Die Pianistin Elisabeth Leonskaja, eine wirkliche 'Grande Dame' unter den Pianisten, ist 2014 Preisträgerin der ICMA (International Classical Music Awards) in der Kategorie 'Solo Instruments' für ihre CD 'Paris' bei eaSonus. Alain Steffen hat sich mit der Musikerin unterhalten, in einem Interview, in der sie Interessantes zu Sprachgefühl und Interpretioin sagt und sich über sexistische Bilder jungen Interpretinnen aufregt.

Elisabeth Leonskaja
(c) Jo Schwartz

Frau Leonskaja, es wird behauptet, Sie wären ein Wunderkind gewesen. Eine schöne Bezeichnung, doch was bedeutet sie eigentlich wirklich?
(lacht) Wunderkind klingt effektiv sehr schön und vielversprechend. Und auch ein bisschen geheimnisvoll. Aber ehrlich gesagt, der Unterschied zwischen Wunderkind und Wunderkind ist sehr groß. Ja, aber was ist eigentlich ein Wunderkind? Es ist ein Kind, das einfach die Fähigkeit hat, Musik und musikalische Zusammenhänge sehr schnell zu begreifen, sie sehr leicht und sehr schnell lernen. Ein Beispiel: Der Vater von Franz Liszt war Musiklehrer und er hat angefangen, seinen Sohn mit vier Jahren zu unterrichten. Und bereits nach einem halben Jahr hat der Vater festgestellt, dass der kleine Franz mehr wusste als er. Es ist eine angeborene Fähigkeit, schneller zu denken und selbst abstrakte musikalische Formen und Figuren intuitiv zu begreifen und mit ihnen zu spielen. Ich selbst habe mich nie als Wunderkind gesehen oder erlebt. Ich habe zwar recht früh angefangen und war auch sehr aufnahmebereit, d.h. das Lernen ist mir sehr einfach gefallen, aber der Unterschied zwischen meinem musikalischen Lernen als Kind und dem Genie eines Mozart oder Liszt ist so groß, dass man das gar nicht vergleichen kann. Ich war begabt, aber nicht mehr.

Sie gelten ja ebenfalls als eine Vertreterin dieser vielgerühmten russischen Tradition.
Ja, und diese russische Schule unterscheidet sich von anderen Interpretationsstilen hauptsächlich durch das Repertoire, mit dem wir aufwachsen. Das bedeutet absolute Virtuosität und absolute manuelle und geistige Freiheit im Sinne einer romantisch-russischen Tradition. Was man natürlich auch missverstehen kann und was auch oft missverstanden wird. Hohe Romantik ist hohe Klassik, also der Respekt der Partitur ist erstes Gebot. Innere Freiheit entsteht nur durch ein profundes Verstehen, sowohl der musikalischen Botschaft wie auch der musikalischen Form und Architektur. Man muss ein Werk wirklich beherrschen, erst dann erreicht man die nötige manuelle und geistige Freiheit. Und diese Freiheit hat nichts mit Narrenfreiheit zu tun, die sich ja hauptsächlich auf den Interpreten beschränkt und ihn dazu bringt, sich auf Kosten der Musik in Szene zu setzen. Am besten kann man diesen Arbeits- und Denkprozess an Mozarts Musik erklären, wo viele Interpreten so etwas von daneben greifen. Erst wenn man sich Mozarts strengen Regeln unterwirft, erkennt man die Geheimnisse seiner Musik.

Sie führen jetzt als Paradebeispiel die Musik von Mozart an und nicht die eines russischen Komponisten. Kann man denn diesen russischen Spielstil so einfach auf die westeuropäische Musik übertragen?
Sie werden staunen, aber die Grundbasis der russischen Spielkultur ist eher akademisch. Auf der anderen Seite fordert sie eine geistige Öffnung für das Wesentliche und verlangt vom Interpreten eine totale Hingabe. Sie sehen, wieder vereinen sich die zwei wichtigsten Merkmale aller Interpretationskunst, nämlich der Respekt der Partitur und des Werkes einerseits und das völlige Aufgehen des Interpreten in der Musik im Sinne einer tiefen Kenntnis und Beherrschung andererseits. Bleibt ein Interpret nur akademisch, dann ist grob gesagt, alles in Ordnung, aber aussagemässig passiert recht wenig.

Gilt das auch für den Komponisten?
Unbedingt! Ein Komponist, der nur akademisch komponiert, hat nichts zu sagen. Aber die Klassik, obwohl sie akademische Züge besitzt, geht weit darüber hinaus und besitzt ein enormes emotionales Potential. Leider versuchen viele Interpreten, gerade die emotionale Kraft in ein akademisches Korsett zu zwängen, und das geht dann meistens schief. Klassik muss atmen, berühren, genauso wie die Musik der Romantik. Nur dass eben die Schreibweise eine andere ist.

