Julia Fischer
Photo: Julia Wesely

Ein Interview von Alain Steffen

Mit vier Jahren bekam sie die erste Geige, mit dreizehn begann sie, öffentlich aufzutreten. Mit neunzehn debütierte sie in der New Yorker Carnegie Hall. Von da an war sie eine der gefragtesten Geigerinnen unserer Zeit. Alain Steffen hat sich mit ihr unterhalten.

Frau Fischer, Sind Sie eine Perfektionistin?
Ich habe aufgegeben, daran zu glauben, dass ich ein perfektes Konzert spielen kann (lacht). In dieser Hinsicht bin ich sehr streng mit mir. Aber es ist auch gut so. Stellen Sie sich nur vor, ich würde tatsächlich einmal nach einem Auftritt sagen können: « So, das war das perfekte Konzert! » Was dann? Ich würde wohl niemals wieder glücklich mit der Musik werden, weil ich immer wieder diesen perfekten Abend anstreben würde. Perfektion bedeutet, dass jede Musik ihr Geheimnis verliert. Und was ist eigentlich Perfektion? Ich kann die perfekte Interpretation ja nur erahnen. Wir Musiker wissen ja nicht, wie sich der Komponist eine perfekte Aufführung gedacht hat und ob er diese überhaupt im Kopf hatte. Zudem verändern wir uns ständig: Ich habe Mozart vor zehn Jahren ganz anders gespielt als jetzt und ich bin sicher, in zehn Jahren werde ich wieder eine andere Auffassung von seiner Musik haben. Und das ist das Schöne, dieses Unwissen, wie man sich weiterentwickelt und was man noch alles in der Musik, die man liebt, entdecken kann. Die Perfektion wäre langweilig, würde weder dem Werk noch dem Künstler die Möglichkeit der Entwicklung gestatten. Dennoch muss ich als Interpretin versuchen, während eines Konzerts immer auf der Höhe zu sein. Ich muss versuchen, im Moment hundertprozentig da zu sein, mein Bestes zu geben und den Hörern eine Botschaft zu vermitteln. Aber das hat in meinen Augen nichts mit Perfektion, sondern eher mit Verantwortung zu tun.

Wie stellen Sie sich emotional auf ein Konzert ein?
Vor dem Konzert vermeide ich, mich von irgendeiner Musik oder von Gesprächen berieseln zu lassen. Jede Störung wirkt sich bei mir auf die Konzentration aus. Ich versuche, mich zurückzuziehen, für mich alleine zu sein, mich eventuell noch mit dem Werk in aller Ruhe zu beschäftigen. Ich übe dann auch nie ein anderes Stück, als das, was ich im Konzert spielen werde.

Was bedeutet für Sie Interpretation?
Interpretation bedeutet für mich, herauszufinden, was der Komponist uns mit seinen paar dahingemalten schwarzen Punkten sagen will. Das ist meine Aufgabe. Um eine Interpretation anzustreben, muss ich fähig sein, die Sprache des Komponisten zu verstehen und zu erlernen. Jeder Komponist hat seine eigene Sprache, wie er etwas aufschreibt, was seine Lebenseinstellung ist, ob er das Werk für sich selbst oder für einen Auftraggeber geschrieben hat, ob er erzieherisch oder nur zur Freude komponiert hat. Ich muss die Umstände eines Werkes erfassen, mir diesen Moment des Komponierens klarmachen.
Das ist das eine, dann kommt der nächste Schritt: Wie hat er sich ausgedrückt, wie hat er den Solopart konzipiert, wie hat er den Orchesterpart geschrieben, wie hat er Solist und Orchester gegenübergesetzt?

Heute ist es ja so, dass die meisten Musiker ihre Termine schon viele Monate und Jahre im Voraus  programmieren. Stellt das eigentlich keine Probleme dar? Es kann ja vorkommen, dass man vielleicht in den anderthalb Jahren zwischen Vertragsunterzeichnung und Konzert keinen rechten Bezug mehr zu dem angesetzten Werk hat?
Musik machen ist unser Beruf. Und wie in jedem Beruf kommt es vor, dass man gerade einmal keine Lust verspürt, das oder jenes zu tun. Und man versucht, es trotzdem so gut wie möglich zu machen. Bei uns Musikern ist das nicht anders. Wir arbeiten ja professionell und sind uns unserer Verantwortung durchaus bewusst. Musik machen hat nicht immer etwas mit dem Lust- oder Unlustprinzip zu tun. Es wird vielleicht dann nicht das beste Konzert werden, aber wir sind es unserem Auftraggeber und dem Publikum schuldig. Anders zu handeln wäre kindisch. Ich gehöre nicht zu den Musikern, die sich morgens fragen, auf welches Stück sie gerade Lust haben. Wenn Beethoven ansteht, dann ist das für mich klar, Beethoven und nicht Mozart oder Bach, und ich kann problemlos an dem Werk arbeiten, ohne mir jetzt große Fragen zu stellen.

