Im Dezember 1998 war die große amerikanische Sängerin Grace Bumbry für ein Privatkonzert in Luxemburg zu Gast. Remy Franck hatte damals die Gelegenheit, mit Grace Bumbry ein Exklusiv-Interview zu machen, das wir hier wiederveröffentlichen.

Grace Bumbry
(c) Remy Franck

Grace Bumbry begann das Gespräch auf ihre Weise, zwanglos und liebenswert wie sie ist, mit Fragen zum Leitartikel der Dezember-Nummer von Pizzicato, den sie, wie sie sagte, mit größter Aufmerksamkeit gelesen hatte, da er von der angeblichen Dekadenz in der Welt der Oper handelte. Die ersten Aussagen drehten denn auch um dieses Thema, mit einer weitgehenden Bejahung der Kritik, die wir in eben diesem Artikel geäußert hatten.  Auch Frau Bumbry ist der Meinung, dass es eine Krise in der Opernwelt gibt.

Ja! Und ich kann den Vergleich durchaus ziehen. Als ich meine Karriere begann, gab es Sänger wie Franco Corelli, Richard Tucker, Robert Merrill, Piero Cappucilli, Ettore Bastianini, Leontyne Price, Renata Tebaldi… Das war dieses grandiose Zeitalter des Singens, das waren nicht bloß Sänger, sondern Leute, die hundertprozentig ihrem Beruf und der Kunst geweiht waren, für die es sonst nichts gab. Heute geht man zu einer Probe, dann zu einer Vorstellung, so als sei das etwas Alltägliches. Man probt ein bisschen, bis es zusammen geht, und damit hat es sich schon. Wir haben damals diese Sache weitaus ernster genommen, als man das heute tut. Was die heutige Opernwelt braucht, ist ein Up-Lifting. Der Beruf muss wieder auf eine höhere Ebene gebracht werden. Die Musiker müssen die Zuhörer für die Zeit der Vorstellung in eine andere Welt bringen. Es genügt nun wirklich nicht, dass man sich vornimmt, einen netten Abend zu machen. Meine Aufgabe ist eine andere. Aber vielleicht mache ich mir das Leben zu schwer.

Wie meinen Sie das?
Sehen Sie, auch für ein Konzert nehme ich mir Zeit zum Proben. Dabei singe ich nur Arien, die ich vollkommen beherrsche, die ich hunderte Male gesungen habe. Dennoch probe ich mehrmals mit dem Orchester, übe ich allein, damit wirklich alles stimmt, wenn das Konzert dann da ist. Ich bin für dieses Konzert in Luxemburg eine ganze Woche hier. Viele Sänger arbeiten für solch eine Sache kaum noch. Sie machen eine Probe, stellen sich dann auf die Bühne, singen und gehen wieder nach Hause. Danke, das war’s. Das ist nicht meine Art zu arbeiten. Es tut mir leid. Ich will mehr geben.

Gibt es, neben der Intensität der Darstellung – auch einen Unterschied einfach nur im Stimmaterial –  wenn man den Vergleich mit dem macht, was früher hohen Ansprüchen gerecht wurde?
Es gibt heute schöne Stimmen, in allen Bereichen, aber was fehlt, ist die Größe der Stimme. Daher finde ich es so enttäuschend in konventionellen Opernhäusern zu singen. 99 Prozent meiner Kollegen von früher singen nicht mehr – entweder sie haben sich von der Bühne zurückgezogen oder sie sind tot. Ich fühle mich wie ein Fisch, der aus dem Wasser genommen wurde. Ich vermisse nicht nur die Persönlichkeiten, ich vermisse vor allem die vokalen Qualitäten. Wenn Sie im Opernhaus singen, singen sie gegen den Orchesterklang, sie müssen also auch einen großen Sound produzieren, einfach nur um zu überleben. Heute aber muß ich meine Stimme zurücknehmen, um mich in dem Stimm-Level der anderen Sänger anzupassen. Und dafür habe ich nun wirklich nicht gelernt.

Was bedeutet Singen für Sie?
Singen ist nahezu eine Religion für mich. Gott gab mir die Fähigkeit zu singen, er gab mir mehr davon als anderen Leuten, und daher habe ich die Verantwortung, so lange wie möglich so gut wie möglich zu singen. Ich versuche, meine Stimme nicht zu missbrauchen. Und daher, glaube ich, konnte ich so lange so gut singen. Ich habe sehr, sehr selten meine Stimme überfordert.

