
Idomeneo wird als bekannt vorausgesetzt, auch wenn es nicht zu den meistgespielten von Mozart gehört. Fokussiert gesagt, berichtet der antike Stoff vom kretischen König Idomeneo, der sich nach seiner Heimkehr vom Trojanischen Krieg auf Grund eines Schwures gezwungen sieht, seinen Sohn zu opfern, um den Gott Nettuno zu besänftigen. Das Sujet verhandelt somit das Verhältnis von Menschen und Göttern.
Insofern kann man sich auf die erbrachten Leistungen des Mitschnitts aus drei konzertanten Aufführungen vom Dezember 2023 konzentrieren, die ohne die für szenische Aufführungen zusätzlich denkbare Ballettmusik KV 367 auskommen. Das zweisprachige Begleitheft bietet zu Inhalt und Entstehung gute Informationen. Das Libretto kann gesondert in Deutsch und Italienisch über einen QR-Code herangezogen werden.
Die angebotene Deutung kommt Mozarts Opernästhetik sehr entgegen. Denn die Interpreten bieten stimmlich ausdrucksvoll und überzeugend auftretend ihre Rollen dar, um Handlung, Figuren und Gefühle lebendig wirkend zu konkretisieren. Dazu trägt auch das machtvolle und zumeist vorzügliche Spiel des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks bei. Simon Rattle weiß seine gesammelte Erfahrung als Dirigent einzusetzen, um das Orchester zu intensivem, nicht nachlassendem Spiel zu animieren. Die Effekte sitzen. Es gelingt Rattle genauso souverän, Chor und Solisten im Verbund zu halten und ihnen auch den klanglichen Vortritt vor den Musikern zu lassen, wobei sicherlich auch die Aufnahmetechnik gestützt hat.
Das Tableau der Sänger ist bis auf eine Ausnahme sehr gut. Ob sie alle speziell für eine Oper von Mozart die beste Auswahl sind, mag man diskutieren. Andrew Staples ist als Idomeneo und damit in der namensgebenden Rolle zu hören. Ihm gelingt eine fein nuancierende Ausleuchtung seines Parts, wobei er seine Tenorstimme mit Verve, aber unaufdringlich souverän erklingen lässt.
Die Rolle der Idamante ist bei Magdalena Kozena angesiedelt. Ihr Mezzosopran erklingt mit gewohnter Sicherheit und Ausstrahlung. Ihre Stimme wirkt im Vergleich zu den anderen ein wenig belegt, ohne dass die Qualität der Gesangsführung leidet.
Sabine Devieilhe als Ilia kann in allen Bereichen, Interpretation, Gesangskunst, Gestaltung und Schönheit der Stimme, jeder Rolle gerecht werden und das tut sie auch hier. In ihrer Arie Se il padre perdei weiß sie ihre Liebe zu Ideomeneo mit feinsten Schattierungen der Stimme auszukosten.
Elsa Dreisig bringt ihre Deutung für die Person der Elettra glasklar und dezidiert mit ihrem Sopran ein und sorgt für eine belebende Frische und Intensität. Im von Mozart selber sehr geschätzten Quartett Andrò ramingo e solo im dritten Akt sorgen die vier Vorgenannten für eine exzellente Umsetzung, so dass diese Szene zu einem Höhepunkt wird.
Allan Clayton überzeugt in der kleinen aber feinen Partie des Oberpriesters des Neptun mit ansprechendem Tenor.
Bei den Solisten fällt der Tenor Linard Vrielink als Arbace leider unangenehm auf. Seine große Arie Se colà ne‘ fati è scritto etwa hat weder Schwung, der wird vom Orchester schon nicht vorbereitet, noch kann er stimmlich gefallen. Etliche Töne wirken gequält oder schlicht unsauber. Vielleicht war er nur indisponiert. Denn aus drei Konzerten keine überzeugende Version nehmen zu können, zeigt ein Problem an.
Die Bassstimme von Tareq Nazmi für die Stimme des Orakels ist zusammen mit den markant zulangenden Blechbläsern ein einschüchternder Genuss. Auch alle anderen kurzen Auftritte ergänzen das Gesamtbild in sehr angenehmer Art und Weise.
