Zum Tode von Kurt Masur, am heutigen 19. Dezember, veröffentlichen wir erstmals im Internet das im Dezember 2008 in der Druckausgabe von Pizzicato erschienene Interview von Remy Franck mit Kurt Masur. Es fand im Vorfeld von zwei Konzerten mit dem 'Orchestre National de France' in Luxemburg statt.

Kurt Masur
Photo: Sascha Gusov

Sie waren jahrelang Chefdirigent eines deutschen Orchesters, dann eines amerikanischen und nun leiten Sie in Paris das ’Orchestre National’. Müssen Sie sich eigentlich immer anpassen, auch an einem Klang, denn diese Klangkörper sind ja doch dann sehr verschieden?
Nein, ich muss mich gar nicht anpassen, denn meine Vorstellung ist immer dieselbe, aber das Resultat ist trotzdem verschieden, weil die Orchester ja auch ihren eigenen Charakter haben. Ich versuche natürlich bei jedem Orchester, stilistisch gesehen, genau das zu erreichen, was ich für richtig halte.Und dann kommt man sich näher und näher, zumal wenn man mit einem Orchester sehr lange zusammen ist. In New York waren es elf Jahre, und da waren die letzten drei Jahre schon eine absolute Identifikation mit mir. Zur Gemeinsamkeit gehören aber beide, das Orchester und der Dirigent. Wenn ich jetzt hier in Paris Debussy dirigiere, dann entsteht natürlich eine Gemeinsamkeit auch aus dem Wissen des Orchesters und der französischen Eigenart des Orchesters heraus, die ich dann auch versuche, zum Tragen lassen zu kommen.

Tragen Sie der Nationalität des Orchesters in den Programmen Rechnung? Machen Sie in Paris z.B. mehr französisches Repertoire als in Deutschland?
Nein, das würde ich nicht unbedingt sagen. Ich habe in Deutschland auch sehr viel französisches Repertoire gemacht. Bei den größeren Orchestern der Welt ist es eigentlich notwendig, dass das Publikum alles zu hören bekommt, was es in der Welt gibt, und wir sollten nicht den Fehler machen, zu meinen, das französische Publikum wolle nur Debussy hören. Und von einem deutschen Dirigenten nehmen sie dann vielleicht auch Beethoven ernster als von einem anderen Dirigenten. Nur wenn wir auf Reisen gehen, erwarten die Veranstalter im Ausland, dass wir auch französisches Repertoire mitbringen.

Wo liegen denn aus Ihrer Sicht die Differenzen zwischen den Orchestern in Deutschland, Amerika und in Frankreich?
Zunächst möchte ich betonen, dass es falsch wäre, diese Sache zu national einzugrenzen. Das ‘Cleveland Orchestra’ z.B. ist überhaupt kein ausgesprochen amerikanisches Orchester, es wurde geprägt von George Szell, es ist ein wunderbares Mozartorchester, ein ausgezeichnetes Beethovenorchester. Aber wenn Sie nach Chicago gehen, finden sie schon eher ein ausgesprochen amerikanisches Orchester. Dort ist die Zeit von Toscanini immer noch nicht vergessen, dort gibt es auch jene Härte und jene enorme Präzision, die man auf der einen Seite preist und auf der anderen eben kritisiert. Ich erinnere mich an Carlos Kleiber, als er zum ersten Mal in Chicago die 2. Symphonie von Brahms dirigierte. Er erzählte mit, nach einiger Zeit habe er sich gefragt, ob die Musiker aus Chicago eigentlich nie lächeln würden? Das sind dann Merkmale, die mit der Nation oder mit der geographischen Lage eines Orchesters gar nicht soviel zu tun haben.

Ich hake nach: Was charakterisiert denn das ’Orchestre National de France’?
Das charakterisiert eine französische Fantasie, eine unglaubliche Flexibilität, eine Neigung ‘leicht’ zu spielen! Das funktioniert natürlich nicht überall. Wir machen dieses Jahr einen Tchaikovsky-Zyklus. Und gerade dabei bei Tchaikovsky muss ich versuchen, einen richtig russischen Klang zu erzeugen, wie ich ihn von Leningrad oder Moskau her kenne, weil ich ja als junger Dirigent jährlich dort war und von dem großen Yevgeny Mrawinsky alles von Tchaikovsky gehört habe. Eine solche Klangvorstellung darf ich einfach nicht beiseite schieben, weil man in Frankreich sonst Tchaikovsky anders gespielt hat. Es gab dort eine Tchaikovsky-Tradition, welche die Tiefe von Tchaikovsky dem so genannten ’Schönklang’ geopfert und damit zerstört hat. Tchaikovskys dramatische Ausbrüche sind von einer erschreckenden Größe. Als ich Tchaikovskys ’Francesca da Rimini’ unter Mrawinsky gehört habe, war das eine so tief bewegende Aufführung, dass ich mich gewundert habe, wieso diese Musik nicht woanders auch so groß klingt. Denn in dem Moment, wo man sie angenehmer macht oder nicht ganz so dramatisch darstellt, hat sie schon nicht mehr dieselbe Aussage. Wenn man als Dirigent sicher ist über die Aussage und den Klang, über die Notwendigkeit des Klangs in einem bestimmten Werkes, dann muss man versuchen, dies auf das Orchester zu übertragen, und die großen Orchester der Welt sind alle in der Lage, das auch so spielen, auch mein französisches Orchester.

