Die erste Frage, wenn man sich mit einem Duo unterhält, das in der ungewöhnlichen Kombination Harfe und Klavier musiziert, gilt unweigerlich natürlich der Besetzung und wie es dazu kam. Ich stelle mir vor: Da ist also eine musikalische Familie. Die Mutter spielt Harfe, die Tochter lernt Klavier, wird dann irgendwann richtig gut, wird zu einer ausgebildeten Pianistin. Wie kam es schliesslich zu der ungewöhnlichen Entscheidung, ein Familien-Duo mit der Besetzung Harfe und Klavier zu gründen?
Praxedis Hug-Rütti (PHR): Purer Zufall. Freunde der Familie welche beide Praxedis als Solistinnen kannten, wünschten sich zu ihrem Geburtstagsfest ein gemeinsames Ständchen mit Harfe und Klavier. Nach anfänglicher Überraschung ob der neuen Idee, hingen wir ziemlich in der Luft, da wir keine Ahnung hatten, wie wir die beiden Instrumente als Klangsymbiose zusammenbringen sollten, was wir überhaupt spielen sollen. Wir arrangierten die Mozart-Sonate für zwei Klaviere in D, sowie ein paar kleinere Stücke aus der Romantik. Der Auftritt war dann ein derart großer Erfolg und der Spaß am Zusammenspiel immens, sodass wir ein erstes richtiges, öffentliches Konzert folgen ließen. Das war die Geburtsstunde des Duo Praxedis.
Wenn man dann so ein Duo mit so einer seltenen Besetzung ins Leben gerufen hat, wie kommt man dann zu Literatur, die man interpretieren kann? Ich meine: Für Harfe und Klavier als Duo ist doch wahrscheinlich nur sehr wenig komponiert worden oder liege ich da falsch?
Praxedis Geneviève Hug (PGH): Erst mit der Zeit fanden wir heraus, dass es eine unglaubliche Menge an Originalwerken für Harfe und Klavier gibt, ebenfalls durch Zufall auf der Rückseite eines Klavierhefts von Hummel, auf dem weitere Titel im selben Verlag für Werbezwecke ersichtlich waren, stand ‘5 Rondoletti für Harfe und Klavier’. Es war unsere erste Bekanntschaft mit einem Originalwerk. In der Zwischenzeit steigt durch intensive Recherche in internationalen Bibliotheken und durch die Mithilfe von musikwissenschaftlichen Experten die Menge immer weiter an: bis jetzt haben wir schon über 200 Werke aus der Zeit von 1750-1915 ausfindig machen dürfen.
Elias Parish-Alvars, genannt der ‘Liszt der Harfe’, komponierte gar ein Doppelkonzert für Harfe und Klavier und Symphonieorchester, dessen Erstaufführung wir selber im Goldenen Saal des Musikvereins Wien spielen durften, anlässlich einer Konzert-Tournee durch Europa. Dieser englische Harfenvirtuose konzertierte im wohl für diese Besetzung berühmtesten Duo aller Zeiten zusammen mit dem Pianisten Carl Czerny. Die beiden tourten um die ganze Welt und komponierten ihre eigenen Werke für Harfe und Klavier. Unsere allerneueste Trouvaille sind die Complete Works by John Thomas. John Thomas war der Hofharfenist von Queen Victoria, er selber spielte im Duo mit dem Pianisten Julius Benedict und komponierte eine große Anzahl an Duos, Eigenkompositionen sowie Arrangements der damaligen italienischen Opernkomponisten Rossini, Donizetti, Bellini, die er verehrte und mit denen er einen regen Austausch pflegte. Seinen Einsatz für die Walisische Musik, welche er als erster Interpret in den Konzertsaal brachte und sie somit salonfähig machte, spiegelt sich im großen Welsh Duet in dem er walisische Volksmelodien verarbeitete. Ohne die große Hilfe des englisch-schweizerischen Musikwissenschaftlers Chris Walton wäre es unmöglich gewesen, das Gesamtwerk in Notenform zu bekommen, um die raren Stücke auf 4 CDs einzuspielen.
Welcher Komponist hat das meistaufgeführte Stück für Harfe und Klavier geschrieben? Kann man das sagen? Und welches Stück ist das?