Der Chor des Bayrischen Rundfunks darf, etwa in der Szene Oh, voto tremendo! mit aller Kraft zupacken. Mit wichtigen Beiträgen bis hin zum Schlusschor ist die Aufgabe des Chores nicht zu unterschätzen. Sie werden den Anforderungen souverän gerecht.
Bei einer insgesamt gelungenen Interpretation lassen sich kleine Schwächen nicht leugnen. Vielleicht stellt sich aber für den Interessenten mehr die Frage, ob er einer Aufnahme mit einem groß besetzten klassischen Symphonieorchester den Vorzug gibt, die viel Pracht und damit die von Mozart gewünschten Effekte kraftvoll herausstellen kann. Oder ob er einer schlankeren Sicht durch ein historisch noch mehr informiertes kleineres Ensemble den Vorzug geben möchte, die mit einer anderen Agilität ihre feinen Reize entfaltet. Insofern wird beispielsweise auf die schon etwas zurückliegende Aufnahme mit dem Freiburger Barockorchester unter der Leitung von René Jacobs verwiesen (Rezension siehe unten).
The work is assumed to be well known, even though it is not one of Mozart’s most frequently performed compositions. In brief, the ancient story tells of the Cretan king Idomeneo, who, after returning home from the Trojan War, is forced by an oath to sacrifice his son in order to appease the god Neptune. The subject thus deals with the relationship between humans and gods.
In this respect, one can concentrate on the achievements of the recording of three concert performances from December 2023, which do without the ballet music KV 367 that would otherwise be conceivable for staged performances. The bilingual booklet provides good information on the content and origins of the work. The libretto can be accessed separately in German and Italian via a QR code.
The interpretation offered is very much in keeping with Mozart’s operatic aesthetic. The performers portray their roles with vocal expressiveness and conviction, bringing the plot, characters, and emotions to life. The powerful and mostly excellent playing of the Bavarian Radio Symphony Orchestra also contributes to this. Simon Rattle knows how to use his wealth of experience as a conductor to inspire the orchestra to play with intensity and without let-up. The effects are spot on. Rattle succeeds just as confidently in keeping the choir and soloists together and allowing them to take precedence over the musicians in terms of sound, although the recording technology certainly helped here too.
With one exception, the cast of singers is very good. Whether they are all the best choice for a Mozart opera is open to debate. Andrew Staples sings the title role of Idomeneo. He succeeds in bringing subtle nuances to his part, letting his tenor voice ring out with verve but unobtrusively confident.
The role of Idamante is sung by Magdalena Kozena. Her mezzo-soprano voice rings out with its usual confidence and charisma. Compared to the others, her voice seems a little husky, but this does not detract from the quality of her singing.
Sabine Devieilhe as Ilia is capable of doing justice to any role in all areas, including interpretation, vocal artistry, presentation, and beauty of voice, and she does so here as well. In her aria “Se il padre perdei,” she savors her love for Ideomeneo with the finest nuances of her voice.
Elsa Dreisig brings her interpretation of the character of Elettra crystal clear and decisive with her soprano voice, providing invigorating freshness and intensity. In the quartet “Andrò ramingo e solo” in the third act, which Mozart himself greatly appreciated, the four aforementioned singers provide an excellent performance, making this scene a highlight.
Allan Clayton is convincing in the small but fine role of Neptune’s high priest with his appealing tenor voice.
Among the soloists, tenor Linard Vrielink unfortunately stands out unpleasantly as Arbace. His big aria “Se colà ne’ fati è scritto,” for example, lacks momentum, which is not prepared by the orchestra, and he is also vocally unappealing. Several notes sound strained or simply sloppy. Perhaps he was simply indisposed. But failing to deliver a convincing performance in three concerts indicates a problem.
Tareq Nazmi’s bass voice for the Oracle, together with the strikingly long brass instruments, is an intimidating delight. All the other short appearances also complement the overall picture in a very pleasant way.
The Bavarian Radio Choir is allowed to give it their all, for example in the scene “Oh, voto tremendo!” With important contributions right up to the final chorus, the choir’s task should not be underestimated. They confidently rise to the challenge.
