Der Hamburger Pianist Matthias Kirschnereit ist seit 2012 Künstlerischer Leiter des Gezeitenfestivals. Mit exquisitem Programm lockt er ein stetig wachsendes Publikum in die Kirchen, Gutshäuser und Bibliotheken Ostfrieslands. Alain Steffen hat sich mit ihm unterhalten.

Matthias Kirschnereit
(c) Maike Helbig

Ihr Festival Gezeitenkonzerte in Niedersachsen beginnt im Juni und endet im November. 6 Monate Festival, fast 50 Konzerte, da kann man schon nicht mehr von einem kleinen Festival sprechen. Welche Idee steckt dahinter?
Die Gezeitenkonzerte finden in der Regel von Anfang Juni bis Anfang August statt – also etwa 8 Wochen großartige Musik mit zahlreichen Weltstars, Nachwuchskünstlern, Orchestern wie Kammerensembles auf der ostfriesischen Halbinsel. Mit etwa 35-40 Veranstaltungen dürften die Gezeitenkonzerte mittlerweile das größte Flächenfestival im Bundesland Niedersachsen sein. Dies ist das Kernfestival. Die Trägerin des Festivals, die Ostfriesische Landschaft, veranstaltet jedoch unabhängig davon Konzerte über das gesamte Jahr verteilt. Der sensationelle Erfolg und Zuspruch der Gezeitenkonzerte haben uns schließlich dazu bewogen, diese Konzerte eben als Prolog und Epilog in der Festivalbroschüre der Gezeitenkonzerte mit einzubeziehen.

Was sind die großen Leitlinien Ihres Festivals und wer ist die Zielgruppe?
Das Motto könnte lauten: ‘Die Welt zu Gast in Ostfriesland!’. Tatsächlich sind  in den vergangenen 10 Jahren seit Beginn der Gezeitenkonzerte Künstler wie Grigory Sokolov, Alfred Brendel, Maria João Pires, Leif Ove Andsnes, Alice Sara Ott, Lars Vogt, Rudolf Buchbinder, Lise de La Salle, Kit Armstrong, Anna Vinnitskaja, Elisabeth Leonskaja, Herbert Schuch und viele mehraufgetreten.  Hinzu kommen unsere Gipfelstürmer! Da Ostfriesland bekanntlich geographisch eher wenig höhere Berge aufzuweisen hat, nannte ich die Reihe der vielversprechendsten Nachwuchskünstler eben ‘Gipfelstürmerkonzerte’. Ensembles wie zum Beispiel das Vision String Quartett, das Signum Saxophone Quartet, der Hornist Felix Klieser, Oboist Ramon Ortega,  die Pianisten Elisabeth Brauß, Annika Treutler, Lilit Grigoryan, Alexander Krichel  waren schon sehr früh am Beginn ihrer tollen Karrieren bei uns und begeisterten! Dies alles findet zumeist in den wunderschönen, entlegenen alten Kirchen Ostfrieslands statt, die Künstler sind also allesamt sehr nah dran am Publikum – und auch sehr nahbar! Die herzliche Atmosphäre und zugleich professionelle Durchführung zieht jährlich immer mehr Besucher an. Selbstverständlich ist es ein Festival zunächst für die Musikfreunde Ostfrieslands, doch vermehrt verzeichnen wir Musikfreunde, die von weit her anreisen, um den einzigartigen Charme zu genießen. Das Thema Musikvermittlung bedeutet mir sehr viel. Wir kooperieren als erstes Festival überhaupt seit Jahren mit TONALi in Schulen Ostfrieslands, wir arbeiten außerdem mit Rhapsody in School zusammen: mehrfach war ich zum Beispiel an verschiedenen Schulen der Region.

Es gibt heute große renommierte Festivals in Europa. Doch schaut man genauer hin, gibt es überall enorm viele kleine Festivals. Wo situieren Sie sich in dieser Musiklandschaft?
Künstlerisch möchte ich die Gezeitenkonzerte in der allerersten Kategorie angesiedelt wissen. Da gibt es keine Kompromisse. Doch erlebe ich bei etlichen der großen Festivals gewisse Stereotype: zum einen ein Copy & Paste der Majorlabel-Künstler sowie auch das nahezu ausschließliche Präsentieren der Stars der mächtigen Konzertagenturen. Für erstklassige Musiker, die – warum auch immer – nicht zu diesem Zirkel gehören, findet sich dort kaum ein Podium. Außerdem ist mir ein Übermaß an Glamour suspekt. Mir scheint, dass über dem 5 Sterne plus-Hotel, dem Limusinen-Service und den mitunter gigantischen Gagen der eigentliche Sinn und Zweck unseres Tuns in den Hintergrund zu rücken scheint: Nämlich der Musik zu dienen nach bestem Wissen und Gewissen und dem Publikum Freude zu bereiten. Das sollte der höchste Anspruch sein! Ich kenne fast alle Künstlerinnen und Künstler der Gezeitenkonzerte persönlich. Und alle kommen sehr, sehr gerne wieder, werden ein Teil der Gezeitenfamilie und fühlen sich in Ostfriesland einfach wohl.