PGH: Es waren hauptsächlich Harfenisten, die Werke für Harfe und Klavier geschrieben haben. Die meisten davon sind landläufig kaum bekannt: Naderman, Bochsa, Oberthür, Parish-Alvars, Labarre, Steil, Steibelt usw. Die bekannten Namen darunter sind Boieldieu, Hummel, Ries, Pleyel, Mendelssohn und Dussek. Von letzterem stammt auch das meistaufgeführte Stück für Harfe und Klavier: Dusseks Duo op. 36. Sogar Liszt hat anlässlich seines Duo-Spiels mit Parish-Alvars ein Stück geschrieben, welches leider verschollen ist. Es gibt auch Komponistinnen, die Werke für Harfe und Klavier geschrieben haben: Sophie-Lucille Larmande-des-Argus, Anne-Louise Brillon de Jouy, Henriette Renie, und aus neuester Zeit Albena Petrovic-Vratschanska.
Harfe und Klavier haben ja viele Ähnlichkeiten, auch überschneiden sich die Frequenzbereiche beider Instrumente teilweise. Was sind also die besonderen Herausforderungen, wenn beide Instrumente gleichzeitig erklingen sollen? Was muss man als Interpret besonders beachten?
PHR: Es braucht viel Feingefühl, Intuition und Abgestimmtheit von beiden Musikerinnen, um die perfekte Interpretation zu produzieren. Da wir uns jedoch im Traum verstehen und in jeder Situation harmonieren, ist jede Kleinigkeit sofort angepasst, und es entstehen spontane Ausführungen im Konzert. Es darf ruhig auch mal ganz anders sein als beim Proben. Bei Arrangements gilt es immer den Klang der Harfe zu beachten. Generell gibt es keine Regel, denn manchmal tönt die Harfe besser in der Höhe, wenn das Klavier darunter unisono spielt, manchmal ist eine Stelle idealerweise im Bass. Das Hauptaugenmerk gilt immer dem vollkommenen Klingen der Saiten, je nach Stil und Epoche dunkel, hell, glasig oder verschwommen. Da wenige sich mit der Harfe gut auskennen, fertigen wir die Arrangements meist selber an. Manchmal gibt es Anpassungen bis kurz vor dem Konzert, spätestens in der Nacht vor der Aufnahme…
In einer Familie läuft es ja nicht immer nur harmonisch ab. Gerade zwischen Eltern und Kindern gibt es sicher auch mal unterschiedliche Sichtweisen. Wie schaffen Sie es, diesen Ärger vom Duo fernzuhalten? Oder müssen Sie das gar nicht, weil es zu Ihrer Zusammenarbeit einfach mit dazugehört?
PGH: Als Duo sind wir Eins, Harmonie und Einheit. Die Zusammenarbeit verläuft stets voller Muße, Spaß und Freude. Auch wenn wir zwei verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Charakteren und Ansichten sind – in der Musik sind Differenzen kein Thema.
Frau Hug-Rütti, waren Sie, bevor Sie mit Ihrer Tochter die Zusammenarbeit im Duo begannen, mit der Harfe rein solistisch aktiv oder auch im Orchester? Falls Letzteres: In welchem Orchester haben Sie Harfe gespielt?
PHR: Nachdem ich meine Karriere als Pianistin mit dem Harfenspiel eingetauscht habe, bin ich seither freischaffend als Solistin mit Orchester, für Rezitals oder in verschiedenen Ensembles tätig. Diese Tätigkeit habe ich bis heute beibehalten.
Schon mit Ihrem ersten Album haben Sie sich auch mit zeitgenössischer Musik beschäftigt und haben das seitdem immer wieder getan. Vergeben Sie eigentlich auch selbst Kompositionsaufträge für Ihr Duo?
PGH: Da die Musik-Literatur für Harfe und Klavier mehr oder weniger mit dem Impressionismus und Debussy/Ravel um 1915 endet, ist es uns ein großes Anliegen, zeitgenössischen Komponisten den Auftrag zu geben, Werke für Harfe und Klavier zu schreiben. In diesem Zusammenhang durften wir bereits über 20 Uraufführungen spielen, darunter ein Doppelkonzert des Zuger Komponisten Carl Rütti sowie ein Doppelkonzert für Harfe und Klavier mit Blasorchester vom Schweizer Komponisten Oliver Waespi. Diese Premiere fand in der Tonhalle Zürich statt. 2014 und 2020 wurden wir mit dem UBS-Kulturpreis für unser Engagement diesbezüglich ausgezeichnet.
