Der Pianist Konstantin Lifschitz (*1976) präsentiert 2015 bei Orfeo eine Neueinspielung der Goldberg-Variationen, seine zweite Aufnahme dieses Werks, das er 12996 bereits für Denon aufgenommen hatte. Martin Hoffmeister hat sich mit Lifschitz über Bach und andere Themen unterhalten.

Konstantin Lifschitz
(c) Sona Andreasyan

Herr Lifschitz, im Zusammenhang mit den Werken Johann Sebastian Bachs wird nicht selten das Adjektiv transzendent bzw. transzendierend bemüht. Reicht die Musik des Thomaskantors an den Himmel?
Ich lebe nicht im Himmel. Ich weiß also nicht, ob seine Musik bis dorthin reicht, zumal jeder unter ‘Himmel’ etwas anderes versteht. Allerdings hoffe ich, dass Bachs Musik das Herz erreicht, was auch keine geringe Herausforderung ist.

Bachs Werk fungiert für viele Musiker und Dirigenten als Ausgangs- und Endpunkt ihres Schaffens, gewissermaßen als unentbehrliche Bezugsgröße. Was birgt dieser spezifische Klang-Kosmos, was Werke anderer Meister vermissen lassen?
Schwierige Frage! Denn wie sollte man fassen, was dieses Werk so außergewöhnlich und anders macht. Es gibt ja auch Leute, die Bachs Musik nicht ertragen können, so wie andere die Farbe Rot hassen. Wie auch immer: Bachs Musik ist für mich ein Axiom, etwas Unumstößliches. Ich kann nicht verzichten auf diese Musik, eine Musik, die mich immer wieder dazu motiviert, weiterzumachen, selbst wenn ich Zweifel habe an meinem Tun. In diesem Sinne hat mich Bachs Musik gewissermaßen ernährt, sie hat mich bestätigt und zugleich darin bestärkt, durchzuhalten.

Mehr noch als andere legendäre Werke der Musikgeschichte werden die Goldberg-Variationen oder das Wohltemperierte Klavier als singuläre Kompositionen gefeiert…
…was mir übertrieben scheint. Alles ist doch relativ, weshalb man mit solchen Aussagen vorsichtig sein sollte. Was bedeuten schon Begriffe wie ‘Gebet’ oder ‘Testament’ im Zusammenhang mit Musik! Natürlich ist Bachs Musik im Christentum verankert und dem lutherischen Geist verpflichtet, aber dieses Werk geht auch weit darüber hinaus. Es hat sich nie in diesen engen Rahmen pressen lassen. Und genau das macht diese Musik so universell.

Konstantin Lifschitz & Martin Hoffmeister (c) Julia Kaiser

Konstantin Lifschitz & Martin Hoffmeister
(c) Julia Kaiser

Ein Blick auf Bachs Werk für Tasteninstrumente und die entsprechende Interpretations-Geschichte zeigt immer wieder eindrücklich, wie viel Unterschiedliches, zum Teil Konträres diese Musik verträgt. Es scheint, als fungierten Werke wie die ‚Goldberg-Variationen’ auch als überdimensionierte Projektionsfläche…
Bachs Musik erträgt und übersteht vieles, woran beispielsweise Werke Mozarts oder Beethovens zugrunde gegangen wären. Gerade was die Tempi angeht, lässt Bach doch einiges zu. Andererseits macht es die Musik rätselhaft und weckt die Experimentierfreude. Artikulation, Dynamik, Charakter: Da lässt Bach ein enormes Interpretations-Spektrum zu, was Pianisten natürlich auch nutzen. Das macht es spannend.

Aber genau an diesem Punkt scheiden sich eben auch die Geister. Wieviel Interpretation, wieviel Zu-Gabe verträgt Bachs Clavier-Werk?
Sie wollen mich auf eine Aussage festlegen. Aber das Schöne, die Herausforderung dieser Musik liegt ja darin, dass jeder entweder sein ganzes Ideenspektrum einbringen, oder auf alles verzichten kann. Je nach Perspektive findet man eben das eine oder das andere angemessen.

