Jean Sibelius: Symphonie Nr. 2 op. 43; Edvard Grieg: Allegretto grazioso (Symphonische Tänze op. 64/2) + Letzter Frühling (Zwei elegische Melodien op. 34/2); Gürzenich-Orchester Köln, Dmitrij Kitajenko; 1 CD Oehms Classics, OC457; Aufnahmen 2015/2017, Veröffentlichung 08/06/2018 (63’27) - Rezensionen von Remy Franck und Guy Engels

(Remy Franck): “Sie sind eine wunderbare Person: Sie haben die ultimative Tiefe des Unterbewussten und des Unaussprechbaren erreicht und ein Werk geschaffen, das an ein Wunder grenzt », schrieb Wilhelm Stenhammar im Jahre 1902 an Sibelius, nachdem er in Stockholm die Zweite Symphonie des Finnen gehört hatte. Selten hat sich das so sehr bestätigt wie in dieser neuen Aufnahme durch das Gürzenich-Orchester unter Dmitrij Kitajenko, in der der Dirigent wieder aus seinem unvergleichlichen Farbenarsenal schöpft und seinen genauso unvergleichlichen Sinn der Ausformung zeigt.

Gleich der erste Satz zeugt von den psychologischen Spannungen des Komponisten, der seine Symphonie in Italien skizziert und damit italienische Sonne in die Musik eingebracht hatte, sie aber erst fertig stellte, als seine Ehe eine tiefe Krise durchlief.

Kitajenko lässt die Musik noch eher ruhig und entspannt anlaufen, bringt dann aber schnell das fast paranoide Drama mit einer unerbittlichen Spannung so zum Glühen, dass man beim Hören Gänsehaut bekommt. Er baut gewaltige, spannungsvolle Steigerungen auf einem langen, nicht enden wollenden Atem auf und lässt diese in ein tiefes Ausatmen münden.

Der zweite Satz beginnt ausgesprochen düster und geht in der Mitte in ein kurzes, fast religiöses Statement über, ehe sich aus diesem ein unerhörtes Konfrontationsdrama entwickelt, in dem das zarte Motiv mehrmals auftaucht und immer trauriger wird. Die Musik spielt sich dabei auf mehreren Ebenen ab, die Kitajenko mit musikalischem 3-D visualisiert. Das ist alles sehr sinnlich und ungemein zwingend, denn die Kraft, die sich in dieser Interpretation äußert, gibt es sonst nirgends, nicht einmal in Paavo Järvis Aufnahme aus Cincinnati, die bisher eine meiner Referenzen war.

Furchtbar brodelnd, elementar urwüchsig beginnt das Vivace, in das Kitajenko dann einen hymnischen Mittelteil hinzaubert, der eigentlich nur schamanische Ruhe vor einem neuen, rasenden Herzklopfen ist, in das dann das überwältigende Gefühl der Liebe einbricht und den Satz zum Licht und zum gewaltigen Finale führt. Doch auch in diesem Satz differenziert Kitajenko das Geschehen sehr stark, mit ungeahnten rhythmischen und dynamischen Veränderungen und einem ungemein plastischen, transparenten Klang. Es ist ein Satz voller Reminiszenzen, der aus den unterschwellig immer noch präsenten dunkeln Gedanken das Positive destilliert. Die finale, zehn Minuten lange Steigerung so packend zu realisieren, schafft nur eine große Dirigentenhand.

Nach diesem ergreifenden Erlebnis ist Griegs ‘Zweiter Symphonischer Tanz’ ein Ausflug ins Grüne, wunderbar farbig und voll genuinen Charmes, während der ‘Letzte Frühling’ aus den ‘Elegischen Melodien’ in Kurzform Kitajenkos Formsinn und sein Gefühl für Nuancen noch einmal beeindruckend vor Ohren führt, mit einem Orchester, das an seinem magischen Dirigentenstab zu einer perfekt verbundenen Einheit wird. Da kommt ein tiefes Glücksgefühl auf!

(Guy Engels): Mehr noch als bei anderen Komponisten muss man Sibelius‘ Symphonien kammermusikalisch denken. Ansonsten verlieren sich die fein gesponnenen Einzelstränge im Niemandsland, und das musikalische Gebilde zerbröckelt wie ein loser Sandsteinbau.

Dmitrij Kitajenko hat ein besonderes Gespür für die Feinheiten der Sibelius-Partitur, die einem eigentlich vertraut klingt. Dennoch überrascht der Dirigent mit scheinbar unwesentlichen Einwürfen, die das Klangspektrum bereichern: etwa die rhythmische Betonung der Bässe oder die stärkere Einbindung der Pauken als Melodie-Instrument.

Das hervorragend disponierte Gürzenich-Orchester folgt seinem Ehrendirigenten mit höchster musikalischer Spannung durch diese zweite Sibelius-Symphonie. Der satte, homogene Streicherklang, die wunderbar kommunizierenden Holzbläser sowie die strahlenden, nie überspitzt formulierenden Blechbläser spielen – Achtung, hier kommt ein altmodisches Wort – ganz einfach schön. Diese Musik hat schlicht eine innere Ausstrahlung, eine wunderbare Klangvielfalt, die noch lange nachhallt, wenn das Abspielgerät schon längst ausgeschaltet ist.

Dmitrij Kitajenko’s recording of Sibelius’ Second Symphony must be the most atmospheric and the most gripping performance available on disc. With extremely rich and differentiated textures and a forceful breathing it is stunning in its immediacy and impact.

 

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