Es ist stets eine Herausforderung für Komponierende, die passende Klangsprache für die aparte Duo-Gattung zu finden, beide Instrumente ausgewogen als Solo-Instrumente erklingen zu lassen und Melodie und Begleitung raffiniert zu verteilen. Vor langer Zeit bekamen wir Skizzen, die derart unharfenistisch geschrieben waren, dass wir mit dem Komponisten persönlich evaluieren mussten, wie was und wo auf der Harfe gut tönt. Bei vielen Klangschöpfungen erkennt man, dass die Harfe bis jetzt ein Nischendasein führt, sodass deren komplizierte Pedal-Technik sowie das Verständnis für klingende oder abgedämpfte Saiten selten richtig eingesetzt werden. Dabei ist die Harfe dem Piano ebenbürtig, im Klangvolumen wie in der Virtuosität.
Dem schweizerischen Komponisten Carl Rütti haben Sie ein ganzes Album gewidmet. Ihr Nachname, Frau Hug-Rütti lässt eine verwandtschaftliche Beziehung erahnen, liege ich da richtig?
PHR: Carl Rütti ist mein Bruder, er ist selber ein begnadeter Pianist und Organist. Seit ich Harfe spiele, ist er mit dem Instrument vertraut und integriert es immer wieder in seine Werke, meistens Chorwerke, vornehmlich in England. Seine Kompositionsweise für die Harfe darf jedem ein Vorbild sein, er kennt das Instrument und seine Finessen in- und auswendig. Wir haben alle seine Duo-Werke auf zwei verschiedenen CDs verewigt, jenes erste Album 2013, welches nebst Duos Praxedis Genevieve gewidmetes großes Klavier-Oeuvre ‘Die vier Elemente’ beinhaltet, sowie 2019 die zweite CD anlässlich seines 70. Geburtstages. Darauf zu finden ist die Komposition ‘Das Harfenbüchlein’, ein Potpourri an kürzeren Harfen-Stücken, welche er mir anlässlich eines runden Geburtstags komponierte und widmete.
Bitte korrigieren Sie mich, falls ich falsch recherchiert habe, aber Ihr aktuelles, neues Piazzolla-Album ist demnach neben dem Rütti-Album erst Ihr zweites Album, welches sich mit dem Werk nur eines Komponisten befasst. Da fragt man sich, wie es dazu kam, dass Sie zu so vielen, wunderschönen Piazzolla-Bearbeitungen gekommen sind, dass es gleich für ein Doppelalbum gereicht hat?
PGH: Eigentlich das Vierte. 2014 veröffentlichten wir Brahms ‘Complete Hungarian Dances’, 2019 wie erwähnt das zweite Rütti-Album und 2020 John Thomas Complete Works Volume 1. Schon lange trugen wir den Gedanken mit uns, Tangos von Astor Piazzolla für unsere Instrumente zu arrangieren und dabei eine Neuheit zu schaffen, diese sehnsuchtsvolle, wehmütige Musik in einer noch nie gehörten Klangwelt zu präsentieren. Die verschiedenen Tangos aus unterschiedlichen Schaffensperioden sollen ein breites Spektrum seines Lebens darstellen. Anlässlich seines 100. Geburtstags wurde es Zeit, diesen Traum umzusetzen. Der Gedanke, dass Piazzolla seine Tangos für den Konzertsaal schrieb, inspirierte uns und ließ uns die Herausforderung der stilgerechten Umsetzung annehmen. Seine von der klassisch europäisch, ja sogar vom Jazz, Klezmer und Rock geprägten Kompositionen lassen sich hervorragend auf Harfe und Klavier übertragen, auch wenn besonders die Harfe manchmal vor große Herausforderungen gestellt ist, wie beispielsweise im grazilen Decarissimo, welches aus chromatischer Sicht tatsächlich kaum spielbar ist. Glücklicherweise durften wir mit dem Pianisten und Komponisten Pablo Ziegler, Piazzollas ehemaligem Protegé, in Kontakt treten und unser Projekt mit ihm erarbeiten. Er arrangierte für uns sogar das Oblivion.