Dann gilt das also beispielsweise auch für den 1. Satz von Beethovens ‘Pathétique’, wo er ja die Romantik bereits vorauszuahnen scheint. Dabei wurde das Stück in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts geschrieben.
Ich glaube nicht, dass er etwas vorweg nimmt. Beethovens Musik ist sehr emotional, nur ist eben seine Schreibweise eine andere als die von Schubert und Schumann. Und es war damals die Zeit des ‘Sturm und Drang“. Das Gefühlsmäßige ist bei Beethoven genauso stark wie bei den Komponisten der Romantik. Oder denen des Barock, nur dass es eben eine andere Form von Ausdruck ist. Leider fürchten sich anscheinend viele Interpreten davor, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das werfe ich ja oft auch der historischen Aufführungspraxis vor. Hier wird oft so streng und akademisch gespielt, dass man dabei vergisst, dass gerade im Barock ungemein lebendige Musik geschrieben wurde. Das Emotionale oder sagen wir ‘Romantische’ wird komischerweise gerade heute eher negativ angesehen. Die russische Schule versucht genau das Gegenteil zu vermitteln. Hören sie sich Grigori Sokolov an, dann merken sie, was die russische Schule alles vermag.

Wie groß ist denn in diesem Zusammenhang der Einfluss der eigenen Kultur auf die Interpretation?
Ich glaube, dass es vor allem die Sprache eines Landes ist, die den Interpreten besonders in seinen Anfängen sehr prägt. Tonfall, Intensität, Syntax, dies alles wird direkt in die Musik übertragen. Und nicht nur vom Interpreten, insbesondere auch vom Komponisten. Und deshalb ist es für uns Interpreten enorm wichtig, sich mit der Kultur und der Sprache und somit auch mit dem Stil anderer Länder zu beschäftigen. Beethovens Musik begreift man direkt durch ihren deutschen Tonfall, Debussy nähert man sich viel einfacher, wenn man die französische Sprache beherrscht. Wenn ich einen russischen Pianisten im Konzert mit einer Sonate von Beethoven höre, merke ich sofort, wenn er russisch phrasiert.

War das auch einer der Gründe, warum Sie 1978 nach Wien gegangen sind?
Nein, ich war damals einfach von Wien und seiner unbeschreiblichen Atmosphäre, seinem einmaligen musikalischen Leben gefangen. An sich wollte ich von Russland über Wien nach Israel emigrieren, aber die Stadt Wien hat mich so in ihren Bann gezogen, dass ich dort geblieben bin. Denn in Wien, was sicherlich für einen Künstler keine einfache Stadt ist, haben schließlich alle große Komponisten gelebt und gelitten.

Hat diese Stadt Sie künstlerisch verändert?
Ich denke schon. Ich habe sehr intensiv gearbeitet und konnte mich dort viel mit dem richtigen Interpretationsstil für Mozart und Schubert beschäftigen. Ich habe also dort ihre Sprache gelernt. Und im Nachhinein sehe, ich wie wichtig es für mich war, mir diesen besonderen Stil aneignen zu können. Ich habe nach und nach gelernt, das Gleichgewicht in Mozarts Musik zu begreifen, und auch, wie seine musikalischen Phrasen eigentlich funktionieren. Was heißt, einerseits den Noten intellektuell und akademisch zu begegnen und dann die Freiheit zu erlangen, sie zu Musik werden zu lassen. Bei Mozart ist gerade diese innere Balance sehr wichtig. Seine Musik wirkt nur schlüssig, wenn man als Interpret diese innere Gleichgewicht findet. Im Gegensatz zu einem Beethoven, wo man dies auf keinen Fall machen soll, denn Beethovens Musik verlangt vom Musiker, dass er die Extreme aufsucht.

Und welche Rolle spielt die Intuition beim Spiel?
Es gibt keinen Künstler ohne Intuition und sie ist immer sehr, sehr wichtig, weil sie das Werk lebendig macht. Intuition bedeutet aber auch, dass man sein eigenes Körpergefühl, seinen eigenen Rhythmus für die Musik entdeckt. Und wenn ich als Musiker meinem natürlichen Puls folge, dann entwickelt sich die Musik sehr flüssig, und der Hörer erkennt auch einen durchgehenden Faden. Das Werk wirkt schlüssig, weil es einen eigenen Atem besitzt. Es gibt natürlich auch Musiker, die diesen natürlichen Strom bewusst unterbrechen, das Tempo plötzlich verzögern oder anheben. Meistens ist das aber nur, um sich selber interessant zu machen. Oder bei der historischen Aufführungspraxis. Da wird viel zu wenig auf Intuition geachtet. Wie anders ist es sonst zu erklären, dass vieles einfach nur langweilig und farblos klingt.

