Die Jury: Brandt, Schulz, Thieme, Csampai, Franck
Photo: Nicole Junio

Die Jury des Mahler-Schallplattenpreises (Attila Csampai, Vorsitzender, Lothar Brandt, Remy Franck, Götz Thieme, Thomas Schulz) hat dieses Jahr in Toblach Aufnahmen unter der Leitung von Ivan Fischer, Ricccardo Chailly und Karl Rankl ausgezeichnet. Ein ‘Toblacher Komponierhäuschen’ erhalten:

Kategorie Neuproduktionen:
Symphonie Nr. 5; Budapest Festival Orchestra, Ivan Fischer; Hybrid-SACD Channel Classics CCS 34213

Begründung der Jury: Dass Iván Fischer das Budapest Festival Orchestra in den letzten 25 Jahren zum besten Klangkörper geformt hat, den Ungarn je besaß, steht längst außer Zweifel und ist durch unzählige Kommentare weltweit verbürgt. So staunt man auch bei der 2013 erschienenen Fünften Mahlers über die phänomenale Spielkultur, die Homogenität, die Präzision und Klangschönheit dieses „freien“ Orchesters, das zudem ein angeborenes Gespür hat für die spezifischen „kakanischen“ Tonfälle Mahlers, die gerade in der Fünften sich zu einem sehr persönlichen Credo verdichten. Fischer bleibt auch in diesem zerklüfteten Drama ein Ästhet, ein Lyriker, der drastische Zuspitzungen scheut, und das hier vorgeführte „Ringen mit der Welt“ durch Mahlers inneres Erleben filtert. Die Traumebene des „Adagiettos“ wird gewissermaßen auf das ganze Werk ausgeweitet. Selten klang diese, wie Fischer sagt, „jüdischste“ Symphonie Mahlers, so innerlich, so sanft, so melancholisch und hoffnungsvoll.

Die Toblacher Jury würdigt mit der Preisvergabe auch Fischers mutigen Einsatz für Mahler in einem zunehmend schwierigen politischen Umfeld: In einer aktuellen Umfrage beklagen 90% der in Ungarn lebenden Juden den wachsenden Antisemitismus und Rassismus in der ungarischen Gesellschaft von heute. Da ist es fast schon wieder eine Heldentat, und ein Lebenszeichen des anderen, humanen Ungarn, wenn ein jüdischer Dirigent heute in Budapest die Musik Mahlers aufführt und sogar einen kompletten Zyklus seiner Symphonien in Angriff nimmt.

Wiederveröffentlichungen
Symphonie Nr. 4; Sena Jurinac, Sopran; Wiener Symphoniker, Karl Rankl; Guild / Klassik Center GHCD 2397 (Aufnahme Januar 1954, zusammen mit Dukas: Zauberlehrling)

Begründung der Jury:  Peter Fülöps umfassende Mahler-Diskographie verzeichnet 159 Aufnahmen der Vierten, aber nicht den 1954 in Wien aufgezeichneten Konzert-Mitschnitt Karl Rankls mit den Wiener Symphonikern und der Solistin Sena Jurinac. Diese bislang unbekannte Aufnahme eines vergessenen Dirigenten ist ein echter Fund und das früheste in Wien entstandene Tondokument des Werks. Das am 23. Januar 1954 im besetzten Wien von der Sendergruppe Rot-Weiss-Rot (der Vorläuferin des ORF) in gutem Mono mitgeschnittene Konzert zeigt den 1898 geborenen Schönberg-Schüler Rankl als einen mit Mahlers altösterreichischen Tonfällen bestens vertrauten Dirigenten, der das zunächst etwas verhaltene Orchester sehr sicher und souverän durch das polyphone Geflecht von Mahlers „himmelblauer“ Symphonie hindurchführt und es dann in den Mittelsätzen zu beeindruckender Intensität aufblühen läßt: Selten klang die Vierte so „wienerisch“, so authentisch, so unsentimental und zugleich so innig-schlicht und so stringent in der emotionalen Linie. Im Finale glänzt die junge Sena Jurinac mit glasklarer Artikulation und einer durchaus naiven vokalen Unmittelbarkeit. Rankl, der 1939 vor den Nazis nach London floh und britischer
Staatsbürger wurde, leitete nach dem Krieg fünf Jahre lang die Covent Garden Opera und komponierte u.a. acht Symphonien.

Sonderpreis
Symphonie Nr. 6; Gewandhausorchester, Riccardo Chailly; Accentus Music ACC 10268 (Blu-ray), 20268 (DVD)

Begründung der Jury: Eigentlich ist das „Toblacher Komponierhäuschen“ ein Audio-Preis,der musikalische Interpretationen würdigt. Wenn wir diesmal erneut eine Video-Produktion einer Mahler-Symphonie mit einem Sonderpreis auszeichnen, dann ausschließlich wegen ihrer exzeptionellen musikalischen Qualität, und weil Riccardo Chaillys Leipziger Mahler-Zyklus nicht im Audio-Format vorliegt.

Sieben Jahre nach dem Abschluß seines weltweit hochgelobten ersten Mahler-Zyklus mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest (1989-2004) hat Gewandhaus-Chef Riccardo Chailly 2011 in Leipzig einen neuen Mahler-Zyklus im Video-Format in Angriff genommen und bislang fünf Symphonien (II, IV, V, VI, VIII) auf DVD und Bluray-Disc veröffentlicht. Die im September 2012 aufgezeichnete Sechste ist ein herausragendes Dokument seiner eigenen Entwicklung von einem auf Schönklang und Homogenität ausgerichteten „Ästheten“ hin zu einem leidenschaftlichen Mahler-Kontrapunktiker, der ins- besondere in der düsteren Sechsten auch die Abgründe und ständigen Gefährdungen des Mahlerschen Seelenkosmos rigoros ausleuchtet. Das ungemein präzise, sehnige, trennscharfe Spiel des wunderbar dunkel timbrierten sächsischen Traditionsorchesters bietet eine geradezu ideale Basis für Mahlers tragisch-visionären Realismus in diesem Werk. Einziger Wermutstropfen: die suspekte Reihenfolge der Binnensätze mit dem Andante an zweiter Stelle.

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