Der Geiger Ingolf Turban und der Pianist Marlo Thinnes haben fur Telos Beethovens Violinsonaten aufgenommen. Darüber und über weitere Themen hat sich René Brinkmann mit ihnen unterhalten.

Herr Turban, Herr Thinnes, Sie haben zusammen eine Gesamtaufnahme aller Violinsonaten Ludwig van Beethovens für das Label Telos aufgenommen. Eine vielleicht banale, aber dann doch sehr interessante Frage ist: Wie kam es eigentlich dazu? Denn soweit ich weiß, haben Sie anlässlich dieser Aufnahme zum ersten Mal überhaupt miteinander im Duo gespielt, stimmt das?
IT: Als mich vor einigen Jahren der künstlerische Chef des Labels Telos Music, Joachim Krist, fragte, ob ich bereit wäre, alle zehn Beethoven-Sonaten für Klavier und Violine mit dem saarländischen Pianisten Marlo Thinnes zunächst aufzuführen und dann auch aufzunehmen, weiß ich noch, wie ich geradezu erschrak. „Ich….? Alle Beethoven-Sonaten…??“ Ich sah einen unvorstellbaren Berg vor mir. Andererseits dachte ich: Endlich!! Bisher hatte ich mich vor dieser musikalischen Bergtour erfolgreich weggedrückt. Die Verantwortung schien mir zu groß. Nicht zuletzt, weil ich diese unfassbar große Musik stets mit Scheu und Bewunderung unterrichtet hatte. Da wuchsen im Laufe der Jahre die Bedenken… – doch dann haben wir uns kennengelernt und losgelegt. Es war ungeheuer befreiend.
MT: ja, das ist richtig. Unser erstes Zusammentreffen war im April 2018. Bis dahin hatten Ingolf und ich weder miteinander musiziert noch persönlichen Kontakt. Joachim Krist, der mit Ingolf schon seit über zwei Jahrzehnten erfolgreich zusammenarbeitet, kam seinerzeit zu dem Beethoven-Zyklus nach Saarbrücken, bei dem ich 16 der Klaviersonaten aufführte; ihm gefielen meine Herangehensweise und mein Verständnis der Sonaten.

Sie sind als Musiker ganz unterschiedliche Wege gegangen: Während sich bei Ihnen, Herr Turban, die Tätigkeit als Konzertmeister der Münchner Philharmoniker unter Celibidache letztlich zu einer sehr erfolgreichen Karriere als Konzertsolist entwickelte, ist Ihre bisherige Laufbahn, Herr Thinnes, ein für die aktuelle Szene eher ungewöhnlicher Weg mit manchen Irrungen und Wirrungen gewesen. Haben Sie also gleich einen gemeinsamen musikalischen Ansatz gefunden? Oder mussten Sie sich erst einmal aufeinander und miteinander ‘eingrooven’?
IT: An dieser Stelle möchte ich Herrn Krist meinen tiefsten Dank und Respekt aussprechen. Er hat uns nicht nur ermutigt, das gigantische Projekt anzugehen, sondern viele Tage seiner wertvollen Zeit uns gewidmet, alles hinterfragt, wirklich von Grund auf mit uns gearbeitet. So fanden unsere bisweilen sehr unterschiedliche Ansätze in eine zuweilen völlig unerwartet neue gemeinsame Sprache. Ich darf mich glücklich schätzen, mit Mitte fünfzig erlebt zu haben, alte Bedenken abzulegen und mich stattdessen vorbehaltlos lernend wiederzufinden, um kompromisslos und radikal Musik zu machen.
MT: Ich bin ja, manchmal zum Leidwesen meiner Mitmenschen, ein etwas widerspenstiger Geist. Natürlich war ich neugierig, ob ich mit meinen Ideen und Ansichten auch auf Verständnis stoßen und in Ingolf jemanden finden würde, der auch Neues ausprobieren und sich ganz auf Beethovens Angaben einlassen würde. Meine Bedenken waren schnell verflogen. Wir verstanden uns von Anfang an sehr gut; wir spürten dieselbe Energie und zogen an einem Strang. Wir setzten uns in langen Proben immer intensiver mit dieser unglaublichen Musik auseinander, lernten und staunten zunehmend über diesen gewaltigen Kosmos. Vor den Aufnahmen konnten wir glücklicherweise die Sonaten mehrmals öffentlich zyklisch aufführen. Die Konzerte machten uns zuversichtlich.