Although the interpretation is successful overall, minor weaknesses cannot be denied. Perhaps the question for interested listeners is whether they prefer a recording with a large classical symphony orchestra, which can powerfully emphasize the splendor and thus the effects Mozart desired. Or whether they would prefer a leaner approach by a smaller ensemble with even greater historical knowledge, which unfolds its subtle charms with a different kind of agility. In this respect, reference is made, for example, to the somewhat older recording with the Freiburg Baroque Orchestra conducted by René Jacobs.
NEUE MOZART-VISION
Supersonic – W. A. Mozart: Idomeneo; Richard Croft, Bernarda Fink, Sunhae Im, Alexandrina Pendatchanska, Kenneth Traver, RIAS Kammerchor, Freiburger Barockorchester, René Jacobs; 3 CDs + 1 DVD Harmonia Mundi HMC 902036.38; 2009 (191’06) – Rezension von Guy Wagner
‘Idomeneo’ ist die erste große Oper des großen Amadé. Sie schließt eine Zeit ab und öffnet das Tor weit für die großen Meisterwerke des letzten Jahrzehnts in Mozarts viel zu kurzem Leben. Sie verbindet auf ebenso geniale wie natürliche Art Elemente der Opera seria, des Schaffens von C. W. Gluck, der italienischen und der französischen Opernkompositionen jener Zeit, und ist doch eine ganz eigenständige, unverkennbare Musikschöpfung.
Weil sie aber so neu und originell ist, wurde sie vielfach nicht verstanden und oft maßlos gekürzt. Bei René Jacobs haben wir es daher – meines Wissens nach – erstmals mit der völlig ungekürzten Fassung der Oper zu tun, die zugleich zur großartigen Entdeckung eines zeitlosen Meisterwerkes wird.
Es führte in diesem Rahmen zu weit, um ins Detail der Produktion zu gehen. Hervorheben sollte man aber, wie intensiv jedes Rezitativ hier mit Leben erfüllt wird, wie jeder Gesangsinterpret zugleich auch schauspielerisch auf der Höhe ist, ob es sich um den leuchtenden Richard Croft (Idomeneo) handelt, den brillanten Kenneth Traver (Arbace) oder die stimmgewaltigen Nicolas Rivenq (Gran Sacerdote) und Luca Tittoto, als Neptun, die Stimme des, im wahrsten Sinne des Wortes, ‘Deus ex machina’. Auch bei den Damen herrscht reines, eitles Stimmglück vor. Ungemein sensibel und feminin ist Sunhae Im (Ilia), anrührend, ja, ergreifend wirkt Bernarda Fink (Idamante) und faszinierend in ihrer Bosheit Alexandrina Pendatchanska als Elettra. Alle können dank René Jacobs bis an die Grenzen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten gehen, erreichen diese auch, ohne sie jedoch zu überschreiten, so dass die Darbietung aus einem Guss ist und zum reinen Genuss wird. Dieser verstärkt sich noch durch die überragende Leistung des Freiburger Barockorchesters, das ebenso natürlich und brillant klingt, wie es wahr wirkt. Gleiches gilt für den stupenden RIAS Kammerchor mit gesanglichen ‘Stimmungsbildern’, die einen zum Schwelgen bringen. Souverän wird das Ganze geleitet, besser noch: getragen von René Jacobs, und wenn man wissen möchte, was tiefgreifende Probenarbeit bedeutet, so sehe man sich die beigefügte, prächtige DVD zu diesem ‘Message of humanity’ an, und erfahre, was intensive Probenarbeit bedeutet. Da lernt man zudem viel hinzu über die Handlung und die Charaktere der Oper, die Partitur und auch die Schnitte, die Mozart selbst schon vorgenommen hatte oder hatte vornehmen müssen.
Ein guter Ratschlag zu Schluss: Man nehme sich Zeit beim Sehen und beim Hören! Dies ist kein Werk, das man über sich ergehen lässt, sondern eines, das man (nach)erleben muss, um seinen Reichtum, seine Tiefe und seine Schönheit zu erfahren. Diese aber werden dann zu einer seltenen Bereicherung, und somit wird die herausragende und technisch makellose Produktion von Harmonia Mundi zu einer neuen Mozart-Vision für ein neues Zeitalter.