Riccardo Chailly
Photo: ICMA

Pizzicato-Mitarbeiter Alain Steffen hat die ersten Tage des Lucerne Festival erlebt, mit einer streckenweise enttäuschenden Achten Mahler unter Chailly, langsam ausgekosteten Mozart-Symphonien mit Barenboim und einer etwas langwierigen Neuwirth-Komposition…

Das ‘Lucerne Festival Orchestra’ hat bekanntlich einen neuen Chefdirigenten. Nach dem Tode von Claudio Abbado im Januar 2014 und einer Interimsperiode mit den Dirigenten Andris Nelsons und Bernard Haitink, die sich die Konzerte des LFO aufteilten, hat nun Riccardo Chailly offiziell seinen Einstand gegeben.

Am 12. und 13. August eröffnete er das diesjährige ‘Lucerne Festival’ mit der 8. Symphonie von Gustav Mahler und führte damit den von Abbado begonnenen Luzerner Mahler-Zyklus weiter. Die Preise für diese beiden heißbegehrten Konzerte ließen sich dann auch sehen. Für die guten Plätze musste man schon zwischen 270 und 350 Schweizer Franken hinblättern. Aber das ist nun einmal ‘Festival’. Sicher diskutabel, aber leider auch eine Tatsache. Und das nicht nur in Luzern.

Kommen wir zur Aufführung selbst. Mit Riccardo Chailly hat man einen Dirigenten gefunden, der ein Orchestererzieher ist, seriös, arbeitswillig und in vielen musikalischen Domänen zu Hause. Chailly ist zudem einer der renommiertesten und werkkundigsten Mahler-Interpreten der Gegenwart. Und dennoch hatte diese Luzerner Achte eher den Charakter einer Generalprobe. Chailly fungierte die meiste Zeit als Koordinator der Klangmassen, die aber erstaunlich kompakt und undifferenziert blieben und nur ganz selten die Musik atmen ließen.

Von der berühmten Akustik des Luzerner Saales mit ihrer Durchhörbarkeit war vor allem im ersten Teil ‘Veni, creator spiritus’ nicht viel zu hören. Da hatten vor Jahren an gleicher Stelle  Franz Welser Möst und Michael Tilson Thomas weitaus bessere Arbeit geleistet. Auch hatte man den Eindruck, dass das LFO nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit musizierte wie unter Abbado (oder Nelsons und Haitink). Vieles wirkte verhuscht, ja sogar unpräzise, und oft wollte der Klang einfach nicht zusammenkommen. Chailly war so mit der Kontrolle beschäftigt, dass das Emotionale zum Teil in den Hintergrund geriet. Nur in den langsamen, leisen und kammermusikalischen Passagen taten sich wunderbare Klangwelten auf. Da begann die Musik auf einmal zu atmen, zu schweben und dem Publikum das zu zeigen, was diese Achte doch ausmacht.

Grandios auch die mit dem Chorus mysticus ‘Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis’ langsam beginnende Steigerung, die sich am Schluss zu einem überirdischen Credo an den Menschen und das Universum entwickelte. Aus dem heterogenen und somit nur soliden Solistenensemble stachen vor allem Mihoko Fujimura und der Tenor Andreas Schager mit engagiertem und stilscheren Gesang heraus. Christine Goerke, Anna Lucia Richter und Sarah Mingardo blieben eher blass, während bei der Sopranistin Riccarda Merbeth einige Schärfen störten. Der sonst hervorragende Peter Mattei wirkte indisponiert und Samuel Youn blieb zu opernhaft. Der Chor des Bayerischen Rundfunks, der Lettische Radio-Chor, ‘Orféon Donostiarra’ und der Tölzer Knabenchor bildeten einen Chor mit 350 Mitgliedern und machten diese Achte dann doch noch zu einem Ereignis. Wir sind aber sicher, Riccardo Chailly und das LFO werden zusammenwachsen und das Erbe Abbados auf gleichem Niveau, aber sicherlich mit einem anderen Klang und neuen Impulsen weiterführen.

Am 25. August 1966 debütierte Daniel Barenboim als Pianist und Dirigent des ‘English Chamber Orchestra’ mit Werken von Mozart, Bartok und Beethoven bei den damaligen ‘Internationalen Musikfestwochen Luzern’. Bis heute hat er hier 62 Konzerte gespielt und dirigiert. Im Jubiläumsjahr 2016 tritt Barenboim gleich dreimal auf, zweimal mit dem ‘West-Eastern Divan Orchestra’ (WED) und einmal mit der Staatskapelle Berlin. In dem von uns besuchten Konzert dirigierte Barenboim das WED in den drei letzten Symphonien von Wolfgang Amadeus Mozart. Gerade diese drei Symphonien an einem Abend hintereinander im Konzert erleben zu dürfen, ist ein Glücksfall und eine einmalige Erfahrung. Wer Barenboims frischen und lebendigen Zugang der späten Sechzigerjahre in den Aufnahmen von Mozarts Musik kennt, der wurde in Luzern mit einem ganz anderen Interpretationsansatz konfrontiert. Barenboims Mozart ist hörbar gereift, von der sorglosen Lebendigkeit der frühen Jahre ist kaum noch etwas übrig geblieben; stattdessen überraschte der mittlerweile sechsundsiebzigjährige Dirigent mit eher langsamen Tempi. Barenboim nahm sich Zeit und spürte dabei jeder Melodie nach, arbeitete konsequent alle Nebenstimmen sehr klar heraus. Dynamische Prägnanz wich einem ruhigen, bedächtigen Atem, das musikalische Feuer einem wohl ausgearbeiteten philosophischen Konzept.

