Ludwig van Beethoven: Leonore (1805); Marlis Petersen (Leonore), Maximilian Schmitt (Florestan), Dimitry Ivashchenko (Rocco), Johannes Weisser (Pizarro), Robin Johannsen (Marzelline), Johannes Chum (Jaqino), Tareq Nazmi (Don Fernando), Florian Feth, Julian Popken (Two Prisoners), Freiburger Barockorchester, René Jacobs; 2 CDs Harmonia Mundi HMM90241415; Liveaufnahme 11/2017, Veröffentlichung 15/11/2019 (D,A), 29/11/2019 (UK, US) - (139') - Rezension von Remy Franck

1976 hat Herbert Blomstedt als erster Dirigent die Urfassung von Beethovens Fidelio, die Oper Leonore, mit der Staatskapelle Dresden, dem Rundfunkchor Leipzig, Edda Moser, Richard Cassily, Theo Adam, Helen Donath und Karl Ridderbusch aufgenommen. Dass die nicht auf historischem Instrumentarium gemachte Einspielung heute noch großartig wirkt, davon konnten wir uns rezent bei der Veröffentlichung der Naxos-Beethoven-Complete Edition überzeugen.

John Eliot Gardiner hat 1997 bei DG/Archiv Produktion mit dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique die erste historisch informierte Produktion von Leonore dirigiert. Doch es war dies keine Interpretation anhand des Autographs, denn Gardiner beschränkte sich nicht auf die Ur-Leonore von 1805, sondern berücksichtigte auch Änderungen des Komponisten sowohl aus dem Jahre 1806 als auch aus dem Jahre 1814. Seine Aufnahme ist also das Bild eines Work in Progress, wie es der Dirigent damals selber bezeichnete. Auch was die Dialoge anbelangt, ging Gardiner seinen eigenen, sehr eigenwilligen Weg, weil er sie durch den Kommentar eines Erzählers ersetzte. Dieser Erzähler, Christoph Bantzer, dramatisiert den Text so entsetzlich, dass aus dem Kommentar ein theatralischer Monolog wird. Das stimmliche Aufgebot der Gardiner-Aufnahme hält sich ebenfalls in Grenzen, so dass lediglich die musikalische Konzeption und die Leistungen von Chor und Orchester begeistern.

Und nun ist also René Jacobs angetreten, um aufgrund des Autographs die erste historisch informierte Version von Beethovens einziger Oper zu präsentieren.

Doch gleichzeitig nahm er sich die Freiheit, die Dialoge selber neu zu schreiben. Und schoss sich dabei selber ins gestellte Bein. Überlang sind sie geworden, barock verziert und modern verbrämt, denn es kommen immerhin etliche Worte darin vor, die es 1805 noch nicht gab. Wie steht’s da mit der Authentizität?

Doch damit nicht genug: ein Eingriff in die Partitur wie der, dass Marzelline den Schluss von Roccos Arie ‘Das Gold’ zusammen mit dem Vater singt, mag ein netter Einfall sein, aber bezüglich der viel beschworenen Authentizität ist es mehr als fragwürdig.

Dennoch wäre es vermessen, diesen Einschränkungen angesichts von Jacobs’ Dirigat eine zu große Bedeutung beizumessen.

Stärker noch als Gardiner wirft Jacobs jegliches Pathos über Bord und benutzt durchgehend relativ zügige Tempi. Wie Gardiner möbelt er den ersten Akt auf und nimmt dem zweiten seine Wucht, so dass ‘Mozartisches’ modernisiert, Romantisches ‘gemildert’ und eine musikalische Einheit geschaffen wird, die im finalen Fidelio eine der Hauptschwierigkeiten für Interpreten und Rezipienten darstellt.

Während Gardiner jedoch dem Orchester eine wesentliche Rolle einräumt und es zum Hauptakteur der Oper macht, indem er weniger persönlichkeitsstarke Sänger engagiert, die sich bestens in sein Konzept einfügen, ist dies bei Jacobs nicht der Fall.

Natürlich ist auch das Spiel des Freiburger Barockorchesters ein Plus der Jacobs-Aufnahme. Leichtigkeit und Plastizität sowie ein hohes spieltechnisches Niveau sind schon faszinierend. Jacobs entlockt dem Orchester einen warmen Klang, der von mitreißender Kraft ist. Das ist spannungsvolles, hochvitales, ebenso virtuoses wie raffiniertes Musizieren, wie man es sich besser und beglückender gar nicht vorstellen kann.

Für die Rolle des Fidelio/Leonore hat Jacobs Marlis Petersen engagiert. Wenn man ihre Leistung mit jene von Edda Moser vergleicht, verblasst Petersen. Sie singt einen sehr weiblichen Fidelio, mit einer hellen und flexiblen Stimme, der nicht jedem in dieser Rolle gefallen wird.

Maximilian Schmitt ist als Florestan alles andere als der Heldentenor, wie wir ihn aus der Endfassung Fidelio kennen. Er singt mit einem hellen, ganz leicht säuerlichen lyrischen Tenor, eher introvertiert und geschwächt, wie eben ein Gefangener, der zwei Jahre im Gefängnis liegt. Robin Johannsen ist eine ausgezeichnete, sehr charmante und sängerisch gute Marzelline. Der Jacquino wird von Johannes Chum überzeugend interpretiert.