Lifschitz-GoldbergKommen wir zu den Goldberg-Variationen. Da gibt es offene Fragen. Die Variationen werden gerahmt von einer Aria, die ursprünglich nichts mit dem Zyklus zu tun hatte…
Richtig, sie wurde einige Jahre zuvor komponiert, und obwohl jede einzelne Variation in sich geschlossen und vollkommen ist und man also durchaus auf diese Aria verzichten könnte, so erfüllt sie doch einen wesentlichen Zweck. Zum einen schafft sie in Korrespondenz mit den Variationen ein Spannungsfeld, zum anderen hat sie, insbesondere durch ihre finale Wiederkehr, etwas ungemein Anrührendes. Für mich hat das eine fast nostalgische Konnotation. Es ist ein Zeichen dafür, dass etwas Schönes auch zurückkehren kann. Klar, je nach Lebensphase sind auch andere Auslegungen denkbar, aber für mich ist dieser nostalgische Aspekt ausgesprochen wichtig. Und das versuche ich, entsprechend herauszuarbeiten in meiner Lesart des Werkes.

Interpreten, die sich den Goldberg-Variationen widmen, rücken fast automatisch in den Fokus der Öffentlichkeit. Ob man will oder nicht: Eine Exegese dieses Werkes ist für jeden Pianisten ein Bekenntnis, ein Statement, nicht selten sogar ein Offenbarungseid. Beschäftigen Sie sich mit Aufnahmen anderer Kollegen?
Als professioneller Pianist kann man die Einspielungen anderer nicht ignorieren. Denken wir insbesondere an die Aufnahmen von Glenn Gould, Landa Wandowska oder Rosalyn Tureck, um nur wenige zu nennen. Ich bezweifle allerdings dennoch, dass ich unter direktem Einfluss solcher Exegesen stehe. Als ich die Goldberg-Variationen mit 17 Jahren zum ersten Mal aufgenommen habe, stellte sich das vielleicht noch ein wenig anders dar. Heute spiele ich einfach so, wie ich kann und wie ich empfinde.

Ist Perfektion für Sie ein Wert an sich?
Als ich jung war, war Perfektion, vor allem bei Studioaufnahmen, ganz sicher ein Thema, auch bei den Goldberg-Variationen natürlich. Dass ich mich heute für eine Live- Einspielung, einen Konzert-Mitschnitt, entschieden habe, ermöglichte mir mehr Spontaneität. Ich konnte einen natürlichen Fluss generieren. Eine vollkommene Aufnahme ist, wenn überhaupt, nur im Studio zu realisieren.

Fühlen Sie sich einer bestimmten Klavierschule oder einer spezifischen pianistischen Tradition verpflichtet?
Wissen Sie, wenn man genau hinschaut, ist das doch alles sehr relativ. Was heißt schon, beispielsweise, ‚russische Schule’? Die unterschiedlichsten Pianisten werden unter diesen Begriff subsumiert, ohne, dass man irgendwelche Gemeinsamkeiten feststellen kann. Vor diesem Hintergrund betrachtet, gehöre ich also keiner der sogenannten ‘Schulen’ an, das wäre mir zu eng. Zum anderen beziehe ich meine Inspiration, meine Anregungen auch nur zum Teil aus der Musik selbst. Da gibt es ja auch noch die anderen Künste, die einem eine Menge zu sagen haben. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich versuche, über den Weg von Parallel-Universen die eigene Welt zu entdecken und zu erobern.

