
Die Werkauswahl der Berliner Philharmoniker und ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko für diese Veröffentlichung führt bekannte Beispiele aus dem Schaffen von Arnold Schönberg wie Verklärte Nacht in der zweiten Fassung für Streichorchester, die Kammersymphonie Nr. 1 und das Violinkonzert mit unbekannteren Kompositionen zusammen, nämlich dem Oratorium Die Jakobsleiter und den Variationen für Orchester.
Die beiden letztgenannten Werke bieten aber interessante Besonderheiten im Schaffen von Schönberg, und damit den Grund, sie zu präsentieren. Für Die Jakobsleiter beschäftigte sich Schönberg zunächst mit August Strindbergs ‘Jakob ringt’ über die Auseinandersetzung eines Intellektuellen mit Gott und mit Honoré de Balzacs Séraphîta, einer synkretistischen Erlösungsgeschichte. Da sich eine Bühnenfassung dieser Abhandlungen nicht anbot, skizzierte Schönberg, weitgehend eigene Texte nutzend, das Sujet als eine Symphonie. Ausgearbeitet hat er dann aber nur den Finalsatz, der posthum für das Konzert aufbereitet wurde.
Die Variationen für Orchester stellen Schönbergs erstes Orchesterwerk dar, in dem er die von ihm entwickelte Zwölftontechnik für große Besetzung nutzte. Die eine Reihe aus zwölf Tönen erfährt im Stück zahlreiche Umwandlungen und wird oft wiedererkennbar eingebunden. Schönberg selber hörte dieses Werk wie ein « Album mit Ansichten eines Ortes oder einer Landschaft“. Auftraggeber war Wilhelm Furtwängler, der die Berliner Philharmoniker auch bei der Uraufführung leitete.
In Verklärte Nacht und der 1. Kammersymphonie erschaffen die Berliner Philharmoniker hochintensive Klanggebilde von teilweise beinahe schwülstig anmutender Qualität. In der Phase, in der andere Programmmusik schufen, beschränkte sich Schönberg darauf, im Streichsextett Verklärte Nacht die Natur zu zeichnen und Emotionen auszudrücken. Sein Ziel war es nicht, konkrete Handlungen nachzuvollziehen. Damit gelang es ihm in höchstem Maße, Regungen der Gefühle poetisch darzustellen. Die Umsetzung durch die Interpreten vollzieht diese Intention mit dem ausdrucksvollem Ansatz.
Die Kammersymphonie findet ebenso hinwendungsvolle Musiker. Ist Verklärte Nacht auf die Streicher begrenzt, ist dieses Werk als solistisch besetztes Stück auf seine Weise noch fokussierter im Ausdruck. Wie weit die von Schönberg gewünschte gesteigerte Innigkeit durch den packenden Zugriff leidet, mag im Ohr des Hörers entschieden werden. Auf alle Fälle gelingt es den exzellent spielenden Musikern, wie ebenfalls vom Komponisten verlangt, deutlich zu artikulieren und nicht etwa zu hudeln.
In den Variationen für Orchester belegt das groß besetzte Ensemble sein Betätigungsfeld, wobei auch hier kammermusikalische und solistische Passagen delikates Musizieren erlauben. Doch auch mit dem großen Apparat wird mit größter Sorgfalt und, wenn auch sinnstiftender Neutralität, die Reife des Werkes herausmodelliert, obwohl es sich in gewisser Weise um einen Erstling handelt.
Im Violinkonzert schieben Patricia Kopatchinskaja und die Berliner Philharmoniker gar jeden Ansatz, wonach Schönberg nur spröde, hässliche Gehirnakrobatik betrieben habe, als faules Vorurteil vom Podium. Bei einer souveränen Interpretin und Technikerin wie Kopatchinskaja wird dieses Konzert vielmehr zu einer leuchtend klaren Elfenmusik. Mit hellwacher Betrachtung, die vielleicht nicht improvisiert, aber eine staunend freie Sicht auf das Werk ermöglicht, bietet die Solistin mit genau ausgereizter Prägnanz ihre Interpretation an. Die Unterstützung durch das Orchester greift ihre Beweglichkeit äußert flexibel und dynamisch feinschattiert auf. In dieser Version bleibt das Komplexe durchsichtig, das Abstrakte wird leidenschaftlich, das vermeintlich Schrille schön wie gesungen gezeigt. Trotz der Anforderungen an jeden Interpreten treten die romantischen wie expressiven Wesenszüge lebhaft hervor. Vielleicht darf man an dieser Stelle stellvertretend erwähnen, dass Petrenko auch hier nicht in den Vordergrund drängt und ein Rezept auf seine Sicht verschreibt, sondern im Sinne der Musik und beteiligten Musiker die Fäden konziliant gezielt ordnet.
Die Jakobsleiter, hier mit etwa einer dreiviertel Stunde Dauer das längste Werk, lebt von den Gesangsstimmen mindestens ebenso wie vom Instrumentalklang. Der immer transparent gehaltene Orchestersatz wird hier auch so durchlüftet dargestellt, so dass die Singenden keine Probleme haben, ihre Stimmen vernehmbar zu gestalten. Neben den acht Solisten kommt dem Rundfunkchor Berlin eine führende Rolle zu, die er in einer modulationsreichen und bestens organisierten Darbietung präsentiert. Die Solisten, eine Reihe namhafter Interpreten, agieren nicht nur untadelig, sondern können mit ihren Partien allesamt überzeugen.