Was geht während des Spielens in Ihnen vor?
Eigentlich das Gleiche wie im Zuhörer. Die Musik und ihre Botschaft, die ich ja nach außen vermitteln will, sind im Moment des Spielens omnipräsent, oder sollen es im besten Falle sein. Es kommt natürlich auch vor, dass dieser natürliche Fluss, denn so erlebe ich es, durch äußere Einflüsse gestört wird. Wenn das Orchester schlecht spielt, wenn die Akustik nicht gut ist, wenn der Dirigent etwas macht, was nicht abgesprochen war, all diese Einflüsse stören die Konzentration und wenn ich während des Spiels merke, dass ich mich anderen Gegebenheiten anpassen muss, verliert mein Spiel natürlich auch an Qualität.

Erleben Sie den Moment des Spielens als emotional oder mental?
Emotional, auf jeden Fall. Aber es gibt immer eine mentale Haltung, die meine Emotionalität kontrolliert. Ich darf mich ja nicht in meinen Träumen oder Gedanken verlieren. Ein Teil von mir erlebt es auf jeden Fall wie ein Zuhörer, so als ob ich neben mir stehe und mir selbst zuhöre. Der mentale Faktor hält immer die Balance zwischen dem Spielen und gleichzeitigen Hören und Erleben. Aber das Spiel selbst ist bei mir immer von der emotionalen Kraft her geprägt. Ich bin keine analytische Interpretin.
Aber anders ist es, wenn ich mit Kollegen oder einem Dirigenten probe. Da bringt es überhaupt nichts, wenn ich mich auf die emotionale Ebene beziehe. Es ist unsinnig, mit einem Kollegen über meine Gefühle und Empfindungen zu sprechen. Ich sage nicht: « Hier brauche ich mehr Zeit, weil ich es so empfinde », sondern es muss heißen: « Hier brauche ich mehr Zeit, weil es sich um eine chromatische Wendung mit einem Septakkord handelt und weil das Publikum mehr Zeit braucht, um das heraus zu hören. »

Nehmen Sie während eines Konzerts das Publikum wahr, die Energie die fließt, die Spannung, die sich aufbaut oder auch nicht?
Das ist unterschiedlich und hängt einerseits sehr vom Werk ab, andererseits aber auch von der Besetzung. Wenn ich z.B. Kammermusik mit Kollegen spiele, dann fließt zwischen uns auf der Bühne soviel Energie, dass ich das Publikum überhaupt nicht wahrnehme. Wenn ich aber ein Violinkonzert von Shostakovich spiele, dann merke ich, was im Publikum passiert, ich merke, wie das Werk schockiert, wie die Menschen den Schmerz begreifen. Und das ist natürlich auch etwas, wofür man als Musiker lebt.

Kann man die Botschaft der Musik oder die Musik als Botschaft eigentlich definieren?
Ich kann das nicht. Musik ist so vielschichtig und verschieden, dass man sie nie verallgemeinern soll. Beethoven, Brahms, Sarasate, Prokofiev, Berg, ihre Botschaften sind Klang, aber diesen Klang auf einen Nenner zu bringen geht nicht. Die Botschaften sind so verschieden, so persönlich, dass eine allgemeine Definition der Musik niemals gerecht werden würde.
Ich rede da lieber von der Bedeutung der Musik und was sie auslöst. Musik ist eine Form der Kommunikation, die nonverbal funktioniert, eine gewisse Form von Empathie, weil der Zuhörer ja im Idealfalle das empfindet, was der Komponist in seiner Musik und ich als Interpret an Emotionen aussende. Das Schöne bei einem Konzert ist ja, dass letztendlich alle im Saal das Gleiche empfinden, dass Menschen, die sich vorher nie gesehen haben, die aus verschiedenen sozialen Schichten kommen, für diesen einen Moment die gleichen Gefühle haben. Ein Moment der Magie, wo alle Schranken und Grenzen aufgehoben sind.
Musik verändert einen. Jemand, der Beethovens Neunte gehört hat ist ein anderer wie jemand, der Beethovens Neunte nicht gehört hat. Deshalb sind wir Musiker ja auch so ein komisches Volk. Wir definieren uns ja über die Musik. Ich sage dann nicht, heute fühl’ ich mich schlecht, sondern eher, ich brauch’ heute Shostakovichs Vierte. Musik berührt uns ganz tief, weil wir uns und unsere Gefühle in ihr wiederfinden, weil sie uns Wege zeigen kann, ja weil sie uns verändert, in dem Moment, wo wir sie hören.

Wie wichtig ist für Sie zeitgenössische Musik?
Bei diesem Thema muss man sich unweigerlich die Frage stellen, was man noch als Musik definiert. Es gibt Komponisten, die unbedingt etwas schreiben wollen, was noch nie da gewesen ist, und es gibt Komponisten, die sehr emotionale Musik schreiben, allerdings ohne große Überzeugung. Vielen Komponisten fehlt heute einfach das Handwerkszeug. Wenn man bedenkt, dass Richard Strauss jeden Morgen als Übung eine Fuge komponiert und dann weggeworfen hat… Auf der anderen Seite finde ich es wiederum maßlos übertrieben, wenn mir ein zeitgenössischer Komponist für eine Note zwanzig Anweisungen gibt.
Aber ich habe eben ernst begonnen, in das zeitgenössische Becken zu springen. Matthias Pintscher wird zwar ein Violinkonzert für mich schreiben, aber ich halte mich momentan noch nicht wirklich für befugt, mich über moderne Musik zu äußern, weil ich noch nicht viele zeitgenössische Werke gespielt habe.