Zur künstlerischen Identität eines Musikers gehört ohne Frage die Entwicklung eines eigenen Klangs resp. einer individuellen Klang-Idee. Einige Pianisten haben die Suche nach diesem spezifischen Klang bis zum Exzess getrieben und damit nicht zuletzt ein Alleinstellungs- Merkmal kreiert. Beantwortet war damit zugleich die Frage nach der Wiedererkennbarkeit. Alternativ dazu steht die Etablierung eines flexiblen, beweglichen Klangs, entwickelt aus der Perspektive des jeweiligen Repertoires…
Beides ist natürlich nicht von der Hand zu weisen. Aber, um es deutlich zu sagen: Dass man beispielsweise Glenn Gould sofort erkennt, egal ob er Bach, Haydn oder Schumann spielt, stellt eine gewisse Begrenztheit dar. Obwohl ich ihn schätze, deswegen mit Sicherheit nicht! Man sollte versuchen, jedem Komponisten und jedem Werk gerecht zu werden. Für mich bedeutet das, in die Tiefe zu gehen, zu verstehen, worin das Wesentliche der einem oder anderen Komposition liegt. Klar, ich habe meinen eigenen Stil, dennoch habe ich nie Wert darauf gelegt, eine pauschale Herangehensweise zu entwickeln. Wie furchtbar, an irgendwelchen Manierismen wiedererkannt zu werden!

Also kein Klang-Ideal ?
Sagen wir so: Bemerkenswerterweise sehe ich pianistische Klang-Ideale selten bei Pianisten realisiert, eher dann, wenn Nicht-Pianisten wie George Enescu, Mstislav Rostropovich oder Benjamin Britten Klavier spielten. Da höre ich einen idealen Klang, weil es bei diesen Musikern um Aura, um Atmosphärisches geht, um etwas, das außerhalb von Musik liegt. Mit Pianistik hatte das alles eher weniger zu tun.

Wer heute im Musikbusiness arbeitet, ist zahllosen Zumutungen ausgesetzt. Dazu zählt in erster Linie die Vermarktung der eigenen Kunst. Wie eingehend sollte man sich als Musiker mit solchen außermusikalischen Faktoren auseinandersetzen?
Dass ich Interviews wie dieses zulasse, zeigt natürlich, dass ich grundsätzlich offen bin. Andererseits ist es nicht mein Job, meine Arbeit ständig zu präsentieren oder zu erklären. Ich halte das nicht für selbstverständlich. Es kostet mich wirklich viel Energie. Andere Musiker können das vielleicht sogar genießen, ich muss mich sehr konzentrieren – eine echte Herausforderung! Oder wie Sie sagen: eine Zumutung. Wenn ich heute am Anfang meiner Laufbahn stände, würde ich denken: Was mache ich hier eigentlich? Ich wollte nie in einem Hühnerstall arbeiten. Es gibt heute tatsächlich viele eminent gute Musiker, aber ihre Chancen, in der Szene zu reüssieren, sind doch außerordentlich begrenzt. Es gab immer schwierige und komplexe politische und gesellschaftliche Verhältnisse, aber nie zuvor stand die Musik unter vergleichbar hohem Druck. Soviel zum Thema Zumutungen.

Sprechen wir also über die Zukunft der Klassik. Haben Sie eine Prognose?
Nein, ich bin ja kein Prophet. Wenn ich allerdings sehe, dass viele Buchhandlungen verschwinden, stattdessen Modegeschäfte eröffnen, von denen es bereits hunderte gibt, dann stelle ich mir natürlich einige Fragen. Das gilt auch für die Klassik, die ja heute nicht selten als ‘Problem’ dargestellt wird. Aber das eigentliche Problem ist nicht die Klassik, sondern die Menschheit. Noch aber ist nichts verloren, denn wir alle können jederzeit Neues entdecken und gestalten. Und nur dann stehen auch kommenden Generationen Chancen offen. Insofern ist meine Prognose weder positiv noch negativ. Alles ist möglich. Jeder für sich allein muss sich ständig neu motivieren. Genau das habe ich versucht mit meiner Einspielung der Goldberg-Variationen.

Johann Seb. Bach: Goldberg Variationen; Konstantin Lifschitz, Klavier; 1 CD Orfeo C864141A

  • Pizzicato

  • Archives