewöhnliche Fähigkeit, Musik wirklich zu vermenschlichen, kann man schon in seinen allerersten Aufnahmen hören. Menuhin war nicht nur ein Wunderkind, er war ‘der’ begnadete Musiker. Und dabei hatte er nie einen richtigen Lehrer. Er hat die Musik von ganz normalen Musikern erlernt. Für mich ist Yehudi Menuhin der größte ausführende Musiker, der je gelebt hat.

Es gibt es eine Vielzahl von außergewöhnlichen Geigern, die die Musik geprägt haben. Menuhin, Milstein, Heifetz, Mutter, um nur einige zu nennen. Ist es eigentlich sehr schwierig für einen jungen Geiger, aus dem quasi übermächtigen Schatten dieser großartigen Musiker herauszutreten?
Ich glaube nicht, dass es direkt mit diesen Musikern zu tun hat. Vielmehr liegt das Problem heute darin, dass alles für jeden zugänglich ist. Wir Musiker haben heute nicht nur die Gelegenheit, unsere Kollegen zu hören, sondern die unendlich vielen Aufnahmen sämtlicher großer Geiger des 20. Und 21. Jahrhunderts sind zu jedem Moment abrufbereit. Früher war das nicht so, aber seit der Generation von Anne-Sophie Mutter sind sämtliche Aufnahmen von Menuhin, Heifetz, Oistrach, Milstein für jeden zugänglich, plus all die Neuaufnahmen, die jedes Jahr hinzukommen. Das ist sehr irritierend. Zumal es unsinnig ist zu behaupten, man könne vergessen, was man gehört hat. Das ist nicht so. Wenn ein Musiker eine Interpretation hört, dann wird er dadurch beeinflusst. Und heute, wo wir ja permanent mit Musik bombardiert werden, werden wir auch permanent beeinflusst. Von allem, was wir hören. Und wir versuchen, wenn auch unbewusst, uns Verschiedenes von dem, was wir gehört haben, in unsere eigne Spielweise mit einfließen zu lassen. Für den Musiker von heute wird es immer schwieriger, herauszufinden, was denn nun seine eigene Persönlichkeit ist und was Beeinflussung. Da muss man schon sehr aufpassen. Aber diese unendliche Vielfalt an Möglichkeiten gehört einfach zu der Zeit in der wir leben. Heute aber die richtige Wahl zu treffen, ist ein enorm schwieriges Unterfangen.

Wenn ich mir  Ihre Interpretationen anhöre, fallen mir auf Anhieb mehrere Charakteristika ein: Technische Virtuosität, Risikobereitschaft, Spannung und eine enorme Spontaneität. Zusammengenommen geben sie der Musik oft ein neues und frisches Gesicht. Glauben Sie, dass es gerade heute wichtig ist, die alten Klassiker von Beethoven, Mendelssohn oder Tchaikovsky einmal kräftig durchzuschütteln?
(lacht) So kann man es auch sagen. Sie haben sicherlich recht mit dem was Sie sagen. Ich erlebe meinen Stil auch als sehr instinktiv. Und dieses Instinktive prägt natürlich auch meine Interpretationen. Allerdings darf eine Interpretation nie zu kalkuliert sein. Es darf nicht sein, dass ein Interpret bewusst Effekte aufsucht um sich selbst in Szene zu setzen. Oder versucht, bewusst neue Wege einzuschlagen, nur um sich interessant zu machen. Natürlich müssen wir uns mit dem Werk beschäftigen und das tun wir heute als Menschen des 21. Jahrhunderts. Vor fünfzig Jahren ist man mit anderen Voraussetzungen an die Musik herangegangen. Auch damals gab es Neues. Aber jetzt  es geht doch alleine darum, die Musik aus unserer Gegenwart so heraus zu interpretieren, dass der Komponist zu seinem Recht kommt. Dann merkt man auch, dass all diese Konzerte stets in Bewegung sind und jede Zeit ihnen neue Aspekte abgewinnt. Und jeder gute Musiker tut das mit seinen persönlichen Möglichkeiten. Sich mit dem Werk beschäftigen, ist eine Sache. Eine ganz andere ist das Spiel selbst im Moment der Aufführung. Und das läuft bei mir sehr viel über den Instinkt und die Freude am Klang. Es macht mir unheimlichen Spaß, zu schauen, wie weit ich ein Werk und seine Musik mit den Möglichkeiten meines Instruments ausloten kann. Und wenn mir das gelingt, dann ist es auch mein Spiel und nicht das Resultat einer äußeren Beeinflussung. Man muss die Musik geschehen lassen.

