Leopold Hager, der im Oktober 2015 seinen 80. Geburtstag feierte, stammt aus Salzburg und studierte in seiner Heimatstadt am Mozarteum Dirigieren, Orgel, Klavier, Cembalo und Komposition. Nach ersten Engagements in Mainz, Linz und Köln war er Generalmusikdirektor in Freiburg/Breisgau, dann Chefdirigent des Mozarteum Orchesters Salzburg und anschließend bis 1996 auch des RTL-Symphonieorchesters Luxemburg. Von 2005 bis 2008 wirkte er als Chefdirigent an der Wiener Volksoper. Pizzicato-Mitarbeiter Alain Steffen hat sich mit ihm unterhalten.

Leopold Hager
(c) Casa da Musica / Joao Messias

Maestro, Ihre Karriere kam Mitte der Siebzigerjahre so richtig in Schwung. Wie würden Sie die Jahre vorher in Mainz, Linz und Freiburg zusammenfassen?
Ich habe die Karriere gemacht, die man damals machte und eigentlich auch heute noch machen sollte. Man geht als junger, werdender Dirigent an ein Theater und lernt die Stücke vom Klavier aus kennen, also als Korrepetitor. Dadurch arbeitet man direkt mit den Sängern und lernt das Handwerk des Dirigierens von der Pike auf. Wenn man dann Glück hat, kommt man zu einem Nachdirigat. Wenn der leitende Dirigent zufrieden mit einem ist, überlässt er einem die beiden letzten Aufführungen einer Serie. Danach kommt man dann zu einer eigenen Einstudierung. Bei mir waren das am Anfang leichtere Stücke oder Operetten. Und dann erst kam eine große Produktion. In meinem Falle war das in Mainz ‘Arabella’ von Richard Strauss mit immerhin Lisa della Casa und Anneliese Rothenberger in den Hauptrollen. Dann ging ich nach Linz, wo ich 1. Kapellmeister wurde und demnach für alles verantwortlich war. Hier kam ich zum ersten Mal in richtigen Kontakt mit dem italienischen Fach, das ich dann auch sehr viel dirigiert habe, weil ich Nachfolger von Giuseppe Patané wurde, der nach Berlin wechselte. Diese zwei Jahre in Linz waren aber auch noch von einem anderen Standpunkt aus gesehen sehr wichtig für mich. Als ausgebildeter Organist konnte ich nämlich auf der Bruckner-Orgel der Stiftsbasilika von St. Florian nahe Linz spielen und habe so die Musik Bruckners für mich entdeckt.

Leopold Hager (c) Casa da Musica / Joao Messias

Leopold Hager
(c) Casa da Musica / Joao Messias

Dann kam Istvan Kertesz, der mich zwei Jahre mit nach Köln an die dortige Oper nahm, wo ich auch eigene Einstudierungen, also Premieren vorbereiten konnte. Danach hatte ich dann genug Rüstzeug, um meinen ersten Posten als Generalmusikdirektor in Freiburg anzutreten. Ich hätte damals auch nach Bremen gehen können, aber in Freiburg hatte ich die Möglichkeit, ein eigenes Sänger-Ensemble aufzubauen. 1969 kam dann der Ruf nach Salzburg, dem ich dann auch nachgekommen bin, was im Nachhinein vielleicht ein Fehler war.

Wieso ein Fehler?
Wissen Sie, wenn man dann in die eigene Stadt zurückkommt, sind die Erwartungen ganz andere, als man sie sich selber vielleicht wünscht. Und in Salzburg waren damals Karajan und Böhm, zwei Giganten der internationalen Musikszene tätig. Ich hatte freilich das Glück, auf Initiative von Bernhard Paumgartner, der eine Mozart-Woche machen wollte, die frühen Opern Mozarts einstudieren und aufführen zu können. Aber das Mozarteum Orchester, für das ich ja zuständig war, war in zwei Konzertserien eingebunden und hatte damals keine eigene Konzertserie, so dass auch hier anfangs nur wenig aktive Arbeit geleistet werden konnte. Bis es dann zu diesem Mozart-Projekt kam.

