Eugène Ysaÿe: Konzert für Violine und Orchester e-Moll + 2 Mazurkas de Salon op. 10 für Violine und Klavier + Poème concertant (orchestriert von Erika Vega) + Rêve d'enfant op. 14 für Violine und Klavier; Philipp Graffin, Violine, Marisa Gupta, Klavier, Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, Jean-Jacques Kantorow; # AVIE Records AV2650; Aufnahme 06.+10.2023, Veröffentlichung 09.02.2024 (71'33) – Rezension von Uwe Krusch

Auch bei Komponisten, die gut bekannt sind, gibt es oft noch Werke zu entdecken. Dazu zählen auch drei der vier Einspielungen auf diesem Album. Während Rêve d’enfant zu den bekanntesten und auch beliebten Stücken aus der Feder von Eugene Ysaÿe gehört, sind die beiden Mazurken zumindest in Westeuropa selten zu hören. Da sie auf einer Tournee in Russland entstanden und dort verlegt wurden, mag das den Schwerpunkt erklären.

Die beiden Kompositionen für Violine und Orchester sind in dieser Form erst jetzt entstanden. Der mit dem Geiger Philipp Gaffin befreundete Musikologe Xavier Falques, ein Experte in Sachen Ysaÿe, hat das Konzert in e-Moll nach Entwürfen fertiggestellt. Die Komponistin Erika Vega hat, im Kontakt mit Falques, das Poème concertant in der hier zu hörenden orchestralen Fassung geschaffen.

Im e-Moll Konzert setzt Ysaÿe Maßstäbe für andersartige technische Anforderungen und neue harmonische Gestaltungen. Sein Ziel war, musikalische Werte und Virtuosität zu verbinden. Er nimmt Bekanntes, etwa das Fehlen des ersten Tutti wie bei Mendelssohn, was die Violine zum Treiber animiert, aber integriert und strukturiert durch orchestrale Ritornelle. In der technischen Behandlung des Solos ebenso wie in der Rolle gegenüber dem Orchester, insbesondere den Holzbläsern, liegt die Individualität.

Der zweite Satz zeigt in die Zukunft; es erklingen ausgeprägte chromatische Harmonien, die Ysaÿe später als bevorzugtes Mittel einsetzte. Das Rondo schließt den Bogen zur Linie der diabolischen Schlusssätze historischer Vorbilder. Ysaÿe hatte Probleme mit diesem Satz, ein erstes Finale gab er auf. Ein zweites, hier zu hören, musste aus diversen Versionen analytisch rekonstruiert werden.

Die Entdeckung bzw. Ausformulierung dieser beiden Konzerte hat der Geiger Philipp Graffin intensiv begleitet und die Einspielungen an sich gezogen. Sein rassiges Spiel zeugt von der Leidenschaft, mit der er diese Aufgabe angegangen ist. Dabei setzt er sein Interesse nicht mit einem oberflächlich Spiel in Szene, wofür die Werke auch die Möglichkeit böten, sondern nähert sich den Kompositionen mit tiefschürfenden Deutungsansätzen, die nur dann virtuos im Tonfall werden, wenn, etwa im dritten Satz, die Musik ein solches Herangehen fordert. Mit klar formulierten Farbunterschieden zwischen Höhen und Tiefen gestaltet er aufmerksam. Damit gelingt es ihm, eine künstlerische Spannung zu bewirken, die die Werke edelt.

Bei den beiden Konzerten bieten sich Dirigent Jean-Jacques Kantorow und das vom ihm geleitete Royal Liverpool Philharmonic Orchestra als mitgehende Partner an, die das orchestrale Umfeld nuanciert und ausgeformt bespielen.

Für den Kindertraum und die beiden Mazurken zeichnet Marisa Gupta am Klavier die Pianostimme, was auch ihr mit Können und Geschick gelingt.

Even with composers who are well known, there are often still works to be discovered. This includes three of the four recordings on this album. While Rêve d’enfant is one of the best known and most popular pieces by Eugene Ysaÿe, the two mazurkas are rarely heard, at least in Western Europe. As they were written during a tour in Russia and were published there, this may explain the focus.

The two compositions for violin and orchestra have only just been written in this form. The musicologist Xavier Falques, a friend of violinist Philipp Gaffin and an expert on Ysaÿe, completed the Concerto in E minor from sketches. The composer Erika Vega, in contact with Falques, created the Poème concertant in the orchestral version heard here.

In the E minor concerto, Ysaÿe sets standards for different technical requirements and new harmonic arrangements. His aim was to combine musical values and virtuosity. He takes familiar elements, such as the absence of the first tutti as in Mendelssohn, which encourages the violin to drive, but integrates and structures them through orchestral ritornelle. The individuality lies in the technical treatment of the solo as well as in its role in relation to the orchestra, especially the woodwinds. The second movement points to the future; it features pronounced chromatic harmonies, which Ysaÿe later used as his preferred means. The Rondo closes the arc to the diabolical final movements of historical models. Ysaÿe had problems with this movement and abandoned a first finale. A second, heard here, had to be reconstructed analytically from various versions.

In both concertos, conductor Jean-Jacques Kantorow and the Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, which he leads, offer themselves as partners who play the orchestral environment in a nuanced and shaped way.

Marisa Gupta provides the piano part for the Children’s Dream and the two Mazurkas, which she also performs with skill and ability.

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