KKL Luzern

Wie kaum einem anderen internationalen Festival gelingt es dem immer noch innovativen ‘Lucerne Festival’ die besten Orchester und natürlich auch die besten Solisten, zeitgenössischen Komponisten und ‘Rising Stars’ während fünf Wochen zu einem musikalischen Event der Extraklasse zu versammeln. Unser Mitarbeiter Alain Steffen hat einige Konzerte besucht.

Seit Jahren ist das ‘Concertgebouw Orchestra’ regelmäßiger Gast am Vierwaldstätter See. Daniele Gatti, der Chefdirigent des Amsterdamer Eliteorchesters und rezentestes ‘Opfer’ der z.T. sicher diskutablen ‘MeToo’-Bewegung, wurde in den beiden vorgesehenen Konzerten durch Manfred Honeck und Bernard Haitink ersetzt.

Honeck, ICMA-‘Artist of the Year’, hatte das Programm Eins zu Eins übernommen. Richard Wagners Vorspiel zum 3. Akt der Meistersinger ist ein eher resignatives, nach innen gewandtes Stück, bei dem die ganze Komponierkunst Wagners zum Vorschein tritt. Honeck dirigierte das Vorspiel aus der Tradition heraus, also mit breiten Tempi, schwebenden Geigen und sattem Blech.

Es folgten die selten aufgeführten, aber wunderbar komponierten ‘Altenberg-Lieder’ von Alban Berg, die dieser 1911 am Ende einer Lehrzeit bei Arnold Schönberg komponiert hatte. Die Uraufführung 1913 im Musikverein in Wien wurde zu einem Skandal, so dass es bis Anfang der Fünfzigerjahre dauerte, bis dieser Zyklus wieder aufgeführt wurde.

Der gebürtige Österreicher Manfred Honeck dirigierte diese Lieder sehr wienerisch und aus der Tradition eines Mahler heraus. Dieser wunderbare Klangteppich, den Honeck mit dem ‘Concertgebouw’ zauberte, kam der jungen Solistin Anett Fritsch sehr entgegen, die mit angenehmen Timbre und einer vollen, schönen Sopranstimme genau den Ton dieser ‘Fünf Orchesterlieder’ traf.

Nach der Pause entfesselte Manfred Honeck dann in Anton Bruckners 3. Symphonie die ganze Klangpracht des ‘Concertgebouw Orchesters’. Für dieses Konzert hatte man sich für die finale 3. Fassung entschieden, bei der es keine Wagner-Zitate mehr gibt. Auch hier entwickelte Honeck die Musik aus der Tradition heraus. Das heißt, flüssige Melodien und ein satter Orchesterklang statt harter Akzente und einer filigranen Klanganalyse. Höhepunkt dieser Symphonie war für mich der von vielen Dirigenten oft beiläufig interpretierte 3. Satz, dessen tänzerische Scherzo-Elemente wohl kaum besser dirigiert werden können wie von Manfred Honeck. Aber auch die übrigen drei Sätze wussten in der sehr musikantischen Interpretation hundertprozentig zu überzeugen.

Den legendären Bernard Haitink, der 1956, also vor 62 Jahren beim ‘Concertgebouw Orchester’ debütiert hatte, noch einmal am Kopf seines ehemaligen Orchesters (Haitink war von 1961 bis 1988 Chefdirigent) erleben zu können, und das auch noch mit Gustav Mahlers 9. Symphonie, das war für die meisten kundigen Musikfreunde wohl ein einmaliges Erlebnis. Und es wurde mehr als nur einmalig. Es wurde ein regelrecht erschütterndes Konzert, mit einer kaum zu beschreibenden musikalischen Intensität und humanistischen Aussagekraft.

Bernard Haitink
(c) Patrick Huerlimann/ LucerneFestival

Der neunundachtzigjährige Haitink verzichtete aber dabei auf jede Form von Larmoyanz. Den 1. Satz gestaltete er wie einen Monolith, hart in den Akzenten, mit scharfen Kanten, bedrohlich, düster. Beim 2. Satz setzt Haitink das derbe Element in den Vordergrund: Es war ein Totentanz, bis ins Groteske hin verzerrt. Eine weitere Steigerung des Unaufhaltsamen erlebten wir dann im Rondo-Burleske, das bis in die Extreme ausgeleuchtet wurde und selbst in seinen ruhigen Momenten kaum Entspannung fand. Es folgte ein entrückter Finalsatz, der Raum und Musik am Ende quasi aufzulösen schien. Es war eine einmalige Aufführung von Gustav Mahlers 9. Symphonie und am Ende feierte das Publikum den großen Mahler-Interpreten und Dirigenten Bernard Haitink mit stehenden Ovationen.

Von Abschiedsstimmung und Todesahnung ist in Peter Tchaikovskys letztem Klavierwerk nur wenig zu spüren. Die Klavierstücke op. 72 komponierte er knapp ein halbes Jahr vor seinem Tod und parallel zur ‘Pathétique’, die diesem Todescharakter viel mehr entspricht. Die Klavierstücke sind sehr vielseitig und wunderbar auskomponierte Miniaturen von oft atemberaubender Virtuosität. In seinen Debut-Konzert beim ‘Lucerne Festival’ spielte Dmitry Masleev (Jahrgang 1988), der 1. Preisträger und Sonderpreisträger des Tchaikovsky-Wettbewerbs 2015 in Moskau, eine Auswahl dieser 18 Charakterstücke und begeisterte auf Anhieb durch seine absolut kunstvolle Virtuosität, sein phänomenales technisches Können und seine Fähigkeit, den intimeren Stücken jede Art von Süßlichkeit zu nehmen.