Sie singen gerne und sie sind dabei immer auch sehr dramatisch….
Sie können nicht in die Interpretation einsteigen, ehe sie nicht die Technik im Griff haben. Ich habe Studenten, die gerne Arien singen möchten. Ihnen sage ich: Ich kann euch keine Arien singen lassen. Zuerst müssen wir die rudimentäre Technik erlernen. Erst danach können wir Arien arbeiten. Spannen wir also den Karren nicht vor den Ochsen. Das ist gefährlich und lächerlich. Aber wenn man das dann beherrscht, muss man auch viel Arbeiten in die Darstellung investieren. Und da haben Sie dann recht: Ich war immer ein Theaterfreak. Ich habe immer gerne Rollen, Figuren, Charaktere erarbeitet.

Welche Rolle haben sie am meisten gemocht?
Meine  Lieblingsrolle ist Norma. Ich mag die Art, in der diese Musik geschrieben wurde. Ich liebe sehr die Gioconda, ich liebe Tosca und selbstverständlich Carmen. Richtiger sollte ich sagen: Ich kam dazu, Carmen zu mögen. Am Anfang mochte ich die Rolle nämlich nicht, aber ich heute schätze ich sie sehr. Das heißt auch, dass man in eine Rolle hineinwachsen muss. Die Interpretation muss reifen. Man muss eine Figur ja auch verstehen, um sie singen zu können. Ich versuche immer noch Beethovens Fidelio zu verstehen, dazu habe ich keinen Zugang gefunden. Ich wurde mehrmals gefragt, Fidelio zu singen, vielleicht, weil ich eine Schülerin von Lotte Lehmann war, die so berühmte Leonore war, aber ich habe immer abgesagt. Ich studierte die Partitur und besuchte auch noch eine Vorstellung in der Met. Was aber geschah: Ich fühlte mich vom Gesang gestört. Die Orchestration ist so fantastisch. Und die Stimme stört die Schönheit dieser Orchestermusik. Vielleicht liege ich falsch…

Kommt das daher, dass Fidelio auf der einen Seite zu nahe an Mozart ist und auf der anderen zu sehr in die Romantik hineinragt? Beethoven hat ja eigentlich selbst die richtige Balance nicht gefunden zwischen der alten und der neuen Form.
Das ist eine gute Erklärung. Daran habe ich nie gedacht… Ich habe im Übrigen ja auch nie gerne Mozart gesungen. Ich habe zwei Angebote für Mozart-Opern bekommen und abgesagt, das waren La Clemenza di Tito und Don Giovanni. Ich arbeitete daran und merkte schnell: dies ist nicht mein Stil zu singen, dies ist nicht meine Musik. Ich sagte sogar Maestro Karajan ab, der mich die Donna Anna im Don Giovanni singen lassen wollte. Heute, nachdem ich so viel hinzugelernt habe, und weil ich immer auch noch Sopranpartien singen kann  – und weiß, wie man sie singen muss -, könnte ich es sehr wohl tun. Aber damals…nein! Auch wenn Karajan sagte: « Ach kommen Sie, Miss Bumbry, mit mir können Sie das machen… » – das sagt wohl jeder Dirigent – , ich fühlte mich einfach nicht bereit, es zu tun. Und wenn ein Sänger sich nicht sicher fühlt in einer Rolle, sollte er die Finger davon lassen. Ich sagte mir: so eine wichtige Sache, gerade mit Karajan und bei den Salzburger Festspielen, nein, das kannst du nicht tun. Ich habe stets lieber den Fehler gemacht, nein zu sagen als den Fehler, ja zu sagen und dann auf die Nase zu fallen.

