Photo: Mathias Bothor Deutsche Grammophon

Ein Interview von Alain Steffen

Maurizio Pollini wurde 1942 in Mailand geboren, galt als pianistisches Wunderkind, gab schon 1952 sein erstes öffentliches Konzert und krönte seine frühe Karriere 1960 mit einem Sieg beim Chopin-Wettbewerb in Warschau. Seit Mitte der Sechzigerjahre ist Maurizio Pollini als Solist in allen bedeutenden Musikzentren der Welt aufgetreten Sein Repertoire reicht von Bach bis hin zu Werken zeitgenössischer Komponisten: Er ist ein großer Verfechter der Neuen Musik! Dennoch stand und steht Beethoven immer im Mittelpunkt seiner Arbeit. Alain Steffen hat sich mit dem Ausnahmemusiker unterhalten.

Signore Pollini, vor dreiβig Jahren haben Sie begonnen, die Klaviersonaten von Beethoven einzuspielen. Was hat sich im Laufe dieser Zeit für Sie hinsichtlich der Auffassung und des Verständnisses geändert?
Ich kann nicht sagen, dass ich meine Grundeinstellung geändert hätte. Heute ist für mich alles deutlich klarer. Ich habe das Gefühl, sie im Detail besser zu verstehen. Beethoven ist für mich immer eine Lebensaufgabe gewesen. Ich habe mich daher sehr intensiv mit seiner Musik befasst, wohl mehr als mit jedem anderen Komponisten. Was mich bei Beethoven immer interessiert hat, das sind seine Tempoangaben.  Heute bin ich zur Überzeugung gekommen, dass man sich nicht genau an die vorgegebenen Metronomangaben halten muss, sondern diese Angaben nur als Schlüssel benutzen soll. Vielmehr soll man darauf Acht geben, was Beethoven wollte. Wenn er z.B. schreibt, der letzte Satz in seinem Quartett op. 59 Nr. 2 soll « wie verrückt » gespielt werden, dann soll man versuchen, diese inhaltliche Anweisung zu befolgen und nicht unbedingt die genaue Metronomangabe. Würde man es trotzdem tun, so wäre es viel zu schnell und es ginge sicher eine Menge an Präzision und Klarheit verloren.

Hatten Beethovens eigene Metronomangaben vielleicht auch etwas mit der Qualität der damaligen Instrumente zu tun?
Heute weiβ man sehr genau, dass Beethoven mit den Instrumenten seiner Epoche nicht zufrieden war. Seine Ideen, seine Musik waren der damaligen Zeit weit voraus, so dass die Instrumente, die man am Beginn des 19. Jahrhunderts hatte, seinen Anforderungen und der Qualität seiner Musik nicht gerecht wurden. Um auf Ihre Frage zu antworten; Beethoven hat seine Musik sicherlich nicht den instrumentalen Gegebenheiten seiner Zeit angepasst. Darum finde ich es auch irgendwie unsinnig, dass man heute versucht, seine Musik gerade auf solchen Instrumenten, die er persönlich verabscheute, wiederzugeben. Das ist eine falsch verstandene Authentizität. Man kann sowieso nie sagen, wie ein Komponist seine Musik wirklich hören wollte. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass ein modernes Klavier den Absichten und letztendlich der Qualität von Beethovens Musik viel näher kommt, als ein historisches. Und das merkt man erst recht, wenn man Beethoven spielt. Unsere heutigen Klaviere passen genau auf die klanglichen Vorstellungen, die Beethoven vor zweihundert Jahren hatte.
Ähnlich verhält es sich mit der Besetzung des Orchesters. Beethoven spielte seine Symphonien mit einem klassischen Orchester, also sechs erste, fünf zweite Geigen, usw. Man weiβ aber auch, dass er bei der Uraufführung seiner 2. Symphonie die Möglichkeit hatte, auf ein gröβeres Ensemble zurückzugreifen, denn alle Musiker von Wien wollten bei diesem Ereignis mitspielen. Dieses Orchester spielte mit doppeltem Holz, zwölf Kontrabässen und war tatsächlich gröβer, als die üblichen vollbesetzten Symphonieorchester von heute. Mann kann also nicht sagen, dass Beethoven für ein kleines Orchester komponiert hat, nur, er hatte meistens nicht die Möglichkeit, seine Musik mit einem groβen Ensemble zu spielen.