Ihre Beethoven-Aufnahme ist für mich eine der spannendsten seit vielen Jahren. Ich finde sie geradezu aufsehenerregend. Nicht nur weil sie zum Teil wirklich an die Grenzen dessen geht, was an Tempo und Rasanz bei dieser Musik überhaupt möglich ist, sondern vor allem auch, weil das alles so authentisch und organisch klingt – ganz anders als bei manchen Aufnahmen der historischen Aufführungspraxis, die sich manchmal vielleicht etwas sehr „gewollt“ anfühlen. Verraten Sie uns Näheres über Ihren Interpretationsansatz! Ging es Ihnen um die bewusste Auslotung von Extremen oder steckt mehr dahinter?
IT: Es klingt abgedroschen, aber der Kern der Dinge war das ganz genaue Lesen des Textes. Und dann der innere Vergleich: wie ‘kennt’ man es gemeinhin – wie aber steht es wirklich da? Da fielen mir immer wieder die Schuppen von den Augen! Wie leicht passiert es, ‘überzuinterpretieren’, immer noch ‘eins draufzusetzen’, oder umgekehrt Anweisungen ängstlich auszulassen, nur weil sie vielleicht unbequem sind. Beethovens facettenreiches Ego ist so gigantisch, dass es versehentlich das eigene Ego anstacheln kann. Deshalb hatte ich früher so entsetzliche Bedenken. Denn Beethoven gegenüber bist Du immer eine arme kleine Wurst! Lässt man sich aber einfach ein in diese revolutionäre musikalische Welt, wird man mitgenommen. Man muss es nur unverstellt und ohne inneres Gegengepäck zulassen. Das braucht kein störendes Ego, aber durchaus Selbstvertrauen.
MT: Wir hatten niemals die Absicht, musikalisch etwas Besonderes zu wollen oder bewusst in die Extreme zu gehen. Unser Interpretationsansatz ist schlicht der genaue Blick in die Noten, Eigensinnigkeiten wie ‘übliche’ Rubati, Ritenuti, Crescendi etc. zunächst einmal zu eliminieren. Dem feinen und fordernden Ohr unseres Produzenten sei Dank. Das ist eigentlich alles – und doch noch viel mehr…

Gleichzeitig geht bei Ihrer Aufnahme die Poesie nicht verloren, die ja für Beethoven auch einen ganz wesentlichen, manchmal unterschätzten Aspekt darstellt, oder?
MT: Das ist ein schönes Kompliment. Ja, Beethoven fordert alles. Seine Musik ist meiner Ansicht nach komponiertes Menschsein. Poesie und Zärtlichkeit stehen abrupt neben den dramatischsten Ausbrüchen und Abgründen. Eine der Herausforderungen besteht darin, sich bei den häufigen, zum Teil extremen Dynamikwechsel jeweils von einer Gefühlslage in die andere zu „heben“, zu „schleudern“ und nicht einfach den Laut-Leise-Schalter umzulegen. Es ist ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Aufreibend schön! Und spannend!
IT: Beethoven ist natürlich nicht nur der ‘Wilde’ wie es das landläufige Klischee so gerne haben will, sondern Poet schlechthin, manchmal mit entwaffnend berührender Scheu – und zusätzlich erkennen wir das Aufblitzen eines geradezu skurrilen Humors. Vielleicht der am wenigsten erwartete Aspekt.

Ingolf Turban (c) Jan Greune

Sie, Herr Turban, haben gerade den International Classical Music Award in der Sparte Special Achievement verliehen bekommen für Ihre langjährige, sehr produktive und qualitätvolle Karriere auch in Einspielungen. Können Sie eigentlich selbst nachvollziehen, wie viele Aufnahmen sie im Lauf ihrer bisherigen Karriere eingespielt haben?
IT: Tatsächlich sehe ich äußerst dankbar auf rund 50 CD-Produktionen zurück. Es ist für mich der Spiegel meiner musikalischen Neigungen während 33 Jahren. Mein allererstes Album war sogar noch auf Langspielplatte erhältlich… so alt bin ich schon! Und die meisten meiner Aufnahmen sind heute noch auf dem Markt. Das scheint ein gutes Zeichen zu sein, zumal in unserer schnelllebigen Zeit…