Bei Piazzolla hat man ja sofort das Bandoneon im Ohr, das diesen wunderbar erdigen, knarzigen Klang hat, der dem Tango Nuevo Piazzollas so gut zu Gesicht steht. Ihre Instrumente sind im Vergleich der vielleicht größtmögliche Kontrast, den man sich denken kann. Trotzdem finde ich, dass Piazzollas Musik gerade in der Besetzung mit Harfe und Klavier sehr, sehr spannend klingt und durchaus auch ihre Ecken und Kanten nicht verliert. Wie haben Sie sich auf diese Produktion vorbereitet?
PGH: Wir haben Piazzolla wie einen klassischen Komponisten behandelt. Die größte Inspiration war Piazzolla selbst, seine eigenen Einspielungen der verschiedenen Werke. Es ist uns stets ein Anliegen, Bearbeitungen originalgetreu und stilentsprechend zu gestalten, sodass der Komponist selber Freude daran hätte. Die faszinierende Tangueros-Aufnahme von Emanuel Ax und Pablo Ziegler hat uns ebenfalls geprägt und eine neue Perspektive eröffnet. Dank dieser Einspielung fanden Decarissimo, Revirado und Buenos Aires Platz in unserer Auswahl.
Sie hatten ja einen sehr, sehr namhaften Producer, einen Veteranen der Branche, der von Karajan bis Lang Lang schon mit allen Größen der Szene zusammengearbeitet hat. Wie kam es zu der Kooperation mit Christopher Alder?
PHR: Es war Liebe auf den ersten Blick. Als wir uns zwischen zwei Aufnahmesessions von Maurizio Pollini in München trafen, war Chris Alder sofort begeistert von dem Gedanken, Harfe und Klavier aufzunehmen. Es war totales Neuland für ihn, umso mehr, als er die Besetzung vorher nicht kannte. Er schlug vor, mit seinem Lieblingstonmeister aus England, Philip Siney, zusammenzuarbeiten und die Aufnahmen aufgrund der natürlich-halligen Akustik in der Friedrich-Ebert-Halle in Hamburg durchzuführen.
PGH: Seine sensible, feinfühlige, intuitive Art, sein Einfühlungsvermögen und seine Flexibilität im Umgang mit uns Musikerinnen, sind zutiefst inspirierend und beflügelnd, er entlockt uns Interpretinnen stets das Maximum an musikalischen Höhenflügen. Die Zusammenarbeit mit ihm ist ein großes Geschenk voller unbeschwerter Freude.
Was sind Ihre Pläne für die nähere Zukunft?
PGH: Am 1. August werden wir ein Streaming-Konzert anlässlich Piazzollas 100. Geburtstag im Zusammenhang mit der CD-Neuerscheinung auf Musictraveller.com veröffentlichen. Aufgrund der gelockerten Corona-Maßnahmen in der Schweiz sind auch Konzerte im kleineren Rahmen wieder möglich, am 25. Juli im Zunfthaus zur Waag in Zürich, am 8. August ein Open-Air am Vierwaldstättersee, am 5. September im Kloster Bingen /DE sowie am 25. September in der Kristallgrotte des Sasso Gottardo im Rahmen der Goethe-Ausstellung, direkt auf dem Gotthard-Pass. Ebenfalls im September wird die CD John Thomas Volume 2 veröffentlicht.
PHR: Zudem entsteht in Kürze, anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Duo Praxedis, eine gemeinnützige Stiftung Harfe und Klavier, die zur langfristigen Förderung und dem Fortbestehen junger, international verbreiteter Harfe und Klavier-Duos, sowie der Verbreitung via CDs, Notenverlag, Radio-Sender und historisch-musikwissenschaftlicher Veröffentlichungen dieser Besetzung beitragen soll. Langfristig planen wir eine Doppelkonzert-Uraufführung des Komponisten Donald Yu aus Hong Kong, dessen Duo-Werk Ring wir Ende Juni uraufgeführt haben.