Es folgte eine ebenfalls atemberaubend gespielte 2. Klaviersonate von Serge Prokofiev, die in Masleevs Interpretation eine wunderbare und harmonische Synthese zwischen progressiven Klängen und traditioneller russischer Musik wurde. Es waren vor allem die exakte Balance der Stimmungen und diese wohlbedachte Virtuosität, die mit einer quasi HD-Qualität ausgezeichnet war, die Masleevs Prokofiev prägten. Nach 45 Minuten absoluter pianistischer Kunstfertigkeit folgte zum Abschluss die mitreißende ‘Rhapsodie espagnole’ von Franz Liszt, die ich selten so klar ausdifferenziert und spielfreudig gehört habe, wie in diesem Konzert. Nach Daniil Trifonov ist Dmitry Masleev ein weiterer vielversprechender Pianist, die die russische Tradition und Klavierkunst auf wirklich allerhöchsten pianistischem Niveau weiterleben lässt.

Auf das ‘Concertgebouw Orchestra’ folgten die Wiener Philharmoniker. Das C-Dur-Konzert von Josef Haydn erklang in einer zwar klangschönen, aber spannungsarmen und sehr routinierten Interpretation von Sol Gabetta. Enttäuschend auch hier die Wiener unter Franz Welser-Möst, die über ein gediegenes Spiel nicht herauskamen. Weitaus besser ausgearbeitet und wohl intensiver geprobt hatte Welser-Möst für Bruckners 5. Symphonie, die man an diesem Abend in einer mustergültigen Aufführung erleben konnte, allerdings unter der Bedingung, dass man glasklare Strukturen und einen eher intellektueller Ansatz bei Bruckner mag. Hier dirigiert Franz Welser-Möst ganz deutlich in der Linie eines Claudio Abbado oder Bernard Haitink, die sich selbst als Interpreten immer hinter und niemals vor das Werk stellten. Die Wiener Philharmoniker spielten Bruckner mit einem ganz anderen Klanggefühl als zwei Tage vorher das ‘Concertgebouw’ unter Manfred Honeck, aber beide Lesearten waren von der musikalischen Qualität an sich gleichwertig.

Das zweite Wiener-Konzert wurde mit der Überreichung des ‘Crédit Suisse Young Artist Awards’ an den Cellisten Kian Soltani eröffnet, der dann auch durch seine wundervolle Interpretation und seine grandiose Technik das Publikum in Antonin Dvoraks Cello-Konzert begeisterte. Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker begleiteten Soltani auch weitaus inspirierter als am Vortag Sol Gabetta. Nach der Pause erklang dann die 2. Symphonie von Johannes Brahms in einer ebenso klangschönen wie dynamischen Aufführung, die das ganze Können des Wiener Orchesters bestens zu Geltung brachte. Welser-Möst dirigierte, wie erwartet, ohne allzu große aufgesetzte Emotionen und plakative Effekte, sondern mit einem sehr guten Gefühl für Balance, Atmosphäre und Innenspannung.

Wenn all diese Konzerte auch recht wenig mit dem eigentlichen Festival-Thema, nämlich ‘Kindheit’ zu tun hatten (natürlich finden die Dramaturgen solcher Festivals immer irgendeinen Zusammenhang), so stand zumindest unser letztes Konzert im Rahmen dieses Themas. Kinder- resp. Jugendwerke von Mozart wie Kassation G-Dur KV 63 und die frühe Symphonie Es-Dur KV 16, Serge Prokofievs ‘Symphonie classique’, der B-Dur Marsch op. 99 (in der Bearbeitung von Otfried Büsing) sowie das sinfonische Märchen für Kinder ‘Peter und der Wolf’ bildeten das Programm dieses abwechslungsreichen Matinee-Konzerts, zu dem auch sehr viele Kinder erschienen waren. Die erst dreizehnjährige Jungschauspielerin Anuk Steffen (die die Titelrolle im Film ‘Heidi’ von Alain Gsponer an der Seite von Bruno Ganz spielte) erzählte das Märchen in Schwyzerdütsch, das leider für ausländische Gäste nicht immer zu verstehen war. Musikalisch war das Konzert ein kleines Ereignis!

Der vielseitige Wolfram Christ, langjähriger Bratschist bei den Berliner Philharmonikern, Gründungsmitglied des ‘Lucerne Festival Orchestra’, Solist, Kammermusiker, Pädagoge und Dirigent, leitete das bestens disponierte ‘English Chamber Orchestra’. Christs sehr dynamisches  Dirigat kam all diesen spritzigen Werke zur Gute, aber auch die langsamen Sätze wurden mit Eleganz und Ausgewogenheit interpretiert. Vor allem aber war es Wolfram Christs Kunst, die Musiker auf höchstem Niveau durch dieses Konzert zu führen, das demnach weit mehr war als ein sogenanntes Kinderkonzert.

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