Die technische Realisierung im hauseigenen Label ist beispielgebend gelungen. Sowohl die kleinen wie auch die großen Besetzungen werden angepasst plastisch und ausgewogen im Klangbild dargeboten. Der umfangreiche und, wie es heute heißt, wertige Begleitschober bietet neben den CDs eine Blu-ray Disc mit den Konzertvideos sämtlicher Werke und als Bonusinhalt den Audiomitschnitt von Die Jakobsleiter in Pure Audio Dolby Atmos Studio Qualität. Hinweise zu den Werken, ihrer Historie und Texte mit einigen Abhandlungen Schönberg und seine Kompositionen betreffend ergänzen das Gesamtkonzept.
Bei einer so umfangreichen Aufbereitung wären auch Angaben zur vorgesehenen Besetzung der Stücke eine komplettierende Information gewesen, um etwa den Hinweis auf die extrem große Besetzung bei der Jakobsleiter noch besser zu verstehen. Angaben zu den Interpreten außer der Namensliste des Orchesters fehlen. Zum Gestalter der Box gibt es Informationen.
Die im Jubiläumsjahr 2024 zum 150. Geburtstag in Konzerten entstandenen Aufnahmen aus allen drei Schaffensphasen von Arnold Schönberg sind eine exquisite Gabe für den Jubilar.
The selection of works by the Berliner Philharmoniker and their chief conductor Kirill Petrenko for this release brings together well-known examples of Arnold Schoenberg’s oeuvre such as Verklärte Nacht in the second version for string orchestra, the Chamber Symphony No. 1 and the Violin Concerto with lesser-known compositions, namely the oratorio Die Jakobsleiter and the Variations for Orchestra.
For The Jacob’s Ladder, Schönberg first studied August Strindberg’s ‘Jakob wrestles’ about an intellectual’s confrontation with God and Honoré de Balzac’s Séraphîta, a syncretic story of redemption. As a stage version of these treatises was not an option, Schönberg sketched the subject as a symphony, largely using his own texts. However, he only worked out the final movement, which was prepared posthumously for the concert.
The Variations for Orchestra are Schönberg’s first orchestral work in which he used the twelve-tone technique he developed for large ensembles. The one row of twelve tones undergoes numerous transformations in the piece and is often recognizably integrated. Schönberg himself heard this work as an “album with views of a place or a landscape”. It was commissioned by Wilhelm Furtwängler, who also conducted the Berliner Philharmoniker at the premiere.
In Verklärte Nacht and the 1st Chamber Symphony, the Berliner Philharmoniker create highly intense soundscapes with a sometimes almost pompous quality. In the phase in which others were creating program music, Schönberg limited himself to depicting nature and expressing emotions in the string sextet Verklärte Nacht. His aim was not to depict concrete actions. He thus succeeded to the highest degree in poetically depicting emotions. The performers realize this intention with an expressive approach.
The Chamber Symphony finds equally devoted musicians. While Verklärte Nacht is limited to the strings, this work is even more focused in its own way as a piece for soloists. The extent to which the heightened intimacy desired by Schönberg suffers as a result of the gripping approach may be decided by the listener’s ear. In any case, the excellent musicians succeed in articulating clearly, as also demanded by the composer, and not to huddle.
In the Variations for orchestra, the large ensemble demonstrates its field of activity, with chamber music and solo passages also allowing for delicate music-making. But even with the large apparatus, the maturity of the work is modeled with the greatest care and, albeit with meaningful neutrality, even though it is in some ways a first work.
In the Violin Concerto, Patricia Kopatchinskaja and the Berlin Philharmonic Orchestra even dismiss any suggestion that Schoenberg was merely performing brittle, ugly brain acrobatics as a lazy prejudice. With a masterful interpreter and technician like Kopatchinskaja, this concerto becomes a luminously clear elfin music. With wide-awake contemplation, which may not be improvised, but which allows an astonishingly free view of the work, the soloist offers her interpretation with a precise conciseness. The orchestra’s support picks up on her agility in an extremely flexible and dynamically finely shaded manner. In this version, the complex remains transparent, the abstract is shown passionately, the supposedly shrill beautifully as if sung. Despite the demands on each performer, the romantic and expressive traits emerge vividly. Perhaps it is worth mentioning at this point that Petrenko does not push to the fore here either and prescribe a recipe for his vision, but rather arranges the threads in a conciliatory and targeted manner in the interests of the music and the musicians involved.
Jacob’s Ladder, the longest work here at around three quarters of an hour, lives from the vocal parts at least as much as from the instrumental sound. The orchestral writing, which is always kept transparent, is also presented here in such an airy way that the singers have no problems making their voices audible. In addition to the eight soloists, the Rundfunkchor Berlin plays a leading role, which it presents in a performance rich in modulation and well organized. The soloists, a number of renowned performers, not only act impeccably, but are all convincing in their parts.
The technical realization on the in-house label is exemplary. Both the small and the large ensembles are presented with an adapted, vivid and balanced sound. In addition to the CDs, the extensive and, as it is called today, high-quality accompanying package offers a Blu-ray disc with the concert videos of all the works and, as bonus content, the audio recording of Die Jakobsleiter in Pure Audio Dolby Atmos Studio quality. Notes on the works, their history and texts with some essays on Schönberg and his compositions complete the overall concept.
In such a comprehensive edition, information on the intended instrumentation of the pieces would have been helpful in order to better understand, for example, the reference to the extremely large instrumentation in the Jakobsleiter. There is no information on the performers apart from the list of names of the orchestra. There is information on the designer of the box.
The recordings from all three of Arnold Schönberg’s creative phases made in concerts in 2024, the 150th anniversary year, are an exquisite gift for the jubilarian.