La Passione; Luigi Nono: Djamila Boupacha; Joseph Haydn: Symphonie Nr. 49 (La Passione); Gérard Grisey: Quatre chants pour franchir le seuil; Ludwig Orchestra, Barbara Hannigan; 1 CD Alpha 586; Aufnahme 07/2019, Veröffentlichung 27/03/2020 (72') - Rezension von Remy Franck

Da schaut man erst mal ungläubig auf die Spielzeiten: 14’17 » steht da für den ersten Satz, das Adagio aus Haydns 49. Symphonie. Das ist doppelt so viel als in den meisten Interpretationen. Und wenn die Musik dann beginnt, schafft Barbara Hannigan ab den ersten Takten eine Situation von Trauer, Hoffnungslosigkeit und Verlust, wie ich sie noch nie in dem Stück erlebt habe. Die gedehnten Tempi, die bedeutungsvollen Pausen, sie geben dem Adagio eine nie gehörte Tiefe und Aussagekraft. Das Allegro di molto bleibt auch im Tempo noch hinter vielen anderen zurück, ist aber dennoch energetischer als alle anderen Aufnahmen, die ich zum Vergleich herangezogen habe (Hogwood, Barenboim, Tognetti), vor allem dynamisch variabler und daher insgesamt kontrastreicher und rhetorischer. Erst in den beiden letzten Sätzen pendelt sich Hannigan auf die üblichen Tempi ein, aber auch damit bleibt sie durch Neuordnungen in der Artikulierung und der Dynamik aussagekräftiger als andere Dirigenten. Nichtdestotrotz bin ich mir sicher, dass Hannigans gewagte Interpretation auch auf Ablehnung stoßen wird, vor allem bei Leuten, die sich gegen Gefühle in der Musik wehren.

Haydns Symphonie wird von zwei zeitgenössischen Werken umrahmt. Das Programm beginnt sehr eindringlich mit dem Sopran-Solostück Djamila Boupacha, einem musikalischen Manifest von Luigi Nono. Djamila Boupacha war eine algerische Kämpferin, die im Algerienkrieg von französischen Soldaten gefoltert wurde, und im Prozess aussagte, ihr Geständnis sei u.a. mit sexueller Gewalt erzwungen worden. Boupacha kam mit Ende des Algerienkriegs frei. Ihr Fall inspirierte Picasso zu einem Bild, Simone de Beauvoir zu einem Buch und Jesus Lopez Pacheco zu dem an sich hoffnungsvollen Gedicht, das Nono vertonte. Barbara Hannigan singt die Monodie absolut packend.

Die Quatre Chants pour franchir le seuil sind Gérard Griseys letztes Werk, eine 40 Minuten lange Meditation über das Sterben mit den vier Liedern La mort de l’ange, La mort de la civilisation, La mort de la voix, La mort de l’humanité und der anschließenden Berceuse. Entstanden ist es kurz vor Griseys Tod im Jahre 1998. Barbara Hannigans Aufnahme ist erst die zweite von diesem Werk, aber es ist nach jener von Catherine Dubosc bei Kairos auch die beste der zwei, denn Hannigan gelingt es, die Texte ungemein ausdrucksvoll werden zu lassen und als Dirigentin und Solistin das Instrumentalensemble in ihren Bann zu ziehen, um zusammen mit ihm ein packend mysteriöses Ganzes zu schaffen.

Grisey hat die abschließende Berceuse als etwas Überirdisches angesehen, ein Wiegenlied, das « nicht zum Einschlafen, sondern zum Erwachen dienen soll ». Und so endet diese CD dann nach allem Schmerz, allem Kummer und aller Trauer sehr versöhnlich.

The duration is astonishing: Barbara Hannigan takes 14’17 » for the first movement, the Adagio from Haydn’s 49th Symphony. That is twice as much as in most interpretations. And when the music then begins, she immediately immerses the listener in a mood of sadness, hopelessness and loss. Stretched tempi and meaningful pauses give the Adagio a rare depth and expressiveness. The Allegro di molto also is slower than in other recording’s, but is more energetic, dynamically more variable and therefore overall more contrasted and rhetorical. Only in the last two movements does Hannigan settle down to the usual tempos, but with innovative articulations and dynamics she remains more meaningful than other conductors. Nevertheless, I am sure that Hannigan’s certainly daring interpretation will also meet with rejection, especially from people who resist feelings in music.
Haydn’s symphony is framed by two contemporary works. The programme begins very forcefully with the soprano solo piece Djamila Boupacha, a musical manifesto by Luigi Nono. Djamila Boupacha was an Algerian fighter who was tortured by French soldiers during the Algerian war and testified at trial that her confession was coerced by sexual violence. Boupacha was released at the end of the Algerian war. Her case inspired a painting by Picasso, a book from Simone de Beauvoir, and the poem by Jesus Lopez Pacheco which Nono set to music. Barbara Hannigan delivers an absolutely gripping account of the monody.
The Quatre Chants pour franchir le seuil are Gérard Grisey’s last work, a 40-minute meditation on death, with the four songs, The Death of the Angel, The Death of Civilisation, The Death of the Voice, The Death of Humanity and the following Berceuse. Barbara Hannigan’s recording is only the second of this work, but it is also the best of the two, after Catherine Dubosc’s on the label Kairos, because Hannigan succeeds in making the lyrics immensely expressive and, as conductor and soloist, she inspires her orchestra to a grippingly mysterious interpretation.
Grisey saw the concluding Berceuse as something supernatural, a lullaby that « is not intended to fall asleep, but to awaken ». And so this CD ends very conciliatory after all the pain, grief and sorrow.

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