Eine Geigerin, die sich mehr als Rumänin denn als Deutsche fühlt, obwohl sie in Gelsenkirchen geboren wurde. Ein Album, das aus einem spontanen Galopp durch die Karpaten entstand. Etüden-Capricen eines nie kennengelernten Großvaters, die wie persönliche Briefe klingen. Lelie Cristea hat mit Carpathian Tales weit mehr geschaffen als eine Musikeinspielung – sie hat eine vergessene Welt wiederentdeckt und dabei ihre eigene kulturelle Identität erforscht.
Gemeinsam mit ihrem Partner Karlo führt die 34-jährige Künstlerin vor, wie man heute abseits der etablierten Wege authentische Projekte realisiert: mit Herzblut, Kreativität und einem rumänischen Catering im Tonstudio.
Frau Cristea, Sie sagen: « Ich fühle mich oft mehr als Rumänin denn als Deutsche. » Wie kommt jemand, der in Gelsenkirchen geboren wurde, zu so einem Bekenntnis?
Das liegt an der Intensität meiner Rumänien-Erfahrungen. Seit ich sechs bin, habe ich dort jede Ferien verbracht – sechs Wochen jeden Sommer, dann wieder Herbst und Ostern. Das Land hat mich geprägt wie nichts anderes. Diese herzlichen Menschen, das wunderbare Essen, die Landschaft – das war meine zweite Heimat. Aber hier in Deutschland war die Resonanz seltsam. Wenn ich aus Rumänien zurückkam und davon schwärmte, fragten die Leute nicht wirklich nach. In den Medien hörte man nur Negatives. Das einzig Schöne, was ich je über Rumänien im Fernsehen sah, war eine Dokumentation über die Rückkehr der Wölfe in die Karpaten. Da wuchs dieser Wunsch in mir, den Menschen zu zeigen, wie lebenswert und wertvoll dieses Land ist.
Der Wendepunkt kam 2020 in Braşov nach einem Ausritt. Was war an diesem Moment so besonders?
(Lacht) Karlo war zum ersten oder zweiten Mal auf einem Pferd, und wir sind direkt voll galoppiert durch diese atemberaubende Berglandschaft. Als wir danach auf der Terrasse saßen, sagte ich: « Karlo, ich glaube, die Zeit ist gekommen. Wir müssen jetzt ein rumänisches Album machen. » Eigentlich hatten wir überlegt, vielleicht erst Filmmusik zu machen oder ein klassisches Album. Aber in diesem Moment war mir klar: Das hier muss der Anfang sein. Diese Landschaft, diese Inspiration – das war der Funke.
Ihre Recherche führte Sie in Archive und zu Zeitzeugen. Wie wird man zur musikalischen Detektivin?
Es war wie eine Schatzsuche! Ich kannte natürlich Enescu und Porumbescu, aber ich wollte unbekannte Perlen finden. Also habe ich Archive durchforstet, Partituren ausgegraben, Menschen kontaktiert. Die Überraschungen waren fantastisch – Stücke, die klangen wie Filmmusik, aber völlig vergessen waren. Dann kam dieser magische Moment, als ich meinem Vater von Dumitru Bughici erzählte und er sagte: « Das war doch mein Professor! » Plötzlich wurde aus abstrakter Musikgeschichte lebendige Familiengeschichte. Solche Zufälle passierten ständig.
Das emotionale Zentrum des Albums sind zwei Etüden-Capricen Ihres Großvaters Ionel, den Sie nie kennengelernt haben. Wie entsteht eine Beziehung zu jemandem durch seine Musik?
Das war wirklich gespenstisch. Als ich seine Noten das erste Mal spielte, hatte ich das Gefühl, er spricht durch die Musik mit mir. Diese Stücke waren nie publiziert worden, existierten nur als Manuskripte. Während der Erarbeitung entstand eine Verbindung, die ich nicht erklären kann – fast so, als hätte er gewusst, dass ich mal kommen würde. Mein Vater erzählt viel von seinem Vater, aber durch die Musik habe ich ihn auf einer ganz anderen Ebene kennengelernt. Es war wie ein Gespräch über Jahrzehnte hinweg.
Sie haben bewusst auf den traditionellen Karriereweg verzichtet – keine Wettbewerbe, kein Label. Warum dieser Alleingang?
Wettbewerbe haben mir nie gefallen. Diese Momentaufnahme, die starren Bewertungskriterien, die Tatsache, dass man nicht zu viel Persönlichkeit zeigen darf – das fand ich einengend. Ich dachte: Gibt es nicht schon genug Geiger, die alle gleich klingen? Als wir Carpathian Tales verschiedenen Labels vorstellten, hieß es: « Dafür gibt es kein Publikum. » Das war wie ein Weckruf. Wenn wir unser Ding machen wollen, müssen wir es selbst in die Hand nehmen.
Karlo und Sie sind ja nicht nur privat ein Paar, sondern auch geschäftlich ein eingespieltes Team. Wie funktioniert diese doppelte Partnerschaft?