Matthias Kirschnereit
(c) Neda Navaee

Können gerade heute solche kleinere Festivals überhaupt noch finanziert werden?
Die Gezeitenkonzerte haben bis zum Beginn der Corona Pandemie etwa 60% des Etats durch Ticketverkäufe generiert. Und das, obwohl unsere Preisgestaltung ausgesprochen moderat ausfällt: zuletzt lagen die teuersten Konzertkarten für sämtliche Konzerte, also beispielsweise auch für Grigory Sokolov, Daniel Hope, Sabine Meyer, Maurice Steger, Albrecht Mayer oder Daniel Müller-Schott bei 44€. Ich glaube, in diesem Jahr haben wir leicht anziehen müssen, wir bleiben aber noch immer unter 50€ in der ersten Kategorie! Wo sonst gibt es dies? Wir haben das große Glück, dass die Gezeitenkonzerte von einer immensen Begeisterung der regionalen Sponsoren getragen werden. Der Freundeskreis der Gezeitenkonzerte zählt mittlerweile mehr als 800 Mitglieder. Zudem gibt es öffentliche Fördermittel aus der Landeshauptstadt Hannover wie auch der NDR Kulturförderung.
Ich betrachte es als sehr vorteilhaft, keinen Großsponsor à la Daxkonzern zu haben, und dadurch unter Umständen in irgendwelche Abhängigkeiten oder mitunter auch Turbulenzen zu geraten. Nein, der Erfolg der Gezeitenkonzerte dürfte nicht zuletzt durch die starke Identifikation unserer vielen Förderer mit unserem Projekt zusammen hängen. Die regelmäßigen Dankeschön-Konzerte für den Freundeskreis wie auch die  regionalen Förderer gleichen manchmal wirklich einer quasi familiären Zusammenkunft! Ich habe die Sorge, dass im Musikgeschäft das Bewusstsein dafür, dass Kunst ein notwendiges Kulturgut, eine menschliche Botschaft wie auch einen unvergleichlichen Glücksmoment darstellt, zuweilen verloren geht. Musik ist kein schicker Luxusartikel wie eine Handtasche von Gucci oder ein 8 Zylinder SUV, mit dem man glänzt… Ich wünsche mir viele Festivals und Konzertreihen, wo eben dieses tiefe Musikerlebnis im Fokus steht. Natürlich ist ein Konzert zuweilen auch immer ein gesellschaftliches Ereignis, ein lustvolles Get Together, aber die Kunst darf darüber nie in den Hintergrund geraten.

Was bedeutet ein Festival wie die Gezeitenkonzerte für die Musiker und Künstler? Gibt es da Rückmeldungen?
Die Gezeitenkonzerte sind ein Festival unter Freunden! Über die vergangenen Jahre ist so eine wunderbare Künstlerfamilie gewachsen, die stetig wächst. Sokolov war bislang dreimal zu Gast, Daniel Hope und Christian Tetzlaff kommen fast jährlich, Nils Mönkemeyer, Maurice Steger oder Sharon Kam entfachen immer wieder Standing Ovations…Wir haben ein kleines, aber ganz vorzügliches Team bei den Gezeiten, ich sage immer: „das beste Team nördlich der Alpen!!!“. Alle Künstler (bis auf eine Ausnahme, ich nenne den Namen der Operndiva aber nicht!) fühlen sich wunderbar umsorgt, vom perfekten Bühnenlicht, persönlichen Fahrer zum Flughafen, bis hin zur perfekten Temperatur des ausgewählten Chardonnays. Ich bekomme regelmäßig dankbare Rückmeldungen von den Musikern, wünsche, dass sie gerne nach Ostfriesland kommen, und nach dem Auftritt beseelt Ostfriesland wieder verlassen – bis zum nächsten Mal! Unser Publikum ist unglaublich konzentriert, kundig und enthusiastisch, alle sind froh, vor diesem Publikum zu spielen.

Heute wird ja gerne jedes Event, wo es gleich mehrere Konzerte gibt, als Festival bezeichnet. Muss man da nicht etwas vorsichtig sein?
Für mich ist ein Festival eine relativ kompakte Konzertfolge an einem Ort oder einer Region, in einem klar definierten Zeitraum, gegebenenfalls durch ein gemeinsames Motto verbunden. Der Name Festival klingt in meinen Ohren einfach gut, da das Wort Fest darin enthalten ist. Und Feste feiert man bekanntlich! Es ist also etwas, was sich vom Alltäglichen abhebt und das Leben signifikant bereichert. Zumindest im Idealfall! Und dies können wir, glaube ich zumindest, bei den Gezeitenkonzerten zu Recht behaupten!

Hat sich die Festival-Landschaft nach Corona wesentlich verändert?
Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beantworten. Mit trauriger Gewissheit wird der Kulturbetrieb wohl wie ein gerupfter Vogel aus der Pandemie hervorgehen. Es werden Orchester fusionieren, der eine oder anderer Veranstalter die Konzerte einschränken. Das ist bitter. Aber ich bin überzeugt, dass Qualität und kreative Ideen immer ihren Platz haben werden,  gerade bei Festivals gibt es eine spannende Entwicklung zu beobachten. Was das Publikum angeht, sehe ich zweierlei Tendenzen: einen gigantischen Enthusiasmus und tiefe Dankbarkeit über die wieder stattfindenden Live Konzerte einerseits, andererseits bei den teilweise noch leeren Sitzplätzen auch noch eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung, die aber hoffentlich nur einen vorübergehenden Dornröschenschlaf bedeutet. Das Streaming ersetzt für mich jedenfalls nie und nimmer das unmittelbare, einmalige und unwiederbringliche Konzerterlebnis.

(Infos und Programm: www.gezeitenkonzerte.ostfriesischelandschaft.de)

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