Mahlers Komponierhäuschen in Toblach
Photo: Remy Franck

In Toblach (Südtirol) wurden heute zum 25. Mal die Mahler-Schallplattenpreise vergeben. Unter dem Vorsitz von Attila Csampai setzte sich die Jury aus Lothar Brandt, Remy Franck, Thomas Schulz und Götz Thieme zusammen.

Gekürt wurden in der Kategorie Neuerscheinungen: Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9; Budapest Festival Orchestra, Ivan Fischer; 1 SACD Channel Classics CCS SA 36115; 12/13 (75’55). In der Kategoirie der historischen Aufnahmen ging der Preis an: Gustav Mahler: Symphonie Nr. 5, Kindertotenlieder; Brigitte Fassbaender, NDR Sinfonieorchester, Klaus Tennstedt; 2 CDs Profil PH13058; 1980 (99’44). Einen Sonderpreis gab es für Gustav Mahler: Symphonie Nr. 4 (Arr. für Kammerensemble von Erwin Stein); Christiane Oelze, Festival Ensemble Spannungen; 1 CD CAvi-music 8553334; Live 6/14 (52’31)
Die dazu passenden Rezensionen von pizzicato gibt es unter:
https://www.pizzicato.lu/spannungsvolle-mahler-interpretation/
https://www.pizzicato.lu/hoch-expressiver-mahler/
https://www.pizzicato.lu/wie-sand-im-ohr/

V.l.n.r.:Thomas Schulz. Remy Franck, Lothar Brandt, Attila Csampai (c) Max Verdoes

V.l.n.r.:Thomas Schulz. Remy Franck, Lothar Brandt, Attila Csampai
(c) Max Verdoes

Jury-Begründungen:

Kategorie A (Wiederveröffentlichungen)

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 5 , Kindertotenlieder
Brigitte Fassbaender, Mezzosopran
NDR Sinfonieorchester
Leitung: Klaus Tennstedt

Live-Mitschnitte: Hamburg, 19.Mai 1980 (Sinfonie Nr.5);
Kiel, 11. November 1980 (Kindertotenlieder)

Profil Hänssler DCD PH13058/ Naxos (2CD) Erstveröffentlichung auf CD

Dieser erstmals autorisierte Mitschnitt eines Hamburger Konzerts vom 19. Mai 1980 erinnert in seiner Unbedingtheit, den schroffen Fügungen des nicht Zusammengehörenden an den Schock, den das Werk Gustav Mahlers um die Jahrhundertwende für die Musikwelt bedeutet haben muss. Klaus Tennstedt schönt nichts, und doch fasst er diesen zerklüfteten Weltentwurf mit dem fabelhaft disponierten NDR-Sinfonieorchester unter einen Bogen. Hier agiert Tennstedt auf der Höhe seiner physisch-geistigen Kräfte. Deshalb ist dieser Live-Mitschnitt seinen anderen Aufnahmen der cis-moll-Symphonie vorzuziehen. Ganz im Gegensatz zu Leonard Bernstein, mit dem er oft verglichen wurde, verliert sich Tennstedt nicht so leichtsinnig in den schönen oder expansiven oder exaltierten Stellen, sondern fasst das Werk mit heftigen Akzenten und stürzenden Tonkaskaden in einer radikalen klanglichen Gestalt: Eine düstere Achterbahnfahrt der Wahrnehmungen und Ereignisse. In den „Kindertotenliedern“, die Tennstedt fünf Monate später im Kieler Schloss ähnlich intensiv dirigierte, erlebt man eine grandios sich in Rückerts Verse versenkende Solistin Brigitte Fassbaender. Auch dieses Dokument bestätigt den Rang dieses eminenten Mahler-Dirigenten.

Kategorie B (Neuproduktionen):

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9
Budapest Festival Orchestra
Leitung: Iván Fischer

Aufnahme: Budapest, Dezember 2013

Channel Classics CCS SA 36115/New Arts International
(Hybrid-SACD)

Schon in den ersten Folgen seines modellhaften Budapester Mahler-Zyklus verstand es Iván Fischer, höchste Präzision und Klangkultur in eine ganz besondere Art von tragischer Schönheit einzuhüllen, die Mahlers Botschaften als tief inspirierte Herzensappelle, als hochsensible lyrische Manifeste an die Menschheit erstrahlen liessen, und weniger als wüste sinfonische Dramen. In der jetzt vorgestellten Neunten, einem Werk des schmerzlichen Abschieds, scheint dieses vergeistigt-innerliche Konzept sehr schlüssig aufzugehen. So hat das phantastisch eingestellte und klang-homogene Budapest Festival Orchestra keine Mühe, neben aller schlanken Transparenz und Detailtreue die grosse lyrische Linie und innere Komplexität des zerklüfteten Werks als zwingend logischen, suggestiven Erzählstrang darzustellen, dabei aber die stets farblich gedämpfte, ruhige Abschieds-Stimmung nie ins Pathetische oder Sentimentale abdriften zu lassen. In seinem kurzen Grußwort bezeichnet Fischer die Neunte zugleich als „ergreifend“ und „sehr fortschrittlich“, und genau dieses Spannungsfeld einer durch Mahlers eigene Lebenserfahrung gefilterten visionären Modernität erzeugt er hier mit geradezu idiomatischer „kakanischer“ Sensibiliät: Im Adagio-Schlußsatz verdichtet sich dieser grosse sinfonische „Traum“ zu einem unendlich traurigen, unantastbar schönen, schmerzlich-stillen Appell an die Liebe.

Sonderpreis:

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 4 G-dur (bearbeitet für Kammerensemble
von Erwin Stein)
Christiane Oelze, Sopran,
Festival Ensemble Spannungen

Live-Aufnahme: Heimbach, Wasserkraftwerk, 10. Juni 2014

AVI-Music 8553334/Naxos (CD)

Gustav Mahler bezeichnete seine Vierte als „symphonische Humoreske“ und sprach von „der Heiterkeit einer höheren, und fremden Welt, die für uns etwas Schauerlich-Grauenvolles hat“. Davon ist in heutigen Aufführungen freilich kaum noch was zu spüren, da Mahler längst zu einem „Klassiker“ glattgebügelt wurde. Im Juni 2014 hat ein bunt zusammengewürfeltes Ensemble unter Leitung von Christian Tetzlaff im Rahmen des deutschen Musik-Festivals „Spannungen“ den ursprünglichen Geist des Werks in einem Salonorchester-Arrangement von Erwin Stein glänzend wiederbelebt. Diese 1921 angefertigte Kammerversion für 12 Instrumentalisten sollte die von grossen Orchestern damals verschmähte Musik einem Kreis von Enthusiasten wenigstens in abgespeckter Form zugänglich machen. Kenner der Materie werden in der überaus prägnanten, kakanisch-kecken und lustvollen Live-Aufführung des prominent besetzten Festival-Ensembles einige Überraschungen erleben – vor allem im Bezug auf Mahlers raffinierte Polyphonie, die jetzt wie auf einem Präsentierteller trennscharf heraustritt. So hört man im zweiten Satz hier wirklich einmal „Freund Hein zum Tanz aufspielen“, und auch im rätselhaften Liedfinale hält sich Christiane Oelze genau an Mahlers Vorschrift, einen „kindlich heiteren Ausdruck“ zu wahren. Man spürt hier endlich einmal den subversiven Subtext der doppelbödigen Symphonie.

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