Barenboim & West Eastern Divan Orchestra (c) Patrick Huerlimann LF

Barenboim & West Eastern Divan Orchestra
(c) Patrick Huerlimann LF

Kein Zweifel, Barenboims Mozart steht über allen Modeerscheinungen und will von einer historischen Aufführungspraxis erst recht nichts wissen. Vielmehr erinnern Barenboims Interpretationen an die späten Aufnahmen eines Furtwängler, Böhm oder Walter und sind die Ergebnisse einer lebenslangen Beschäftigung mit der Musik und insbesondere mit der Musik Mozarts.

Am extremsten erschien gerade die spritzige Symphonie Nr. 39, deren humorvoller Schlusssatz ein unwahrscheinlich quirliges Perpetuum mobile ist. Hier verweigerte Barenboim quasi den Unterhaltungscharakter und ließ die Symphonie aus einer düsteren Keimzelle heraus entstehen, als würde er den Es-Dur-Charakter dieser Symphonie hinterfragen wollen. Die Symphonie Nr. 40 ließ er in der zweiten Fassung mit Klarinetten erklingen. Auch hier herrschten dunklere Farben vor genau wie auch bei abschließenden Jupiter-Symphonie. Die jungen Musiker des ‘West-Eastern Divan Orchestra’ boten ein erstklassiges Orchesterspiel, das einerseits von dem samtigen Klang der Streicher und den hervorragenden Holzbläsern lebt. So wie Harnoncourt mit seiner historisch angehauchten Interpretation seinen Mozart zum Olymp führte, so erreicht auch Barenboim mit einem komplett anderen Interpretationskonzept eine ähnliche Intensität, die weit über allem Deskriptiven und jenseits aller Worte liegt.

Einige Stunden zuvor konnte man die Schweizer Erstaufführung von Olga Neuwirths ‘Le Encantadas o le aventure nel mare delle meraviglie’ (2014/2015) im Rahmen der Konzertserie ‘Moderne’. Um 11.00 Uhr war der Luzerner Saal des KKL bis auf den letzten Platz gefüllt und wer geglaubt hat, dass zeitgenössische Musik ausschließlich etwas für das jüngere Publikum ist, der hat sich gründlich getäuscht. Gut zwei Drittel der Zuhörer gehörten dem älteren Semester an, was somit zeigt, dass das Konzept des Intendanten Michael Haefliger und seines Dramaturgen Mark Sattler aufgeht. Indem sich das ‘Lucerne Festival’ innerhalb der letzten 13 Jahre ebenfalls zu einer Hochburg der Moderne entwickelt hat, kann man heute sehen, dass die Berührungsängste im Laufe der Zeit beim Publikum abgenommen haben und sich hier sogar ein reges Interesse für die zeitgenössische Musik entwickelt hat.

Neuwirths Werk für sechs im Raum verteilte Ensemblegruppen, Samples und Live-Elektronik ist eine wirkliche Herausforderung für den Zuhörer. Mit seiner Dauer von 80 Minuten fordert es ein enorm konzentriertes Zuhören, bietet allerdings recht wenig Abwechslung. Die von Herman Melville inspirierte Reise durch imaginäre Klangräume (Stefan Drees) dreht sich oft im Kreis, die Klanginseln, die Neuwirth mit ihrer Musik beschwört, ähneln einander doch sehr, so dass das Ohr des Rezensenten dann relativ schnell ermüdete und er sich nach 25 Minuten wünschte, die Reise zu den Inseln von ‘ Le Encantadas’ würde doch schnell zu einem Ende kommen. So phantastisch Olga Neuwirth auch hier neue Wege sucht und findet, so stärker drängt sich die Frage nach dem Sinn einer solchen Komposition auf. Eine Frage, die ich mir oft bei zeitgenössischer Musik stelle, ist folgende: Hat das Werk genug Persönlichkeit, den Hörer zu faszinieren, so dass er Lust bekommt, sich das Stück noch einmal oder sogar mehrere Male anzuhören? Es gibt viele moderne Werke, die ich liebe und die ich mir immer wieder gerne anhöre. ‘Le Ecantadas’ beantwortet meine Frage nicht im positiven Sinne. Viel Lob verdienen die Musiker des ‘Ensemble InterContemporain’, die unter der Leitung von Matthias Pintscher spielten.

 

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