Grace Bumbry
(c) Remy Franck

Was sehen Sie persönlich als die wichtigsten Stufen Ihrer Karriere an?
Das Wichtigste war ganz gewiss die Venus in Bayreuth. Das unterschied mich von allen anderen. Die Tatsache, dass Wieland Wagner damals meine Stimme und meine Person auswählte, das war ein echter Glücksbringer für mich. Bedenken Sie, dass ich danach sofort zu den Kennedys für eines jener Konzerte im Weißen Haus nach Washington eingeladen wurde. Das war die Festigung meiner Karriere, zumindest in den Vereinigten Staaten, denn ich hatte ja eigentlich in Europa begonnen.
Doch vor all dem kam Lotte Lehmann. Das war das sicherlich wichtigste Element, das wirklich meine Karriere beeinflusste wie nichts anderes. Nach Bayreuth sang ich innerhalb kürzester Zeit an der Scala, der Metropolitan, der Wiener Staatsoper, an allen großen Opernhäusern der Welt…

Haben Sie, wie viele andere auch, den Eindruck, dass heute die großen Dirigenten fehlen, die wirklich Musikgeschichte machen können, jetzt nachdem mit Solti der letzte der Großen gestorben ist?
Ich glaube, es gibt auch noch andere gute Dirigenten. Von daher gesehen ist die Musik nicht in Gefahr. Es gab auch früher andere gute Dirigenten, die mit Sängern arbeiten konnten, andere als die ganz großen. Giuseppe Patané z.B. war einer von ihnen.

Was erwarten Sie von einem Dirigenten?
Ich erwarte von ihm, dass er mit mir zu atmen versteht, dass er mit mir fühlen kann, zwischen die Noten, zwischen die Takte gehen kann. Er muss alles unter Kontrolle haben, er muss wissen, was er von uns verlangen kann, was er von uns verlangen muss. Sicher, er hat auch seine Musiker und die anderen Sänger zu führen, er hat unbeschreiblich viel zu tun. Aber ich muss ja auch wissen, um was es geht, ich muss die gesamte musikalische Linie kennen, ich muss meinen Text kennen, muss meine Musik kennen, und all das zur Zufriedenheit des Regisseurs und des Dirigenten…

Sie sprachen vorhin vom Gefühl beim Singen. Die Sopranistin Sylvia Geszty sagte mir einmal, es sei Unsinn, von Gefühl zu sprechen. Singen mit der Seele, wie es Carreras nenne, sei unmöglich. Das A und das O sei die Technik. Eine gut geführte Stimme könne alles herüberbringen, was Musik braucht.
Damit bin ich nicht einverstanden. Nein! Das stimmt nicht. Nein! Ich muß mit Gefühl singen, und ich spüre, wie das Publikum darauf reagiert, wie es sich festbeißt an der Musik, wenn man etwas anderes tut als nur technisch saubere Töne zu produzieren.
Gefühl das ist etwas, das man nicht richtig beschreiben kann, das man nicht berühren kann, aber es ist da. Der Komponist hat ja an etwas gedacht, wenn er eine Rolle komponierte, und es ist unsere Aufgabe zu versuchen – zumindest zu versuchen – dieser Vision des Komponisten nachzuspüren. Dazu müssen wir den Text und die Musik studieren und herausfinden, wie sie zusammengehören. Das ist sehr wichtig. Ich fand es immer als störend, wenn eine Oper in einer Übersetzung gesungen wurde. Einmal musste ich Janaceks Jenufa an der Scala singen, in italienischer Sprache. Ich sage Ihnen, das ist als ob sie herumgehen und ein Bein kürzer haben als das andere.

Sänger beklagen sich oft über die Regisseure, sie beklagen sich, daß sie gezwungen werden, Rollen so zu spielen, wie sie es eigentlich gar nicht mögen.
Ja, eine Regie kann schon zu einem Opfer führen. Ich habe das in Stravinskys The Rake’s Progress erlebt, in Salzburg. Ich habe die Inszenierung nie richtig gemocht, vom ersten Tag an nicht. Ich hatte Monsieur Mortier versprochen, die angebotene Rolle zu übernehmen, und ich tat es. Die Besetzung war übrigens auch hervorragend gut, und so sah ich keinen Grund, das Angebot nicht anzunehmen. Mir war freilich nie gesagt worden, dass wir da mit einer so von der Norm abweichenden Inszenierung und Werksicht konfrontiert werden würden, wie das dann schließlich der Fall war. Ich war wirklich nahe dran, Salzburg zu verlassen, aber ich stand dann doch zu meiner Zusage und sang.