Kurt Masur © Radio-France Christophe Abramowitz

Kurt Masur
© Radio-France Christophe Abramowitz

Sie wollen also gewissermaßen mit diesem Tchaikovsky-Zyklus in Paris Tchaikovsky rehabilitieren, auch bei denen, die ihn vielleicht verachten, weil er eben zu oft oberflächlich sentimental dirigiert wurde.
Weil er so süß klingen kann, und das ist ein Fehler! Deswegen ist er in den USA sehr diskriminiert, wo man sogar das erste Klavierkonzert in Popkonzerten spielte und wo viele der Hollywood-Komponisten die Süße Tchaikovskys genutzt haben, um sentimentale Szenen zu untermalen. Tchaikovskys Ernst ist überhaupt nicht misszuverstehen. Nur wenn man versucht, diese Musik in Salonmanier und mit falschem Schmalz zu spielen, dann macht man den größten Fehler und verdirbt man die Musik.

Sie haben von Ihren Klangvorstellungen gesprochen. Haben die sich bei Ihnen eigentlich viel verändert im Laufe des Lebens? Man sagt beispielsweise, manche Dirigenten werden mit zunehmendem Alter langsamer.
Ich würde es mal so ausdrücken: ich habe immer dazu gelernt, aber das war beständig, es gab keine Sprünge bei mir. Ich habe manches über Tempi gelernt, aber das hing auch oft damit zusammen, welches Orchester ich hatte. Wenn Sie ein kleines Orchester haben, das nicht so tragfähig ist, können Sie es sich nicht leisten, ein sehr gedehntes Tempi zu machen, wohingegen es sich Celibidache erlauben konnte, eine Brucknersymphonie zu dirigieren, die 15 bis 20 Minuten länger dauerte als bei anderen, und trotzdem war der Klang dicht und tragfähig. Also das sind Interpretationsphasen, die im extremen Sinne sehr unterschiedlich sein können. Ich persönlich bin laufend ein Lernender geblieben und deswegen verändern sich die Dinge bei mir nach und nach. Ich habe aus meiner frühen Zeit Aufnahmen, die ich heute nicht mehr als gültig ansehe, aber es gibt auch welche aus der ganz frühen Zeit, die sich überhaupt nicht verändert haben.

Nun haben Sie sich ja nicht nur allein verändert, sondern auch das ganze musikalische Umfeld hat sich verändert. Wie beurteilen Sie diese Veränderungen des internationalen Musikbetriebs? Geht die Klassik mit einer angeblich kranken Schallplattenindustrie und einem sich nicht regenerierenden Publikum den Krebsgang?
Wir sollten nicht verallgemeinern! In Europa mag es nicht überall rosig aussehen, aber ich habe gerade gelesen, dass in China 80 Millionen Menschen Klavier lernen. Das ist eine Zahl, die ist nicht nur erschreckend, sondern auch erfreulich. Wir werden einmal bemerken, dass das Weitertragen der klassischen und romantischen Musik weiter geschieht und mehr noch als bisher. Aber diese Entwicklung wird nicht in Europa stattfinden. Wir hatten bisher das Monopol und das werden wir verlieren. Das liegt an der Musikvermarktung, an dem leidigen ‘Nur-nach-nach-dem-äußeren-Erfolg-Streben in der klassischen Musik, das heute vieles verdirbt. Aber es gibt eine Jugend in der Welt, die besessen ist von der Klassik. Das ist dann geographisch woanders, aber es findet statt. Ich komme gerade aus San Fransisco, ich habe dort das Jugendorchester dirigiert. Sie haben eine dritte Leonore gespielt, für die sie sich nicht schämen mussten und in dem Orchester sind 10-Jährige genau so vertreten wie 17-Jährige, aber es sind 70% Asiaten in diesem Orchester. Machen wir uns nichts vor! Die können das und die können lernen, die waren sofort in der Lage, meinen Wünschen Folge zu leisten und sie umzusetzen, da staunt man nur noch Bauklötze. Diese Generation hat eine Fähigkeit, die mich fasziniert. Sie sind besessen, etwas zu lernen, weil sie noch neugierig sind. Und wenn wir hier in Europa klagen, dann nur weil zwei Fehler gemacht worden sind: Wir haben vergessen, unsere Jugend im Sinne der Musik zu erziehen und wir haben vergessen, dass Kultur und Musik ein wichtiger Bestandteil für die Lebensqualität der Menschheit sind, weil wir nur noch an Politik, Powerplay, Technik und Geldverdienen denken. Und das ist, glaube ich, jetzt zu einem Punkt gekommen, wo es wieder eine Wellenbewegung gibt.