Eine Zentralfigur in Ihrem Leben war der Pianist Svjatoslav Richter, von dem Sie unterrichtet wurden und mit dem Sie oft aufgetreten sind. In wieweit hat Richter Sie geprägt?
In allem! Richter war einfach in allem groß, in seiner Kunst, in seiner Einfachheit, im Gestalten von Konzerten oder von Festen, als Mensch oder Pianist. Er besaß eine natürliche Größe, ohne dass er dafür etwas machte. Er brauchte keine Autorität. Wenn er den Raum betrat, dann strahlte er immer eine ungeheure Präsenz und positive Energie aus. Er war authentisch! Und er besaß diese gewisse Intuition, ein Werk immer ‘richtig’ zu spielen, ohne sich dabei dem Publikum aufzudrängen. Und trotzdem konnte man sich bei Richter nie zurücklehnen, mit seiner unglaublichen Art zu Phrasieren, löste er immer etwas bei Hörer aus. Ich selber wurde immer ganz aufgeregt, wenn er spielte.

Merken Sie selbst, ob sich in Ihrer Art und Weise zu spielen, zu interpretieren in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert hat?
Ich selber nehme meine eigenen Veränderungen nicht bewusst war. Ich glaube, das geht jedem Menschen so. Und trotzdem verändern wir uns, entwickeln uns weiter. Aber wenn ich ein Werk lerne oder spiele, zählt nur die Gegenart. Wenn ich 1978 Mozart gespielt habe, dann war es hundertprozentig die Elisabeth Leonskaja von 1978 mit all ihrem Wissen, ihren Erfahrungen, ihren Fehlern. Heute ist es nicht anders, nur dass ich heute die Elisabeth Leonskaja von heute bin, mit ihren jetzigen Erfahrungen. Aber die Art und Weise, so glaube ich, ist die Gleiche. Wenn man sich ein Werk aneignet, dann entstehen die Veränderungen im Detail. Ich entdecke hier einen neuen Melodienstrang, dort eine neue Phrasierung, hier einen unerwarteten Akzent. Dies wird dann nicht nur in die Interpretation eingeklebt, sondern all diese neuen Erkenntnisse müssen mit meiner Konzeption regelrecht verschmelzen. Ein neuer Akkord im ersten Satz kann die ganze Dynamik des Werkes ändern. Deshalb ist es nicht nur wichtig, diesen einen Akkord einzubauen, sondern zugleich seine Auswirkung auf das musikalisch Ganze zu erkennen. Aber ich muss hier auch auf meine Intuition hören, ob das Resultat in seiner Gesamtheit für mich stimmig ist und bleibt. Und solche Entdeckungen passieren glücklicherweise immer wieder, selbst wenn man ein Stück gut kennt. Als Musiker muss man deshalb immer neugierig und offen sein, auch für das Unerwartete.

Vieles in der momentanen Klassikszene läuft  ja über das sogenannte Starsystem. Doch was macht aus dem einen Musiker einen Star, während der andere immer im Hintergrund bleibt.
Schallplattenfirmen! (lacht) Eigentlich dürfte das heute nicht wichtig sein, doch leider funktioniert eine Karriere tatsächlich fast nur noch ausschließlich über dieses Starsystem. Was in keinem Falle das Niveau eines Künstlers widerspiegelt! Das muss man wissen. Es ist eine Perversion, besonders, weil die Vermarktung von Künstlern Personen anvertraut ist, die Geschäftsleute und Manager sind und  von Musik und uns Künstlern keine Ahnung haben. Die haben kein Verhältnis zur Kunst und spüren das geistige Element auch gar nicht. Diese Personen denken in Zahlen. Und in Bildern. Was müssen sich die jungen Musiker und Musikerinnen von heute in puncto Aussehen alles über sich ergehen lassen. Selbst die hübschesten sind noch nicht schön genug. Da müssen verrückte Frisuren, lange Wimpern und aufgespritzte Lippen her. Wir sind doch nicht in einem Sex-Shop! Nichts gegen Sex-Shops, aber diese ganzen sexistischen Bilder von Musikerinnen in verführerischen Posen haben doch nichts mehr mit dem zu tun, was wir vermitteln wollen.

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