© Patrick Berger / Artcompress

Eine dominant erscheinende Frau bringt ihren depressiven Mann zu einer neuartigen Therapie. In einer steril wirkenden, wohlgeordneten Hotellobby muss der Mann nun an einer Art Psychodrama oder Rollenspiel teilnehmen, bei der er seinen Frust und seine aufgestauten Aggressionen therapeutisch aufarbeiten soll. Unser Mitarbeiter Alain Steffen war bei dieser ungewöhnlichen Therapiesitzung mit dabei.

Als Therapie-Programm hat man die Oper Carmen gewählt. Der depressive Mann wird zu Don José, alle anderen Personen sind Mitglieder dieser Therapiegruppe, Carmen inklusive. Seine Frau, die ebenfalls mitspielt, wird zur Micaëla. Der anwesende Regisseur Dmitri Tscherniakov, der ebenfalls zusätzliche eigene Dialoge zum besseren Verständnis miteingebaut hat, erzählt diese neue Geschichte relativ konsequent und logisch und bringt den Mythos ‘Carmen’ in unsere Zeit. Satt dem heißen Sevilla und der Taverne von Lillas Pastias gibt es kalte Marmorsäulen und Ledersitzgruppen. Der Mann durchläuft seine Therapie und kann sich von Trauma der dominanten Frau zwar befreien, erleidet aber gerade durch die Therapie andere psychische Schäden. Wie in der Oper schließt auch Tscherniakows moderne Vision mit einem verzweifelten Don José. Tscherniakow überrascht immer wieder mit neuen, meist plausiblen Ideen und macht den Zuhörer bis zum Schluss neugierig. Einzig die effekthascherische Szene am Ende des ersten Aktes, wo plötzlich eine Sondereinheit der Polizei die Bühne stürmt, ist ebenso misslungen wie dramaturgisch überflüssig, und stört den sonst relativ flüssigen Ablauf der Handlung. Für all jene, die moderne Inszenierungen und ihre Herausforderungen mögen, war Tscherniakows Inszenierung (Premiere: 4. Juli 2017 in Aix-en-Provence) ein Augenschmaus und eine Wohltat. Wer sich dagegen spanisches Kolorit, Schmuggler und Zigeuner erwartet hatte, wurde enttäuscht.

© Patrick Berger / Artcompress

Schauspielerisch wie sängerisch war die Aufführung vom 6. März überdurchschnittlich. Abgesehen von dem etwas schmalbrüstigen Escamillo von Jean-Sébastien Bou, waren die anderen drei Hauptpartien hochkarätig besetzt. Ann-Catherine Gillet war eine wundervoll expressive und sehr lyrische Micaëla und somit das Pendant zu der kraftvollen, aber nie überzogen wirkenden Carmen von Eve-Maud Hubeaux, die als Darstellerin die von ihr gespielte Figur der Carmen hervorragend distanziert porträtierte. Überragend, darstellerisch wie auch sängerisch war der Don José von Michael Fabiano, der diese Rolle bereits in der Premiere in Aix-en-Provence gesungen hatte. Auch die übrigen kleineren Rollen waren ausnahmelos gut besetzt. Spanisches Feuer gab es dann trotzdem. Und das kam aus dem Orchestergraben. Der spanische Dirigent José Miguel Pérez-Sierra sorgte mit dem Philharmonischen Orchester Luxemburg  für ein sehr dynamisches und spannendes Orchesterspiel, das trotz aller eruptiver Kraft von Pérez-Sierra immer sehr sängerfreundlich gehalten wurde. Mit Jubel und Standing Ovations wurden Tscherniakov und alle Mitwirkenden vom Publikum regelrecht gefeiert.

  • Pizzicato

  • Archives