Energisch bat Erich Polz in der Weinstube um das Abdrehen der Hintergrundmusik – vergeblich. Wer sich beruflich mit Musik beschäftigt, kann nicht gut mit Zwangsbeschallung leben. Das Hirn analysiert beständig weiter, auch wenn am Ende eines langen Proben- oder Aufnahmetages der Job erledigt ist. Die schönsten Orte zum kreativen Auftanken sind für den 1985 geborenen, aktuell mit seiner jungen Familie in der Nähe von Wien lebenden Dirigenten ruhige Orte, zum Beispiel in den Bergen. Im letzten Herbst hat Polz mit der Nordwestdeutschen Philharmonie eine ambitionierte Shostakovich-CD für das Label Ars Produktion eingespielt, die bei Pizzicato mit einem Supersonic ausgezeichnet wurde. Der großen, tiefgründigen, ja 'politischen' Neunten Symphonie steht das elegante, spielfreudige Zweite Klavierkonzert gegenüber. Das Programm beginnt mit der 'Festlichen Ouvertüre' op. 96. Solche programmatischen Gegensätze bringen die Ambivalenz im Wesen des großen russischen Komponisten auf den Punkt, wie Erich Polz im angeregten Gespräch mit Stefan Pieper ausführt.

Erich Polz

Welche Eindrücke haben Sie von der Nordwestdeutschen Philharmonie nach diesen drei Aufnahmetagen?Ich habe eine unfassbare Präzision bis zur letzten Minute erlebt. Was bei den Bläsern passiert, ist fantastisch. Es gibt ganz tolle Leute auf den Solopositionen. Die Streicher sind aber nicht schlechter. Sie sind ein kompakter Klangkörper. Ich spüre hier eine ungeheure Motivation, alles zu geben. Und es war wirklich Knochenarbeit für alle! Es wurde ganz viel investiert und nicht gespart. Das ist umso großartiger in Anbetracht des Workloads, den die Musiker hier haben. Ja, ich habe noch nie mit einem so guten Orchester zusammengearbeitet und habe wahnsinnigen Respekt davor

Wo zeigt sich hier die Professionalität?
Vieles erarbeitet sich sozusagen von selbst. In dieser professionellen Qualitätsstufe läuft die Autokorrektur gewissermaßen immer mit. Wenn ein Tag Probenpause ist, arbeitet es im Unterbewusstsein der Musiker weiter. Die behalten, was in einer Probe passiert ist, so dass man gar nicht wieder bei bestimmten Details einsteigen braucht. Für mich liegt die Konsequenz in einem respektvollen Umgang, ohne schulmeisterlich zu sein. Ich muss ein Gefühl finden, was probt man und was nicht. Für mich als Dirigent ist Erfahrung alles. Die selbstreinigende Kraft der Musik leistet hier vieles. Was zurückkommt, ist eine riesige Belohnung. Auch mit dem Aufnahmeteam war es ganz hervorragend. Es ist toll, wenn man sich manchmal zurücklehnen kann, weil da fachlich und künstlerisch so kompetente Menschen zusammenarbeiten.

Erich Polz

Sie hatten auf Facebook mal in die Runde gefragt, wer Ihnen Lektüre über Shostakovich empfehlen könnte. Sind Sie fündig geworden?
Ja, zum Beispiel bei Krysztof Meyer und Bernd Feuchtner.  Das Lesen über einen Komponisten bringt immer neue Facetten. Im Idealfall wird bestätigt, was man beim Studium der Partitur unmittelbar empfindet. Die Partitur bleibt aber in jedem Fall die Primärquelle und das wichtigste bleibt die unmittelbare Intuition bei deren Studium. Wenn ich einen persönlichen Zugang wichtig finde, muss ich den machen. Hauptsache, die Essenz wird spürbar!

Haben Sie eine bestimmte Strategie, um dahin vorzudringen?
Es ist wichtig, eine persönliche Sprache zu finden. Es kursieren immer viele Auffassungen von richtig und falsch. Aber wer sagt so etwas?  Die Hysterie im heutigen Musikbusiness ist, sich auf Fehler zu stützen. Aber wer ist hier so mutig, den anderen Weg zu gehen? Man muss sich selbst treu bleiben. Man kennt von Mozart den Satz: « Das Tempo ist das allerwichtigste ». Aber das Tempo ist jeden Abend anders und hängt von so viel ab. Wie ist die Stimmung in Dir? Wie ist die Stimmung im Publikum?

Fühlen Sie sich bei einer CD-Aufnahme unfreier als im Konzert?
Bei der CD-Aufnahme sind Sie natürlich gebunden. Es gibt ein Grundtempo, daran muss ich mich halten bzw. es bestehen Absprachen darüber. Die können natürlich auch abweichen von den Tempovorgaben der Partitur. Manches ist bei Shostakovich einfach so nicht wiederzugeben, wie es in der Partitur steht, das wird dann einfach unspielbar.  Aber es geht ja nicht um Zahlenwerte, sondern um das Wesen und die Idee. Der Job besteht darin, Entscheidungen zu treffen. Man muss ihn mit Herz und mit Hirn machen. Im Idealfall entwickelt sich der Zugang weiter.