Sie haben eine Fülle von Opernaufnahmen gemacht. Mochten Sie eigentlich die Studioatmosphäre?
Nein. Das hing aber nicht daran, ob es nun Studio war oder Liveaufnahme. Es hing an der Tonqualität, die herauskam. Ich fand immer, dass meine Stimme auf der alten Schallplatte nicht dem entsprach, was sie in Wirklichkeit war. Heute, auf der CD, kommt die Stimme näher an das heran, was sie wirklich ist. Ich bezweifle aber, ob die Tontechniker je wirklich meine Stimme verstanden haben, ob sie je etwas damit anzufangen wussten. Ich habe es erlebt, dass Toningenieure nicht einmal ins Studio kamen, um meine Stimme in natura zu hören. Sie blieben an ihrem Regiepult und drehten an ihren Knöpfen, ohne meine Stimme zu kennen. Das heißt, sie mischten eine Stimme zusammen so wie sie haben wollten. Sie hatten eine Vorstellung vom Sound der Stimme, von der Art, wie sie klingen sollte und nicht von der Stimme, wie sie wirklich war. Und dann kam eine Aufnahme heraus, die ein Verrat an meiner Stimme war.

Welche Ihrer Aufnahmen bevorzugen Sie?
Meine Lieblings-Gesellschaft war die Deutsche Grammophon. Die DG-Techniker nahmen sich Zeit, meine Stimme anzuhören und sie so naturgetreu wie möglich wiederzugeben. DG hat mit Liedaufnahmen und Arien eine Doppel-CD gemacht, die ich sehr mag.

Sie schätzen auch den Lied-Gesang?
Ja! Am Anfang wollte ich vor allem Rezitals singen. Lotte Lehmann hat mir sehr dabei geholfen. Sie hat uns das Lied-Singen so gut beigebracht, sie hat so gut erklärt, um was es ging, dass ich im Lied-Gesang wirklich etwas bringen konnte. Und gerade weil ich das konnte, fiel es mir leicht, auch in der Oper das Wesen einer Figur zu erfassen und mich hineinzuversetzen.
Das Lied ist ja auch eine Mini-Oper. In kurzer Zeit, in zwei oder drei Minuten, zeichnen Sie ein ganzes Bild, erzählen Sie eine ganze Geschichte.

Sie begannen im Chor zu singen und jetzt haben Sie selber einen Chor gebildet, der Gospel und Spirituals singt…
Ich habe bei uns in der Kirche gesungen, ich habe im A capella-Chor der Universität gesungen. Dort wurde ich auch gelehrt, meine Stimme mit jener der anderen Sänger zu mischen. Der Dirigent dieses Universitätschores hatte im Übrigen so viel Geschmack, soviel Stil, soviel Sinn für Stimmen-Sound, dass er mir sehr viel geholfen hat. Heute versuche ich, jenen wirklich idealen Chorsound zu erreichen, den dieser Universitätschor damals hatte. Es genügt nicht, dass man vor das Publikum tritt und mit einem Maximum an Enthusiasmus singt. Ich will zeigen, dass eine ausgebildete Stimme auch diese Art von Musik singen kann, Spirituals oder Gospel. Wenn mir Sänger vorsingen, die in meinen Chor aufgenommen werden möchten, müssen sie neben einem Spiritual und einem Gospel auch ein klassisches Stück singen, entweder eine Arie oder ein Lied. Daraus gewinne ich sowohl die Erkenntnis, welchen musikalischen Background sie haben und wie flexibel sie sind.
Und gerade ihre Flexibilität, mit jeder Art von Musik umgehen zu können, bringt dem Chor so viel an Homogenität und an Klangschönheit.

Wie geht es weiter?
Persönlich versuche ich, meine sängerischen Aktivitäten so weit wie möglich zu reduzieren. Ich widme mich dafür umso mehr meinem Chor. Der Chor bedeutet mir sehr viel. Nicht zuletzt auch wegen der finanziellen Schwierigkeiten, in der die Musik in den Staaten geraten ist. Zu viele gute Sänger sind in den USA ohne Arbeit in dem Beruf, für den sie ausgebildet wurden. Daher will ich ihnen die Gelegenheit geben, auftreten zu können, und damit so viel Geld zu verdienen, dass sie in dezenter Weise leben können. Viele von ihnen haben ohnehin einen andern Job. Ich gebe ihnen also vor allem die Möglichkeit zu singen, während, sagen wir, vier Monaten im Jahr das zu tun, für das sie so viel Kraft gegeben und so viele Opfer gebracht haben.

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