Mit seiner runden und sonoren Stimme ist der russische Bass Dimitry Ivashchenko eine gute Besetzung für den Ober-Opportunisten Rocco.

Die Stimme von Johannes Weisser als Don Pizzarro ist problematischer. Weisser klingt etwas jung und kann den Charakter des Bösewichts nur bedingt erfüllen.

Mit seiner sicher geführten, kräftigen Stimme gibt Tareq Nazmi in der Rolle des Ministers Don Fernando eine gute Figur ab.

Gardiner hatte zu seiner Version der Leonore notiert, seines Erachtens sei Leonore einem Selbstverständnis entsprungen, das im Angesicht der Furcht nach dem Idealen strebe. Fidelio sei im Gegensatz dazu Beethovens gefestigtere Antwort auf Tyrannei und Ungerechtigkeit. Das trifft auf seine Interpretation vollauf zu, weil der Musik, wie ich 1997 beim Erscheinen der Aufnahme schrieb, ihr eminenter Charakter als Mahnwerk gegen Terror und Despotismus genommen wird. Das ist bei Jacobs nicht der Fall. Er hat die Tatsache, dass die gestraffte Fidelio-Fassung prägnanter ist, durch eine gleichermaßen homogenisierende wie dramatisierende Interpretation umgangen, die in ihrer übergeordneten gedanklichen Bedeutung gegenüber Fidelio nicht auf Vordergründigkeit zurückgestuft wird, wie das bei Gardiner der Fall ist.

Dennoch kann Leonore kein Ersatz für Fidelio sein, sondern nur ein komplementäres Zusatzprodukt.

In 1976, Herbert Blomstedt was the first conductor to record the original version of Beethoven’s Fidelio, the opera Leonore, with the Staatskapelle Dresden, the Rundfunkchor Leipzig, Edda Moser, Richard Cassily, Theo Adam, Helen Donath and Karl Ridderbusch. As it is included in the recently published Naxos-Beethoven-Complete Edition we could learn that this recording, which was not made on historical instruments, is today still highly valuable.
John Eliot Gardiner conducted Leonore’s first historically informed production on DG/Archiv Produktion in 1997, with the Monteverdi Choir and the Orchestre Révolutionnaire et Romantique. But this was not an interpretation based on the autograph, because Gardiner did not limit himself to the original Leonore of 1805 but also took into account minor changes by the composer from both 1806 and 1814. His recording is thus the image of a work in progress, as the conductor himself called it at the time. As far as the dialogues are concerned, Gardiner went his own way and replaced them with a commentary by a narrator. This narrator, Christoph Bantzer, dramatizes the text so horribly that the commentary becomes a theatrical monologue. The cast of the Gardiner recording is not outstanding at all, so that only the musical conception and the performances of the choir and orchestra are inspiring.
And now René Jacobs is presenting the first version of Beethoven’s only opera in a historically informed production based on the autograph.
But at the same time he took the liberty of rewriting the dialogues himself. And he shot himself in the leg. The dialogues have become overlong, enriched and decorated in a baroque way and modern at the same time, for they contain also words that did not exist in 1805. What about authenticity?
But that’s not all: when Jacobs invites Marzelline to sing the end of Rocco’s aria ‘Das Gold’ together with her father, this may be a nice idea, but it’s more than questionable in terms of the much invoked authenticity.
Nevertheless, it would be presumptuous to attach too much importance to such a criticism.
Even more than Gardiner, Jacobs throws any pathos overboard and consistently uses relatively fast tempos. Like Gardiner, he boosts the first act and takes the second one back, so modernising the Mozartian and softening the romantic character. Thus he creates a musical unity which, in the final version of Fidelio, is one of the main difficulties for performers as well as for the audience.
However, while Gardiner gives the orchestra an essential role and makes it the main protagonist of the opera by hiring singers with less personality who fit perfectly into his concept, this is not the case with Jacobs.
Of course, the playing of the Freiburg Baroque Orchestra is also a plus of the Jacobs recording. Lightness and flexibility as well as a high technical level are surely fascinating. Jacobs draws a warm sound from the orchestra. This is exciting, highly vital, virtuosic and refined music-making that you can’t imagine any better.
Jacobs has engaged Marlis Petersen for the role of Fidelio/Leonore. If one compares her performance with that of Edda Moser, Petersen fades away. She sings a very feminine Fidelio, with a bright and flexible voice that not everyone will like for this role.
As Florestan Maximilian Schmitt is anything but the Heldentenor as we know him from the final version of Fidelio. He sings with a bright, slightly sour lyrical voice, rather introverted and weakened, just like a prisoner lying in prison for two years. Robin Johannsen is an excellent, very charming Marzelline. The Jacquino is convincingly performed by Johannes Chum and with his sonorous voice the Russian bass Dimitry Ivashchenko is a good cast for the opportunist Rocco.
The voice of Johannes Weisser as Don Pizzarro is more problematic. Weisser is a bit young and he is not an especially villainous Pizzaro. With his powerful voice, Tareq Nazmi is a noble Don Fernando.
If Gardiner’s recording is deprived of its eminent character as a memorial against terror and despotism, this is not the case with Jacobs. Compared to Fidelio, his Leonore is not downgraded to superficiality, as with Gardiner. Nevertheless, one has to say that Leonore cannot be a substitute for Fidelio, but only a complementary additional product.

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