Sie unterrichten ja auch, ist das für Sie sehr wichtig?
Natürlich, ich habe jetzt bewusst angefangen, überall in der Welt Meisterklassen für Dirigenten und meist auch für Jugendorchester zu geben, weil dann beide davon lernen. Ich habe das vor einem halben Jahr in Brasilien gemacht, ich habe es hier in Paris gemacht, in der Manhattan School in New York, ich habe es in Polen gemacht. Ich mache es jetzt überall in der Welt ganz bewusst, indem ich bestimmte Komponisten auswähle, besonders die, die für Dirigenten schwierig sind, wenn sie nicht in der Umgebung auf gewachsen sind, aus der diese Komponisten kommen, Mendelssohn, Schumann, Brahms.

Was raten Sie denn einem jungen Dirigenten, der Sie fragt, wie er seine Karriere angehen soll?
Wissen Sie, wer nur an eine Karriere denkt, ist für mich schon gestorben. Entscheidend ist, ein ernster Musiker zu sein! Ich bin gerade hier in Paris dabei, eine Konzertreihe einzurichten, mit vielleicht drei Konzerten in einer Saison, unter dem Motto: ’Kurt Masur stellt vor’. Wir beginnen im nächsten September mit einer jungen griechischen Dirigentin, die ich auf einem Videoband erlebt habe mit der 5. Symphonie von Shostakovich. Sie dirigierte ein Provinzorchester aus Schweden und war so atemberaubend gut, dass ich mich für sie einsetzen will. Die ist 26 Jahre alt und hatte natürlich wenig Gelegenheit, zu dirigieren, weil Frauen als Dirigent schon an sich eine Fragestellung provozieren. Ich mache da keinen Unterschied und will weiterhelfen, bei ihr und bei anderen, bei denen ich das Gefühl habe, dass es herausragende Talente sind. Ich habe da auch einen jungen norwegischen Dirigenten, mit dem ich dasselbe machen werde. Ich will diese Leute unterstützen, damit sie in den Blickpunkt der Öffentlichkeit kommen. Und bei allen anderen glaube ich, ist es wichtig, dass sie sagen: ‘Ich möchte ein hervorragender Musiker werden!’, und dann kommt das, was wir Karriere nennen, einfach als Folge davon.

Dirigentinnen findet man ja heute meistens im zeitgenössischen Repertoire, bei kleineren Ensembles und im Barock, jedoch kaum in den großen Werken der Literatur. Warum eigentlich?
Wir sollten uns bewusst sein, dass Frauen als Dirigent auch gewisse Eigenarten haben, genau so wie die Männer. Es gibt hervorragende Mozart-Dirigenten, die keinen Bruckner dirigieren. Aber die Kombination Mahler-Symphonie und Dirigentin stößt natürlich immer noch auf eine gewisse Skepsis. Ich denke, das wird sich im Laufe der Zeit ändern. Aber natürlich ist das Physische eines Dirigenten schon eine ganz entscheidende Geschichte! Es gibt ausgesprochene Dirigenten für die großen Werke und es gibt eben solche, die lieber beim Kammerorchester bleiben oder sogar besser im Barockbereich. Jeder hat seine Bestimmung und seine hohen Qualitäten, das ist nicht zu leugnen, und keiner kann alles!

Sie wollten eigentlich ja gar nicht Dirigent werden, sondern eher Pianist und Organist. Sie haben den Schritt zum Dirigenten aber nie bedauert?
Nein, nein, ich bin ein glücklicher Mann, und ich muss sagen, nach dem Erlebnis ‘New York Philharmonic’, nach dem Gewandhausorchester und vielen wunderbaren großen Orchestern, die ich dirigieren durfte und auch noch darf, bin ich so glücklich, dass ich mit dem ‘London Philharmonic Orchestra’ ein Orchester von hoher Qualität haben kann dessen Musiker, wenn sie animiert werden, hinreißend schön spielen können. Ich bin genau so glücklich, dass ich mit einem Orchester, welches so lebendig und so farbig und mit soviel Lust und Freude spielt wie das ‘Orchestre National’, Musik machen kann. Das füllt mich total aus, und es macht mich froh, Dinge weiter tragen zu können, so lange meine Gesundheit mir das alles erlaubt.

Wir jedenfalls freuen uns, dass Sie bald nach Luxemburg kommen und in diesem schönen neuen Saal spielen, auf den wir hier in Luxemburg sehr stolz sind.
Ich freue mich sehr darauf! Ich schätze Ihr Land als ein kulturell wichtiges Terrain in Europa. Davon hat mich nicht zuletzt eine für mich sehr beeindruckende Begegnung mit ihrer früheren Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges überzeugt. Luxemburg ist ein kleines Land mit einer großen Bedeutung und, dass Luxemburg diese Liebe zur Kultur und zur Musik so bewahrt, ist für mich sehr beglückend.

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