Das war von Anfang an so! Ich erinnere mich an unseren ersten Spaziergang durch den Gelsenkirchener Stadtgarten, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Karlo fragte mich: Was willst du eigentlich machen mit dem, was du kannst? Ich hatte ehrlich gesagt keinen Plan B zum klassischen Weg. Er meinte: Wie wäre es, wenn wir einfach unser Ding machen? Wir haben damals eine Art Mindmap unserer Träume gezeichnet. Seit fast zehn Jahren sind wir jetzt zusammen, und es gibt wenig Momente, in denen wir nicht brainstormen oder an Projekten arbeiten. Das klingt vielleicht anstrengend, aber es ist wunderbar inspirierend. Karlo bringt den technischen Hintergrund mit – alles was man auf unserem YouTube-Kanal sieht, von der Kameraführung bis zum Videoschnitt, kommt von ihm. Er hat auch den Überblick für Projektmanagement und ist dabei, mir den Rücken freizuhalten für die Musik. Wir decken wirklich alles ab und sind dadurch völlig unabhängig.
Ihre Vogelkadenz in der Ciocârlia ist beeindruckend naturalistisch. Wie wird man zur Vogelstimmen-Imitatorin?
Ich bin monatelang wie besessen durch Parks gelaufen und habe Vogelstimmen studiert. Karlo und ich blieben ständig stehen: « Hörst du das Rotkehlchen? Das muss ich nachspielen! » Ich habe sogar im Internet nach Vogelstimmen gesucht und stundenlang auf der Geige improvisiert, bis es nicht mehr wie eine Geige klang. Unsere Hündin guckte manchmal völlig verwirrt, weil sie dachte, da wäre ein Vogel ins Haus geflogen.
Sie unterrichten auch online und verfolgen einen sehr ganzheitlichen Ansatz. Was stört Sie am traditionellen Musikunterricht?
Viele Lehrer zeigen nur das ‘Was’, aber nicht das ‘Warum’ und ‘Wie’. Dadurch bleiben Schüler abhängig, anstatt selbstständig zu werden. Mein Motto ist: Ich will meine Schüler zu ihrem eigenen Lehrer machen. Wenn jemand versteht, warum eine bestimmte Übungsform funktioniert, kann er eigene Probleme lösen. Der mentale Aspekt ist riesig. Wenn jemand ständig sagt „Ich bin ja nur Amateur », redet er sich klein. Ich arbeite auf Augenhöhe, empathisch, und erkläre, dass jeder professionell arbeiten können sollte, egal ob Amateur oder Profi.
Das Album haben Sie komplett selbst finanziert über Ihr Online-Programm Violin Love. Ist das ein Modell für die Zukunft?
Absolut! Und hier zeigt sich wieder, wie wichtig unsere Arbeitsteilung ist. Karlo hat einen fundierten Online-Marketing und Software-Hintergrund. Wir haben eine Firma für mein Online-Programm angemeldet. Darüber bieten wir Kurse, videobegleitete Übungspläne und Live-Workshops an. Karlo hat unser ganzes Studio ausgebaut, mit drei Kameraperspektiven und professioneller Ausstattung. Ich sehe auf einem großen Monitor alle Teilnehmer in der Zoom-Galerie und kann individuell reagieren. So konnten wir Carpathian Tales finanzieren und umsetzen, ohne künstlerische Kompromisse eingehen zu müssen. Die alten Strukturen funktionieren nicht mehr für alle – Labels wollen nur noch sichere Investitionen. Aber heute kann man eigene Wege gehen. Es ist mehr Arbeit, aber auch mehr Freiheit.
Bei den Aufnahmen im B-Sharp Studio waren Sie dann zu dritt – Sie, Karlo und Ihr Vater. Wie war diese Familienkonstellation?
Das war sehr bewegend! Mein Vater ist ja schon 86, und es war wichtig für mich, dass er dabei ist – schließlich ging es auch um seine Familiengeschichte. Karlo war natürlich mit drei Kameraleuten da, um alles zu dokumentieren. Am letzten Tag, als nur noch die Solo-Stücke aufgenommen wurden, haben wir das ganze Team zu einem rumänischen Catering eingeladen. Das war mir wichtig – die Leute sollten auch kulinarisch erleben, wofür sie gearbeitet haben. Alle saßen zusammen am Tisch, haben Mici und Sarmale probiert. Karlo organisiert solche Dinge immer perfekt. Es war wie ein großes Familienfest nach vollbrachter Arbeit.
Sie engagieren sich auch für den Naturschutz in den Karpaten. Wie passt das zusammen?
Für mich gehört das untrennbar zusammen – Kultur und Natur bewahren. Die Karpaten sind Europas letzte grüne Lunge, aber sie werden abgeholzt. Die Naturschutzorganisation, mit der wir geritten sind, hat übrigens dieselbe Wolfs-Dokumentation gedreht, die mich als Kind inspiriert hat – verrückt, oder? Musik kann emotionale Brücken bauen, wo rationale Argumente nicht reichen. Wenn Menschen durch mein Album Rumänien neu entdecken, werden sie vielleicht auch seine Natur schützen wollen.
Was kommt als nächstes? Mehr rumänische Spurensuche oder völlig neue Projekte?
Karlo und ich haben Ideen für mindestens vier weitere Alben – völlig andere Thematiken! Carpathian Tales Teil 2 ist definitiv geplant, mein Großvater hat noch viele Etüden-Capricen geschrieben. Aber erstmal schauen wir, was mit diesem Album passiert. Wir verschicken es gerade an alle möglichen Leute – zum Beispiel an Corina Chiriac, an den Sohn von Bughici in Israel. Wichtig ist mir: Wir denken in Herzensprojekten, nicht in Karrierestrategien. Wenn sich schöne Kollaborationen ergeben – wunderbar! Wenn nicht, machen wir eben das nächste verrückte Projekt. Hauptsache, es bleibt authentisch und kommt von Herzen.