Wo zieht man als klassische Musikerin die Grenze zwischen E- Musik und U-Musik, also zwischen Kunst und Unterhaltung ?
Ich mag diese beiden Begriffe E- und U-Musik eigentlich nicht, weil sie viel zu pauschal sind und uns irgendwie schon vorgeben, in welche Schublade man die Musik steckt. E-Musik, das ist alles, was Klassik ist und U-Musik, das ist der ganze Rest. So einfach ist das nicht. Auch in der Klassik gibt es viel Unterhaltungsmusik und in der sogenannten U-Musik, wo man ja dann auch den Jazz hinzuzählt, gibt es unwahrscheinliche kunstvolle Stücke, genauso wie es in der Rock-Musik sehr ernste Stücke gibt.
Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Kunst und Entertainment, aber nicht so, dass klassische Musik Kunst ist und alles andere nur Entertainment. Der Übergang ist fließend und es gibt Bereiche in der Musik, die man weder der einen noch der anderen Gattung hundertprozentig zuordnen kann. Oper z.B. steht für mich sehr oft zwischen diesen Bereichen. Mit Crossover, der ja auch die verschiedensten Richtungen miteinander zu verbinden versucht, habe ich allerdings meine Probleme, weil neunzig Prozent davon einfach nicht gut sind und nur dem Kommerz dienen. Wirklich gutes Crossover ist sehr, sehr selten.
Ich persönlich versuche prinzipiell, mich nicht als Entertainerin zu verkaufen. Ich bin Künstlerin und wenn ich auf die Bühne gehe, dann um Musik zu machen und nicht um dort eine Show abzuziehen. Allerdings versuche ich den Menschen zu vermitteln, dass Kunst etwas sehr Schönes ist und dass man klassische Musik genauso gut genießen kann wie eine andere Musik. Aber auch, dass Kunst zum Leben eines jeden Menschen dazugehören sollte, weil sie uns sehr bereichert.

Besteht aber nicht die Gefahr, gerade in der Eventkultur, die ja auch vor der Klassikbranche nicht mehr halt macht, dass die Musik und der Komponist in den Hintergrund rücken, der Star auf der Bühne aber immer mehr in den Mittelpunkt gesetzt wird und letztendlich nur noch Unterhaltungswert besitzt.
Das klingt zwar hart, aber es ist leider so. Jede Plattenfirma und jeder Konzertorganisator wird Ihnen sagen, dass er mein Bild besser verkaufen kann als das von Mozart oder Beethoven. Das ist bedauerlich, aber es ist nun mal die Realität. Ich kann auch da nur bedingt etwas dagegen tun, z.B. in dem ich versuche, dass mein Name nie größer als der des Komponisten auf einem CD-Booklet erscheint, und wenn ich Kammermusik einspiele, dass ich zusammen mit meinen Musikerkollegen abgebildet bin. Konzerte und CDs müssen sich einfach verkaufen und das zieht mit den sogenannten Stars nun einmal viel besser, als mit den Bildern der Komponisten. Und da es ja auch in meinem Sinne als Musikerin ist, dass sich eben meine Konzerte und  CDs gut verkaufen, kann ich nur bedingt etwas dagegen tun. Ich glaube, jeder Musiker muss da mit sich selber im Klaren sein. Ich versuche jedenfalls immer, gewisse Marketing-Grenzen nicht zu überschreiten. Wir Künstler müssen uns deshalb immer wieder bewusst machen, dass wir im Dienste des Komponisten stehen.

Als Musiker muss man ja ebenfalls viele Konzessionen machen. Was würden Sie nie tun?
Ich würde z.B. niemals einwilligen, Kürzungen zu spielen. Das wird ja gerne bei Fernsehsendungen so gemacht, dass man hier ein Adagio, dort einrasantes Finale aus einem Konzert spielen soll. Dagegen wehre ich mich vehement, erst neulich sollte ich einer französischen Fernsehsendung nur einen isolierten Satz eines Konzerts spielen, aber ich habe mich durchgesetzt und durfte letztendlich mit einem anderen Stück auftreten.
Auch bei allem, was unter einem dubiosen Motto wie ‘Die großen Geiger unserer Zeit’ steht, mache ich nicht mit. Prinzipiell schaue ich mir zuerst den Rahmen an, in dem ein Konzert stattfinden soll. Und wenn dieser Rahmen, die Idee für mich stimmt, erst dann sage ich zu. Sie werden es nicht glauben, aber es gibt ungemein viele Konzertveranstalter, die mit irrsinnigen Anfragen kommen.

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