Was ja dann auch der Beginn Ihrer internationalen Karriere war…
Ja, ich denke, es hat viel dazu beigetragen, dass wir einfach Werke auf das Programm setzten, die damals gänzlich unbekannt waren und wie mit Sängern wie Edith Mathis, Arleen Auger, Agnes Baltsa, Lucia Popp, Edita Gruberova, Peter Schreier und Werner Hollweg die erste Garde der Mozartinterpreten zur Verfügung hatten. Mit unbekannten Sängern hätte dieses Projekt sicherlich auch in Salzburg nicht gegriffen. Denn Sie müssen wissen, dass damals auch von den Konzertarien, von den Symphonien, Serenaden und von den Klavierkonzerten nur einige wenige regelmäßig gespielt wurden. Für die anderen interessierte sich kein Mensch. Und erst mit dieser Initiative mit den frühen Mozart-Opern begann man sich nach und nach für die Jugendwerke oder die anderen vernachlässigten Stücke zu interessieren. Und plötzlich, wie das ebenso in der Musikwelt üblich ist, wurde ich als Mozart-Spezialist gehandelt. Aber ich muss sagen, obwohl ich die Musik Mozarts über alles liebe, bin ich in meiner Arbeit immer sehr vielseitig geblieben.

Als Sie Ihre Arbeit in Salzburg aufnahmen, wurde die dortige musikalische Szene hauptsächlich von Herbert von Karajan und Karl Böhm beherrscht. War es damals für Sie schwierig, sich gerade dort im Schatten dieser beiden Giganten als Dirigent zu etablieren?
Da muss man unterscheiden. Natürlich waren Karajan und Böhm die Stars und unangefochtenen Spezialisten in Salzburg und sie ließen sich ihren Rang auch nicht streitig machen. Insbesondere Karajan passte sehr gut auf, dass ihm niemand in die Quere kam. So beobachtete er auch unsere Arbeit mit dem Mozarteum und eben, weil wir mit unseren Programmen keine Gefahr für ihn darstellten, duldete er unsere Mozart-Initiativen. Die großen Produktionen liefen sowieso über ihn und Böhm. Auch für Böhm waren wir keine Konkurrenten, weil er an diesen Frühwerken und auch an den frühen Symphonien überhaupt nicht interessiert war. So hatte jeder seinen Bereich, in dem er arbeiten konnte. Und Paumgartner nutzte das damals aus und konzentrierte sich genau auf die Werke Mozarts, die Karajan und Böhm sowieso nicht machen wollten.

Sie bekennen sich offen dazu, kein Freund der historischen Aufführungspraxis zu sein.
Richtig! Es stört mich, dass das als die Hauptentwicklung in der Musik gepriesen und sowohl von den Journalisten wie von den Plattenfirmen mitgemacht wird. Was besonders schlimm ist, dass traditionelle Interpretationen geradezu verdammt werden. Von der Tradition wollen diese Leute nichts mehr wissen. Was mich auch stört, ist der Klang. Ich besitze ein ganz anderes Klangempfinden. Ich kann gewisse Geigenpassagen ohne Vibrato und scharf gespielt einfach nicht hören. Das klingt in meinen Ohren entsetzlich. Aber das ist nur ein Teil der Sache und meine persönliche Meinung. Wirklich schlimm ist, dass die historische Aufführungspraxis als das einzig Wahre angesehen und verkauft wird. Wenn sich die sogenannten Spezialisten herablassen und ihre Interpretationsweise als eine unter vielen anbieten würden, wäre das ja ok. Aber sie sind sich selber nicht konsequent in ihren Ansichten. Anstatt wirklich nur auf dieser historischen Schiene zu musizieren, fangen sie an, alte mit neuen Instrumenten zu vermischen. Oder in der Oper: Auf der einen Seite haben Sie ein Barockensemble, das auf historischen Instrumenten spielt und eine gewisse Authentizität für sich beansprucht, auf der anderen Seite gibt es dann auf der Bühne eine sehr moderne Inszenierung. Entschuldigen Sie, aber wenn plötzlich die Stile so weit auseinanderdriften, dann kann man doch nicht mehr ernsthaft von einer historischen Aufführungspraxis sprechen. Dann geht es um etwas ganz Anderes, und die Musik wird zur Selbstdarstellung von gewissen Personen benutzt, die sich interessant machen wollen. Und das hat auch gar nichts mehr mit der Pionierarbeit eines Harnoncourt, eines Gardiner oder Pinnock zu tun, die alle niemals die historische Aufführungspraxis als einzige Wahrheit für sich beansprucht haben und die ich sehr hoch schätze. Leider ist die historische Aufführungspraxis auch zu einem Spielfeld für mittelmäßige Musiker geworden, die im normalen Musikbetrieb als Dirigenten oder Orchestermusiker nicht Fuß fassen konnten. Was das Ganze noch verschlimmert.