Wenn Sie einmal zurückblicken auf Ihre vielen Aufnahmen (und so ein Preis ist ja eine schöne Gelegenheit, um ebendies zu tun), welche liegen ihnen aus heutiger Sicht besonders am Herzen?
IT: Es sind vor allem meine Ersteinspielungen, da ich diese Entdeckungen für wesentlicher gehalten hatte als das Repetieren dessen, was schon existierte. Zum Beispiel mein erstmaliger Einsatz für die Solowerke Karl Amadeus Hartmanns. Damals völlig unbekannt, sind sie heute Bestandteil vieler Violinwettbewerbe. Oder das damals erste Album nur mit Werken von Heinrich Wilhelm Ernst. Kammermusik von Eugene Ysaÿe im Doppelalbum. Die Ersteinspielung von Werken der sogenannten ‘neuen jüdischen Schule’, die sich in St. Petersburg gebildet hatte. Das mir gewidmete Violinkonzert von Enjott Schneider. Meine Liszt-Aufnahmen. Meine Beschäftigung mit Busoni. Und doch immer wieder auch mein Einsatz für das Werk Paganinis, insbesondere seine sechs Violinkonzerte mit meinen eigenen Kadenzen…

Was bedeutet ein Preis wie der ICMA für Sie?
IT: Dieser Preis ist die bisher schönste Anerkennung, die meine Ausdauer, meine Mühen und manchmal auch meine Starrköpfigkeit, unbedingt diese Werke aufnehmen zu wollen, würdigt! Ich bin völlig überrascht, dass meine eher unspektakuläre, zurückgezogene Art und Weise, zu arbeiten, nun derart in den Fokus kommen darf. Meine Freude und Dankbarkeit hierüber sind immens. Die Geduld hat sich gelohnt!

Wie kaum ein anderer Dirigent hat Sergiu Celibidache, unter dem Sie in München als Konzertmeister wirkten, durch seine Münchner Zeit eine ‘Schule’ begründet, die seine Idee der musikalischen Phänomenologie in Wort und Klang bis heute weiterträgt. Sehen Sie, Herr Turban, sich noch stark dieser Tradition verpflichtet oder wie betrachten Sie heute die Philosophie, die Celibidache verkörpert und vermittelt hat?
IT: Celibidache hat definitiv mein musikalisches Denken geprägt, bis heute. Ich bin ihm unendlich dankbar. Keine Note war zufällig bei ihm, alles verwuchs symphonisch konsequent ineinander. Solche Maßstäbe sind so hoch wie unvergesslich!

Bis heute sind die Vertreter der Celibidache-Schule eine Minderheit geblieben, die sich nach meinem Empfinden nach wie vor in starker Opposition zum heutigen Mainstream befindet, den man oft genug als Klassik-Betrieb oder CD-Industrie wahrnimmt. Warum ist es so schwierig, die elementaren menschlichen Bedürfnisse wie Emotion, Hingabe, Dedikation an das Meisterwerk in den Mittelpunkt zu stellen, und stattdessen regiert heute vielfach eine reine Fassade der spieltechnischen Perfektion ohne Seele und wird dadurch erst zum Betrieb und zur Industrie?
IT:  Warum ist es generell so schwierig, Mensch zu bleiben? Und warum scheint es schwerer zu sein als sich vom vermeintlichen Mainstream mitreißen zu lassen? Diese Fragen haben biblische Dimension, ich wage hier nicht sie gültig zu beantworten. Ich weiß nur, wo ich stehe und wo ich hin will. Schon das ist ja nicht so ganz leicht….aber wenigstens etwas übersichtlicher in meinem reiferen Alter.

Herr Thinnes, Sie scheinen in Ihrer bisherigen Karriere ebendiesem Betrieb erfolgreich aus dem Weg gegangen zu sein. Ihre bisherige Laufbahn verlief mit musikbiografischen Brüchen und weist nicht die typischen Biografie-Einträge wie Teilnahme an Wettbewerben, oder die klassische Ochsentour durch die Konzertsäle usw. auf. Wie blicken Sie auf die heutige Musikszene und wie ist es, wenn man sich ihr (bewusst provokativ formuliert) quasi als Quereinsteiger nähert?
MT:  Nun, ich bin dem Betrieb ja nicht ganz freiwillig aus dem Weg gegangen. Unter normalen Umständen hätte ich die Ochsentour wahrscheinlich auf mich genommen. Im Grunde liebe ich die Bühne, das Publikum, die Auftritte. Aber das Schicksal wollte es anders. Die musikbiografischen Brüche sind in der Familiengeschichte begründet. Als ich mich aus dem Betrieb meines Vaters, der größten privaten Musikschule des Saarlandes, verabschieden und endlich mit dem Klavierstudium an einer Hochschule beginnen wollte, erkrankte mein Vater und verstarb nach nur sechs Monaten, so dass ich mit achtzehn Jahren die Leitung und Verantwortung für die Schule übernehmen musste. Eine Ochsentour ganz anderer Art… Studium adé! An regelmäßiges Üben war nicht zu denken. Ein Albtraum, der aber meinem Pianistentraum letztlich nichts anhaben konnte. Rückblickend – vielleicht auch, weil ich meine Geschichte einmal aufgeschrieben habe – sehe ich die schwierigen Startbedingungen in einem anderen, versöhnlicheren Licht, dankbar wissend, dass es das Schicksal durchaus gut mit mir meinte. Nun schaue ich mir den Betrieb von hinten an, als Spätling sozusagen, nicht als Quereinsteiger. Vielleicht rolle ich ja das Feld noch einmal von hinten auf…☺