Das alles weist darauf hin, dass Sie der historischen Aufführungspraxis gegenüber eher kritisch eingestellt sind.
Ich bin sehr skeptisch! Ich glaubenicht, dass wir heute imstande sind, die Klangvorstellungen von damals exakt zu reproduzieren. Ich zweifele daran, ob sie wirklich dem entsprechen, was dem Komponisten  vorgeschwebt ist. Schauen Sie, Bach selbst hat sich immer wieder über die schlechten Instrumente beschwert, dass sie nicht das wiedergeben, was er sich vorgestellt hat. Und nun sollen wir versuchen, seine Musik auf genau diesem Instrumentarium zu spielen, nur weil Bach damals diese unzulänglichen Instrumente benutzt hat, oder besser, hat benutzen müssen? Ich glaube, dieser Weg führt nicht weit. Wir wissen dann vielleicht, wie es geklungen haben mag, aber sicherlich nicht, wie es hätte klingen sollen. Viel wichtiger ist es, herauszufinden, was Bach oder die anderen Komponisten wirklich wollten. Da muss die Authentizität  ansetzen, und dann ergibt es wirklich einen Sinn. Harnoncourt hat das erkannt. Ihm gelingt es wirklich, in seinen heutigen Aufführungen diese Fragen zu beantworten. Aber er ist einer von ganz wenigen, die das wirklich können.

Kommen wir noch einmal auf Ihre Einspielung der Beethoven-Sonaten zurück. Ich gehe ja davon aus, dass eine Gesamteinspielung geplant ist.
(lacht) Wenn ich lange genug lebe, sicherlich! Sie wollen mich sicher darauf ansprechen, wieso das so lange dauert. Nun, ich bin kein Musiker, der sich durch solch ein Projekt unter Druck setzen lässt. Ich behalte mir die Freiheit vor, nur das zu spielen, das mich auch interessiert. Und trotzdem muss ich da auch noch Abstriche machen. Es gibt viele hervorragende Komponisten, wie z.B. Scarlatti, die ich noch nie gespielt habe. Zu den Mozart-Sonaten kam ich auch erst recht spät, obwohl das herrliche Musik ist. Als Interpret muss man sich entscheiden, und man muss auf sich hören. Es bringt mir nichts, nur Mozart zu spielen, weil eben gerade vielleicht ein Jubiläum ist. Als Interpret muss ich ein Werk verinnerlichen, ich muss es in mir tragen, es verarbeiten. Ich muss eine innere Beziehung zu der Musik, die ich spiele, bekommen. Und diese Beziehung kann man zeitlich nicht voraussehen. Erst dann kann und will ich ein Werk spielen oder aufnehmen. Es geht mir also nicht darum, irgendwann mit der Sonate X von Beethoven anzufangen und sechs Monate später mit der Sonate Y die Gesamtaufnahme abzuschlieβen. Das käme Fliessbandarbeit gleich und daran bin ich nicht interessiert. Wenn man als Musiker etwas auf Tonträger bannen will, dann muss man auch sicher sein, dass es einen Sinn ergibt, dass das künstlerische Resultat stimmt und, dass man vor diesem Resultat auch bestehen kann. Aber ich kann Sie beruhigen. Der Beethoven-Zyklus wird weitergeführt und auch abgeschlossen.

Sie werden gerne als eher intellektueller, an der Architektur interessierter Pianist angesehen. Dennoch ist Emotion ihnen nicht hat fremd.
Ich glaube, das soll man nicht so pauschal sehen. Jeder Musiker will etwas ausdrücken, weil ja auch jeder Komponist etwas ausdrücken will. Ich bin da nicht anders als meine Kollegen, wenn vielleicht auch die Wege, dies zu erreichen, anders sind. Aber jeder Interpret arbeitet ja ‘anders’, das macht den Reiz der Interpretationen aus.