Eine andere Etappe in Ihrem Leben waren die 15 Jahre an der Spitze des damaligen Symphonieorchesters von RTL. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit in den Achtziger- und Neunzigerjahren?
Ich bin damals nach Luxemburg gekommen, um für mich persönlich etwas Anderes auszuprobieren. Ich hatte vorher so viel Mozart dirigiert, dass er fast zu Routine wurde. Und ich merkte, dass ich eine gesunde Distanz zu seiner Musik brauchte. Zudem war in damals sehr am Impressionismus interessiert, den dieses Orchester durch Louis de Froment hervorragend beherrschte. So war es mein Wunsch, von den Musikern etwas über ihre Art, impressionistische Musik zu spielen, zu lernen und sie dann mit den Werken der Wiener Klassik, zu denen das Orchester damals kein richtiges Verhältnis hatte, vertraut zu machen. Luxemburg besaß ja damals nur einen ‘kleinen Verschnitt’ von einem Konzertleben. Es gab keinen richtigen Konzertsaal. Wir probten in der Villa Louvigny und spielten im ‘Grand Théâtre’, dessen Akustik alles andere als ideal war. Es gab kaum andere Ensembles für klassische Musik, es gab nur wenige Gastkonzerte von renommierten Symphonieorchestern, und das RTL-Orchester musste quasi die ganze Last auf seinen Schultern tragen. Auch im Publikum gab es keine richtige Tradition, wie man sie aus den großen europäischen Städten her kannte. Die Leute waren mit wenig zufrieden, weil sie keine Vergleichsmöglichkeiten hatten. Allerdings war es auch manchmal sehr schwierig, sie für neue Sachen wie die Musik der Zweiten Wiener Schule zu begeistern. Aber solche Zurückhaltung seitens des Publikums ist durchaus normal. Noch heute, wenn ich in Italien oder Spanien Bruckner dirigiere, bleiben die Leute weg. Warum? Weil sie nie die Möglichkeit hatten, eine wirkliche Beziehung zu Bruckners Musik aufzubauen. Interesse wird von der Tradition geprägt.