Wie passt denn dieses Instinktive, Spontane zu der Tatsache, dass der Musiker von heute bereits wissen muss, was er in zwei, drei Jahren in dem oder dem Konzert spielt?
Sie sprechen jetzt genau das an, was ich an meinem Beruf am meisten hasse. Und haben völlig Recht. Es ist schon fast pervers, heute zu wissen, auf was ich in zwei Jahren Lust habe, aber es ist noch perverser, dass ich das heute schon quasi unterschreiben muss. Und jedes Mal, wenn mein Manager mich fragt, was ich in zwei Jahren gerne spielen will – er muss den Organisatoren ja auch eine Antwort geben – bin ich meistens sehr still. Ich hasse es, darüber nachzudenken, weiß aber zugleich, dass ich eine Antwort geben muss.

Danke, dass Sie so offen Stellung beziehen. Die meisten Musiker, die ich danach frage, kommen meistens mit sehr ausweichenden Antworten.
Ich liebe meinen Beruf über alles, Musik machen, Konzerte spielen, Menschen begegnen, das alles ist unheimlich toll und bereichernd. Aber heute zu entscheiden, was ich in drei Jahren spielen will… Nein!

Als Interpretin sind Sie der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts gegenüber sehr aufgeschlossen. Ist es eigentlich schwierig für Sie, zwischen dem klassischen und dem modernen Repertoire hin- und herzuwechseln?
Also, ich liebe das klassische Repertoire und ich liebe auch die zeitgenössische Musik. Allerdings kann ich nicht beliebig zwischen diesen beiden Genres hin- und herwechseln. Das hat aber nichts mit Spieltechnik oder Stil zu tun, sondern viel eher mit meiner persönlichen Einstellung. Wenn ich ein Werk spiele, muss ich mich hundertprozentig investieren. Und wenn ich MacMiIllan oder Taverner probe, brauchen diese Werke meine ganze Aufmerksamkeit. Parallel dann noch schnell hier und da einen Beethoven spielen, das kann ich nicht, weil ich mich zu dem Moment in einer ganz anderen musikalischen Welt befinde. Es hat sich aber jetzt so ergeben, dass ich seit zwei Jahren fast keine zeitgenössische Musik mehr gespielt und mich mehr auf das klassische Violinrepertoire konzentriert habe. Aber ich werde ich mich wieder vermehrt den neuen Werken zuwenden. Wissen Sie, es ist sehr wichtig, dass man das Repertoire und die Werke, die man spielen will, sehr bewusst auswählt. Für mich gilt das jedenfalls. Denn nur wenn ich mich hundertprozentig auf ein Werk einlasse, kann ich eine dementsprechende Leistung bringen.

Sind diese modernen und klassischen Welten denn wirklich so verschieden?
Sie können es sein, sind es aber nicht immer. Viele moderne Komponisten orientieren sich immer noch an der klassischen Tradition und komponieren ihr Werk als logische Suite der musikalischen Entwicklung. Es ist ja auch nicht der Stil oder die Technik, die komplett anders sind. Die Verschiedenheit kommt viel eher über die gefühlsmäßige Schiene. Welche musikalischen Welten allerdings für mich sehr verschieden sind, das sind nicht Moderne und Klassik sondern Moderne und Barock. Das ist wirklich etwas komplett anderes.

Beeinflusst die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Musik die Interpretation der klassischen Werke?
Indirekt. Wichtig ist für mich die direkte Auseinandersetzung mit einem Werk, das noch gar nicht oder nur selten gespielt wurde. Das bedeutet, dass der Komponist enorm interessiert an dem ist, wie der Musiker bei der Erarbeitung seines Werkes vorgeht. Und das Interesse, was ja gegenseitiger Natur ist, fördert den Dialog. Und im Dialog mit dem Komponisten lerne ich, was wesentlich ist, wie er seine Musik sieht und wie er sie hören will. Als Solistin beschäftige ich mich dann viel intensiver mit Struktur, Analyse und Aussage und lerne neue Wege, an die Musik heranzugehen. Und dieser Weg des Lernens, des Vertiefens und Analysierens, hilft mir dann auch bei meiner Beschäftigung mit dem klassischen Repertoire. Ich nehme die Musik dann auch anders wahr.