Um beim emotionalem Ausdruck zu bleiben. Ist die Suche nach dem Ausdruck in der zeitgenössischen Musik ein anderer als in den Werken klassischer Komponisten?
Wenn man die Musik analysiert, merkt man sehr schnell, dass der Ausdruck bei Bach ein komplett anderer ist als bei Chopin. Mozarts Ausdruck ist wiederum verschieden von jenem Beethovens. Jeder Komponist hat sein eigenes musikalisches Universum und seine eigenen, sehr persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die zudem noch von seinem sozialem Umfeld und der Zeit, in der er lebte, beeinflusst wurden. Und in der zeitgenössischen Musik geht man genau den gleichen Weg. Es ist absolut falsch zu behaupten, dass es in der zeitgenössischen Musik keinen Ausdruck gebe. Das wird dieser Musik leider immer noch und viel zu oft ungerechterweise vorgeworfen. Wenn man heute die Musik von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen betrachtet, kann man bestimmt nicht behaupten, sie hätte keinen Ausdruck. Das Publikum muss natürlich zu dem Punkt kommen, dieser Musik das auch zuzugestehen. Und ich glaube, da hat man heute noch immer Probleme damit.  Was sich im Laufe der Jahrhunderte natürlich geändert hat, das ist die musikalische Form. Und das ist ja auch natürlich, Komponieren ist ja ein sich ewig weiterentwickelnder Prozess. Und es wäre doch auch lächerlich, heute noch die gleichen Ausdrucksmöglichkeiten und Aspekte einer Etüde von Chopin benutzen zu wollen. Stellen Sie sich nur vor, ein Komponist würde heute noch im Stil eines Mozart schreiben. Das würde niemand mehr akzeptieren, weil es einfach nicht mehr zu unserer Zeit, zu unserer Gesellschaft und zur ihrer momentanen Entwicklung passt.
Mit dem Ausdruck muss man als Interpret sehr vorsichtig umgehen. Bachs, Mozarts, Beethovens Gefühle können wir nur erahnen, seine musikalische Botschaft aus dem Werk und der überlieferten Geschichte herausdeuten. Was letztendlich sie wirklich sagen wollten, das werden wir heute nie mehr erfahren. Da hat man es mit den zeitgenössischen Komponisten  viel einfacher. Die meisten leben noch und man kann sie direkt befragen. Zudem ist ihre Musik die Musik von heute, unsere Musik.

Wie würden Sie Interpretation denn definieren?
Eine sehr heikle Frage! Darüber kann man Bücher schreiben. Was ist Interpretation? Vielleicht das Verstehen und Wiedergeben der inneren Welt des Komponisten. Bei der Wiedergabe treffen da aber zwei an sich konträre Perspektiven aufeinander. Einerseits ist es enorm wichtig, das Werk bis ins kleinste Detail zu kennen und zu verstehen, die Botschaft zu verinnerlichen. Und beim Konzert ist es dann wiederum entscheidend, all dieses Wissen für den Moment der Aufführung zu vergessen und die Musik quasi neu und unberührt aus sich herausströmen zu lassen. Das hat aber nichts mit Improvisation zu tun. Es ist, wie wenn man ein Ventil öffnet und sich dem Strom hingibt. Ich glaube, nur wenn diese beiden Aspekte vorhanden sind, wird es ein gutes Konzert, eine überzeugende Interpretation. Vielleicht ist es auch die wichtigste Aufgabe von uns Interpreten, diese beiden Gegensätzlichkeiten, so gut es eben geht, miteinander zu verbinden.

Ihr Vater war Architekt und Ihr Onkel ein bekannter Bildhauer. Hat das Sie beeinflusst?
Nicht direkt! Aber die Tatsache, dass beide sehr avantgardistische Künstler in Italien waren, hat meine Auffassung von Modernität und Stil natürlich sehr geprägt. Darüber hinaus waren meine Eltern sehr musikalisch, mein Vater spielte Violine, meine Mutter Klavier und sie sang auch. Auch mein Onkel spielte Klavier. Eigentlich haben sie mir drei Sachen mit auf den Weg gegeben: Die Liebe zur Musik, die Liebe zur visuellen Kunst und die Liebe zur Modernität. Und ich glaube, all dies beeinflusst meine Art, Musik zu machen auch noch heute.

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