Wie ist es zu dieser Programmauswahl gekommen?
Das Zweite Klavierkonzert wollte Sabine Weyer machen. Dann kam die Frage auf: Was passt hierzu? Von der Faktur sind Shostakovichs Neunte Symphonie und das Zweite Klavierkonzert fast klassisch angelegt. Beide Werke sind sehr durchsichtig und transparent. Sie passen von der musikalischen Anlage sehr gut zusammen.
Da dies für eine CD noch nicht reicht, haben wir überlegt, was hierzu passen könnte. Was gibt es für einen besseren Beginn als die Festouvertüre? Sie ist zur Abwechslung mal ein Werk ohne doppelten oder dreifachen oder vierfachen Boden, wie sonst bei Shostakovich üblich. Es ist ein Werk, um etwas aufzumachen – und zudem unfassbar virtuos!

Zwei eher unpolitische Werke stehen also der großen Symphonie aus dem Jahr 1945 mit ihrer nicht nur versteckten, sondern manchmal sehr offenen Regimekritik gegenüber.
Mit der Symphonie hat sich Dmitri Shostakovich ja wirklich mit einem Fuß nach Sibirien verfrachtet. Hut ab vor so viel Chuzpe, den Mächtigen in der Sowjetdiktatur dies vorzuknallen.

Gerade hier bin ich neugierig auf Ihre subjektive Innenansicht. Wie bewerten Sie die programmatischen Anspielungen und diese Ironie, die fast bis zum Sarkasmus geht?
Das Große bei Shostakovich ist, dass es sich hierbei nie um Programmmusik handelt. Im Gegenteil, alles ist subjektiv wie in einem Traum. Die Musik will das Mögliche und nicht das Faktische zum Ausdruck bringen. Es kommt eine tiefe Resignation zum Ausdruck, dass alles in Wirklichkeit nicht so ist wie im Traum.

In Shostakovichs Musik kommt es ja ständig anders, als man denkt.
Es werden immer wieder Erwartungshaltungen konterkariert. Ich denke hier vor allem an den fünften Satz. Da wird richtig aufgetrumpft, sogar mit burlesken Marschkapellen. Die Flucht nach vorne wird zur Bewältigungsstrategie. Man versetzt sich in Jahrmarktstimmung und tanzt sich in einen manischen Rausch hinein.

Wer also wie Sie mit wachen Empfindungen die Partitur durchdringt, kann hier viel über die Sowjet-Geschichte lernen.
Ja, aber immer aus dem subjektiven Blickwinkel Shostakovichs! Da wird Massenpsychologie abgebildet. Alles ist unkontrollierbar, wenn der Mob tobt. Aber da ist auch unendliches Leid. Es gibt kein Zurückkehren in die Realität. Die musikalischen Gesten sind entsprechend übertrieben. Sie wirken wie ein Jahrmarkt und haben auch etwas Militärisches. Die ganze Übergeschnapptheit hat auch etwas Bedrohliches. So ein Regime ist wie ein Irrenhaus. Wer überleben will, muss einen Teil von sich sterben lassen. Shostakovich überzeichnet dies alles in seiner Symphonie. Da ist etwas Maskenhaftes, denn die Politbüro-Funktionäre hatten ja auch Masken auf, hinter denen sie die Leute fertig gemacht haben. Shostakovich entlarvt sie alle: Das sind alles kleine Dackel, die beißen wollen, weil sie Minderwertigkeitskomplexe haben.

Würden Sie sagen, Shostakovich ist ein patriotischer Komponist? Seine Musik gab vielen Menschen Halt – nicht zuletzt den Eingeschlossenen im besetzten Leningrad.
Ich sehe bei Beethoven und Shostakovich eine sehr ähnliche Haltung. Bei beiden Komponisten begeistert mich dieser Drang nach Freiheit und dieser Idealismus. Aber Shostakovich konnte vieles in dieser Deutlichkeit nicht sagen. Trotzdem war er ein politischer Komponist. Er konnte gar nicht anders, als ein solcher zu sein, obwohl das vielleicht gar nicht seine primäre Intention war. Aber es war aus ihm nicht herauszulösen, weil die politischen Umstände und das System ein Teil von ihm geworden sind.

Braucht es all dieses Hintergrundwissen, um Shostakovichs Symphonie in ihrer Tiefe zu erfahren?
Man kann all dies bedenken, wenn man diese Symphonie hört und aufführt, muss es aber nicht. Man kann dieses Werk auch einfach als unfassbar toll gebaute Symphonie im Geiste Josef Haydns sehen. Es gibt sogar eine echte klassische Sonatenhauptsatzform mit ganz viel Durchsichtigkeit.

Würden Sie sagen, Shostakovichs Musik hat Sie langfristig gefunden? Gibt es weitere Wunschträume diesbezüglich?
Eine großartige Musik wie diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie schwer in ihrer Gesamtheit aufzuführen ist. Beethoven ist in dieser Hinsicht sowieso das Schwerste. Shostakovich ist ebenso fordernd – vor allem, wenn man alles realisieren will, was in den Partituren steht. Man kann hier nicht einfach mit süßlichem Gestus drübergehen. Aber ich möchte alle Symphonien mal machen. Und wenn ich sie irgendwann alle aufgeführt habe, kann ich weitere zwei bis drei Durchgänge folgen lassen, um alles erworbene Wissen da wieder rein zu packen.

Kann nach Shostakovich überhaupt noch jemand Symphonien schreiben?
Nach Shostakovich hatte niemand mehr mit Symphonien so viel zu sagen wie er. Alles packt und greift so unendlich direkt zu. So ähnlich wie bei Beethoven.

Zur Pizzicato-Rezension geht es hier.

 

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