Marlo Thinnes

Mit dem Ensemble Venerem gehen Sie auch andere musikalische Wege und wandeln auf Pfaden, die Klassik, Jazz und World Music miteinander verbinden. Inwieweit befruchten sich ihre beiden musikalischen Gesichter eigentlich gegenseitig?
MT: Das eine hängt am anderen. Venerem gründete ich mit meiner Frau, die spezialisiert ist auf Alte Musik. Zunächst auf improvisatorischer Basis, dann bald ausgearbeitet bis ins Detail, werden hier Werke vom 14. bis 17.Jahrhundert neu erfunden. Als Arrangeur finde ich in dieser Formation kreativen Platz für eine alte affaire de coeur gewissermaßen, die mich seit meiner Jugend loslässt. Die Arrangements für Venerem zu entwerfen, maßzuschneidern auf diese Besetzung, gründet auf meiner profunden klassischen Ausbildung. Der mit der Auseinandersetzung mit großer klassischer Musik quasi verinnerlichte Anspruch schützt gerade hier vor seichtem Crossover und fordert mich auch als Pianist dementsprechend. Kein Beethoven, aber trotzdem gehaltvoll unterhaltend.

Sie sind selbst im Bereich der musikalischen Erziehung aktiv. Wie versuchen Sie, die angehenden Musiker von morgen darauf vorzubereiten, was sie nach der Ausbildung erwartet?
MT: Indem ich ihnen reinen Wein einschenke. Ich kann niemandem ernsthaft raten Berufsmusiker zu werden, der nicht das nötige Talent und den unbedingten Willen dazu aufbringt. Wenn der junge Mensch dann noch lichterloh brennt in seiner Seele für die Musik, und bereit ist, diesen Weg zu gehen mit allen Ups und Downs, nur dann kann ich reinen Gewissens sagen: « Mach’s! »

Inwieweit finden Sie beide Ihre Sicht auf die Musikinterpretation in dem Komponisten wieder, dem Sie sich nun gewidmet haben: Beethoven?
MT:  Unsere Sicht erschloss sich ja in erster Linie aus dem Beethovenschen Notentext. Der Text spricht und fordert sein Recht. Natürlich: das Wissen um Hintergründe, dass beispielsweise seine Ersatzmutter Helene von Breuning Ludwig wegen seiner extrem dialektischen Wesensart und seiner unberechenbaren Ausbrüche einen Raptus genannt hatte, die Kenntnis von Briefen, Texten etc., die Spurensuche – all das hilft, seinem Wesen wirklich nahe zu kommen. Ihn zu verstehen, geht meiner Meinung nach nur über die Musik.

Verstellt nicht der gemeinhin gepflegte und gehegte Blick auf Beethoven als Musikrevolutionär seiner Zeit, als einer, der auch „gegen den Strom“ seiner Epoche angeschwommen ist, nicht manchmal den Blick auf seine Musik und führt dazu, dass vor allem die Meisterwerke wahrgenommen werden, in denen man den Beethoven zu erkennen glaubt, der diesem Bild entspricht?
IT: Es ist auf jeden Fall eine der spannendsten Aufgaben, den Vorhang des allgemein gehegten Klischees über Beethoven wegzuziehen und dahinter zu leuchten, welcher Facettenreichtum einen geradezu erschlägt. Dazu gehört freilich auch die Beschäftigung mit Werken außerhalb des Mainstreams, der ja letztlich nur eine Verarmung unserer Wahrnehmung bedeutet.

Werden Sie weiter zusammen musizieren? Gibt es vielleicht auch Pläne für die Live-Darbietung einiger der nun eingespielten Beethoven-Sonaten?
IT: Auf jeden Fall! Viele unserer Live-Konzerte fielen ja bisher Corona zum Opfer, aber wenn dieser Spuk mal aufhört, werden wir das sogenannte Beethoven-Jahr nachholen!
MT: …mit Beethovenschem Furor! Ja!

Thinnes & Turban: Charaktervolle Beethoven-Sonaten

  • Pizzicato

  • Archives