Seit einiger Zeit ist das Crossover sehr beliebt geworden. Auch, oder vielleicht gerade bei jungen Musikern. Ist es nun eher eine Frage des Geldes oder steckt doch  die ehrbare Absicht dahinter, die große Masse möglichst behutsam an die klassische Musik heranzuführen?
Gute Frage! Ich glaube, alle Versuche der großen Plattenfirmen  Crossover zu machen, verfolgen einzig und allein den Zweck, viel Geld zu machen. Aber ich muss auch sagen, dass nicht alles, mit dem das große Geld gemacht wird, keine künstlerische Qualität besitzt. Es kommt vor, allerdings relativ selten, dass sich im Crossover  Profit und künstlerisches Niveau die Waage halten, und die Menschen es trotzdem mögen. Crossover könnte ein sehr interessanter Bereich sein, der wirklich eigenständig funktionieren würde. Man müsste sich nur etwas Mühe geben, dem Crossover ein wirkliches Gesicht zu geben. Denn leider beschränkt sich das Ganze meist auf ein reines, phantasieloses und liebloses Verpoppen klassischer Stücke. Nehmen Sie David Garrett. Was er momentan macht, ist Popmusik. Die Branche aber versucht ihn immer noch als klassischen Violinisten zu verkaufen. Und da liegt das Problem. Die Verantwortlichen müssten einfach nur Farbe bekennen und das, was sie machen, ganz klar benennen. Ein anderes Beispiel. Bei all diesen Casting- und Talentshows geht es den Organisatoren nicht wirklich um das Talent, das einer hat oder nicht hat. Der Markt diktiert, was gefällt und das sogenannte Talent wird diesem Bild angepasst. Nehmen wir Paul Potts. Anstatt diesem Mann  zu bewundern, wie gut er als Amateur singen kann, will man ihn partout als einen geborenen Opernsänger verkaufen. Er singt zwei drei Arien, die er mit Müh’ und Not schafft und den Millionen Leuten vor dem Fernseher verkauft man das dann als Kunstform Oper. Zum einen hat Paul Potts Gesang nichts mit wirklichem Operngesang zu tun, zum anderen erhalten die Menschen ein völlig falsches Bild von Oper. Da geht es dann wirklich nicht um künstlerisches Können, sondern einfach um das große Geld. Und das frustriert mich!

Und wenn man den europaweiten Abbau der Fächer Kunst und Musik in den Schulen betrachtet, scheint es um das Kulturverständnis nicht besonders gut bestellt zu sein. Sie selbst sind aber sehr engagiert auf diesem Gebiet und versuchen, die Kinder musikalisch zu fördern.
Ja, in Zusammenarbeit mit der Regierung läuft in Schottland ein Projekt, das ähnlich wie ‘El Sistema’ in Venezuela auch minderbemittelten Kindern die Möglichkeit geben soll, Musik zu machen und Musik zu studieren. Das eigentliche Problem aber liegt an den Lehrern, die oft nicht wissen, wie sie Musik an Kinder vermitteln sollen. Ich selbst hatte das Glück, von Anfang an hervorragende Lehrer zu haben. Es ist demnach wichtig, dass wir Musiker, die unseren Beruf lieben, auch die Lehrer ausbilden, die dieses Wissen dann an die Kinder weitergeben können. Denn nur, wenn die Musikstunden qualitativ gut sind, wird das Kind etwas lernen. Wenn ein Kind permanent einen schrecklichen Klang auf seinem Instrument produziert und nicht verbessert wird, weil die Noten dem Lehrer vielleicht wichtiger erscheinen, dann wird das Kind die Lust am Spiel und am Produzieren eines Klanges schnell verlieren. Denn was ist die Musik anderes als die Produktion eines Klanges? Ich selbst unterrichte regelmäßig auch Kinder und versuche, ihnen vor allem den Spaß und die Freude an der Musik und am Spiel zu vermitteln. Und es ist enorm wichtig, dass es solche Projekte gibt, die sich über die Musik auch Randgruppen nähern. Die Jugendlichen, die vorher oft kriminell waren oder Drogen genommen haben, gewinnen an Selbstwertgefühl, Stolz und Gruppenempfinden.

Sie haben eben den Klang angesprochen. Wie wichtig ist dabei das Instrument, in Ihrem Falle eine Stradivari von 1712? Und sind die alten Instrumente wirklich besser als die Neuen?
Ich weiß es nicht. Ich habe immer nur auf alten Instrumenten und nie auf einer neuen Geige gespielt. Glaube ich aber meinen Kollegen, die sowohl auf alten wie auf modernen Instrumenten gespielt haben, so sind sie einstimmig der Meinung, dass die älteren Instrumente besser sind. Warum? Nun, eine moderne Geige hat ein sehr begrenztes Klangspektrum, eine Stradivari, bei der Holz und Lasur über Jahrhunderte gearbeitet haben, besitzt dagegen ein unwahrscheinlich großes Spektrum, sowohl in der Höhe wie auch in der Tiefe. Und für mich ist auch die Qualität des Klanges, seine Resonanz und Transparenz bei den alten Instrumenten einfach besser.
Ich bin mit meiner Stradivari sehr, sehr glücklich, weil ich auf ihr all das machen kann, was ich will. Wenn man lange auf einem solchen Instrument spielt, dann kennt man es in- und auswendig und man weiß, wie man seinen Klang einsetzen kann, muss, um seine inneren Vorstellungen in Klang umzusetzen. Instrumente sind aber immer etwas sehr Persönliches und jeder Musiker muss das Instrument finden, das für seine Persönlichkeit das Richtige ist. Natürlich spielt auch die Geschichte eines Instruments mit, wer es gebaut hat, wer schon darauf gespielt hat, was es alles erlebt hat. Obwohl sich gerade das alles wohl nur in unserem Kopf abspielt und mit der Qualität tatsächlich überhaupt nichts zu tun hat. Aber vielleicht verpflichten uns Musikern diese romantischen Vorstellungen dazu, unser Allerbestes zu geben (lacht).

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