Ein Kollege sagte einmal: « Um Bruckner und Mahler spielen zu können, muss ein Orchester zuerst einmal seinen Mozart beherrschen.“
Das stimmt, weil Mozart die beste Schule für ein Orchester ist, auch auf spieltechnischem Plan. Die Technik, die Leichtigkeit, die Bewältigung von Schwierigkeiten, all dies spielerisch und ohne Härte zu lösen, das lernt man bei Mozart. Aber ich würde sagen, dass Haydn in einer gewissen Weise noch wichtiger für eine Orchesterkultur ist. Beide führen uns zu den zwei großen Strömungen der Musikentwicklung: Der Südstrom geht über Mozart und Schubert zu Bruckner und dann zu Mahler. Der Nordstrom geht über Mendelssohn, Schumann und Weber hin zu Wagner und Strauss. Die Mentalität von Schubert und Bruckner ist ähnlich. Sie ist also sehr österreichisch, demnach weich und naturempfunden. Das ganze Umfeld war sehr entscheidend und alle äußeren Einflüsse fließen in der Musik zusammen. Sei es die Orgel und die Kathedrale bei Bruckner, sei es das Bildhafte bei Schubert. Und dann die volkstümlichen Elemente, bei Bruckner beispielsweise der Ländler, kommen dann noch hinzu. Mahlers Musik ist ein Resultat aller Stilrichtungen. Mahler ist ein Einsammler, bei ihm finden sich sogar Einflüsse der tschechischen Musik. Aber er kopiert nie, sondern benutzt all diese ihm zur Verfügung stehenden Elemente zu einer ganz eigenen Tonsprache und Ausdruckspalette. Mahler war Kosmopolit, genauso wie in gewissem Sinne Mozart und Haydn, seine Musik ist international, im Gegensatz zu jener von Bruckner und Schubert. Für uns Interpreten ist es sehr, sehr wichtig, die Mentalität, die Atmosphäre und die Hintergründe zu kennen. Als ich vor vielen Jahren zum ersten Male ‘Boris Godunov’ dirigierte, habe ich Dostojewski und Tolstoi gelesen, um mir diese Zeit und ihre Menschen zu gegenwärtigen.

Sie sind über 50 Jahre auf internationalen Bühnen aktiv. Wie sehen Sie rückblickend die Entwicklung und die Zukunft der klassischen Musik?
Das Publikum hat damals viel mehr gewusst und schien auch interessierter, was die Musik selbst betrifft. Der Wert der klassischen Musik hat sich ab dem Moment verändert, wo andere Einflüsse in der Gesellschaft stärker geworden sind. Das beginnt schon in der Schule; die Erziehung in allen Kunstbereichen, Musik, Poesie, Literatur, musste anderen Bereichen weichen. Und wenn diese Räume kleiner werden, wie das in den letzten drei Jahrzehnten konsequent der Fall gewesen ist, kann die Substanz auch nicht mehr korrekt oder nur unzufriedenstellend vermittelt werden. Musik will ich zuerst erleben, ich will nicht zugedröhnt werden mit irgendwelchem theoretischen Material. Der theoretische Teil ist natürlich sehr wichtig, soll aber erst später dazu kommen. Ein Kind will Spaß mit der Musik haben und nicht schon am Anfang mit Theorie überfrachtet werden. Und für diese erlebnisbezogene Art und Weise, Musik zu machen, ist leider kein Platz mehr vorhanden. Und wenn man dann als Erwachsener ins Konzert kommt, hat man oft sehr große Schwierigkeiten, das Gehörte richtig einzuschätzen, weil beispielsweise der gesamte Hintergrund einer interpretatorischen Entwicklung fehlt. Zudem wird der Event-Charakter von Konzerten zu sehr in den Vordergrund gestellt. Musik als gesellschaftliches Ereignis, das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Aber nicht nur dem Publikum fehlt das Wissen, auch den Musikern selbst. Sie sind heute zwar technisch bestens ausgebildet, besser als je zuvor, ihr Wissen über die Musik, ihren Hintergrund und dem damit verbundenen Empfinden für eine Atmosphäre weisen aber sehr große Lücken auf. Auf der anderen Seite kommt man als Dirigent mit spieltechnisch bestens ausgebildeten Orchestermusikern viel schneller zu einem guten Resultat. Wenn ich unsere Gesellschaft betrachte, so bin ich, was die Entwicklung der klassischen Musik betrifft, eher pessimistisch eingestellt. Leider wird das Bild auch von vielen musikalisch Tätigen verfälscht oder verwässert. Das beste Beispiel ist wohl die Oper, wo jeder szenische Unsinn, Hauptsache, er ist modern und zeitbezogen, auf die Bühne gebracht wird. So wurde letztens in Salzburg das Gefängnis im ‘Fidelio’ zu einem Salon mit Kronleuchter. Die Stücke werden heutzutage so verfremdet, dass man gar nicht mehr weiß, welche Aussagekraft sie ursprünglich doch hatten. Und das ist schade.

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